Tausende Hamburger jubelten bei der Schlagerparade in der O2 World ihren Lieblingen zu – eine Massenflucht aus dem Alltag.

Hamburg. Die Sehnsucht nach einer heilen Welt, sie verbindet die 6000 Menschen, die den Sonntagnachmittag in Stellingen verbringen. Allerdings gibt es unterschiedliche Wege, diesen Wunsch nach Zufriedenheit kundzutun. Einige komplettieren ihre CD-Sammlung am Merchandisingstand, andere machen ihrer langjährigen Freundin einen Heiratsantrag auf der Bühne. Wiederum andere investieren in einen fröhlichen Vollrausch. Und ein Gutteil der Menschen hat Kind, Kegel und Oma eingepackt, den Familienausflug nicht in den Zoo oder an den Strand unternommen, sondern an den Hamburger Stadtrand.

Dort lockt ein sieben Stunden anhaltendes Wohlfühlprogramm namens „Die große NDR 90,3 Starparade“. Schunkeln, singen, klatschen, „über uns ist nur der Himmel“. Die Probleme des Alltags haben draußen zu bleiben. Euro-, Atom-, Finanzkrise? Alle „Jenseits von Eden“. Das Wetter? Ob draußen die Sonne scheint oder es aus Eimern gießt, in der O2-World ist es ohnehin duster, nur an einem Ende glänzt es hell. Dort steht die Bühne. Die Bühne, auf der sich diverse Schlagergrößen das Mikro in die Hand geben. Die Bühne, die es dem Publikum ermöglicht, sich für einen langen Nachmittag von der Außenwelt abzukoppeln.

Denn drinnen hat nur die gute Laune Bestand. Es geht „Ab in den Urlaub“ mit den Höhnern. Was im Hotel das Handtuch auf der Liege, ist hier die Platzkarte. Statt Frühstücksbüffet gibt es Pizza- und Würstchenstände. Und die Souvenirs, die ein Shoppingkanal feilbietet, ähneln denen beliebter Urlaubsorte. Zwar bekommt man keine Postkarten, aber Kalender, T-Shirts und anderen Beweisstück-Plunder. Besonders die beleuchteten Glasfaserbündel gehen in größerer Menge über den Klapptisch. Der Stapel mit dem offiziellen Sampler hingegen wird erst nach eindringlichen Aufforderungen von Moderator Wido Röttger niedriger.

Dem kann man aber auch nur schwer etwas abschlagen. Schließlich begleitet er viele der Anwesenden täglich als Radio-Moderator durch den Morgen, die Parade der Wohlfühlmusiker moderiert er auch schon seit Jahren. Seine launigen Ankündigungen, die er in überbreitem Hamburgisch vorträgt, fügen dem Urlaubs- das Heimatgefühl hinzu. Da verschmerzt man auch als überzeugter Hanseat Andy Borg, die Paldauer und alle anderen Österreicher.

Röttgers Kollegen, die im Auftrag des NDR versuchen, Live-Publikum für Carlo von Tiedemann und andere zu akquirieren, haben es nicht ganz so leicht: „Nur, wenn Du mir garantierst, dass ich 10 000 Euro gewinne“. Mehr Zuspruch finden da schon der Eisverkäufer und seine Kollegen, die mit Brezeln und Bier um Aufmerksamkeit heischen. Wenn in der ersten Pause – zur besten Kaffeezeit um 16 Uhr – noch jemand mit Kuchen herumginge, der Sonntag wäre perfekt. Dass es inzwischen tatsächlich regnet, befriedigt eher, als dass es stört. Schließlich sitzt man hoch und trocken und wird unterhalten.

Und das von Künstlern mit steigendem Bekanntheitsgrad. Denn je später der Abend, desto größer die Namen. Hatten die ersten Sänger allenfalls Aufwärmer-Funktion, nähert man sich mit den Höhnern und Nino de Angelo dem Begriff „Star“ schon eher.

Nach der Pause führt erst Michelle – in Lackhose und schulterfreiem Top – die Fantasie so manches Familienvaters auf Abwege, bevor sich Andy Borg als Unterhaltungskanone Nummer Eins empfiehlt. Er kokettiert mit seinem Alter und dem Publikum – die Halle liebt ihn dafür. Schallendes Gelächter dröhnt durch das Rund, die frisch gekauften Funkelpuschel werden geschwenkt.

Doch gegen Andrea Berg haben beide keine Chance. Gegen den unangefochtenen Star des Abends kommt einfach niemand an. Peter Kraus als „Tiger“ nicht, Mary Roos’ Cover-Versionen ebenso wenig. Nur Jürgen Drews, der selbst ernannte „König von Mallorca“, reicht an sie heran – dank demonstrativ zur Schau getragenem royalen Hedonismus.

„Die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst.“ Ganz im Gegensatz zum jungen Mann auf der Herrentoilette, der bereits um 16 Uhr von argen Gleichgewichtsproblemen geplagt wird. Aber auch das gehört zur kleinen Flucht. Die im Alltag gültigen Regeln sind ein Stück weit außer Kraft gesetzt, es zählt das Vergnügen. Schließlich ist man im musikalischen Kurzurlaub – und der Montagmorgen liegt zum Glück noch in weiter Ferne.