Ammersbek. Sonja Borowski aus Ammersbek leidet unter LRS. Jetzt hat sie ein Buch mit Erfahrungsberichten veröffentlicht und möchte Mut machen.
Dass sie anders war, als die anderen Jungen und Mädchen in ihrer Klasse, hat Sonja Borowski früh gemerkt. „Es hat sich schon in der Grundschule abgezeichnet“, sagt die Ammersbekerin. „Die anderen wurden schnell immer besser, nur ich konnte noch immer nicht richtig lesen und schreiben“, sagt sie. „Ich habe die Wörter geschrieben, wie ich sie höre.“ Sonja Borowski ist Legasthenikerin. Rund vier Prozent der deutschen Schüler leiden an der Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS). Bei der heute 28-Jährigen wurde die Legasthenie bereits im Grundschulalter von einer Therapeutin diagnostiziert.
30 Betroffene erzählen von Erfahrungen mit Legasthenie und Dyskalkulie
„Ich habe dann bei Klassenarbeiten und anderen Prüfungen einen Nachteilsausgleich bekommen“, sagt Borowski, die in Hamburg aufgewachsen ist. Dennoch seien die ersten Jahre ihrer Schulzeit „schrecklich“ gewesen. „Es wurde darüber gelacht, wenn die Sonja wieder eine Sechs im Diktat hatte“, sagt sie. „Von Klassenkameraden und Bekannten wurde ich als dumm und faul abgestempelt und ich bekam ständig zu hören, ich solle mal mehr lernen.“ Viele hätten es nicht gelten lassen, dass sie an ihren Defiziten beim Lesen und Schreiben keine Schuld trage. „Niemand wollte sich mit mir zum Spielen treffen, weil ich als die Verblödete galt, mit der keiner etwas zu tun haben wollte“, erinnert sich die Ammersbekerin. Irgendwann hätten ihre Eltern die Reißleine gezogen.
Inzwischen hat Borowski studiert und arbeitet als Sozialpädagogin
„Sie haben mich auf eine Sprachheilschule umgeschult“, sagt Borowski. „Dort gab es kleinere Klassen und es wurde mehr Rücksicht genommen.“ Von da an sei es bergauf gegangen. „Ich hatte viele Jahre eine Lerntherapie“, sagt die 28-Jährige. Sie macht ihren Schulabschluss, dann eine Ausbildung zur Sozialpädagogischen Assistentin. Inzwischen hat die 28-Jährige erfolgreich ihr Bachelor-Studium der Sozialen Arbeit und ihren Master im Bereich Forschung, Entwicklung und Management absolviert, arbeitet als Sozialpädagogin.
„Ein Gefühl, als würden die Buchstaben beginnen zu tanzen“
Bei der Legasthenie handelt es sich um eine Hörverarbeitungsstörung. Wodurch sie ausgelöst wird, darüber ist die Wissenschaft noch uneins. „Menschen mit Legasthenie nehmen Schrift anders wahr“, erklärt Sonja Borowski. „Das Gefühl beschreiben viele Betroffene so, als würden die Buchstaben anfangen zu tanzen“, sagt sie. „Heute bin ich durch die Legasthenie im Alltag und Beruf kaum mehr beeinträchtigt, auch wenn ich mich vielleicht etwas mehr auf die Rechtschreibung konzentrieren muss, als andere“, sagt Borowski.
Mit dem Buch möchte Borowski anderen Betroffenen Mut machen
Mit einem Buch möchte die Ammersbekerin nun anderen Betroffenen Mut machen. Es heißt „Es ist normal, verschieden zu sein“. Diesen Satz soll der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker einst gesagt haben. Der 200 Seiten umfassende Band, der am vergangenen Freitag erschienen ist, beinhaltet Beiträge von 30 Menschen aus ganz Deutschland, die entweder an Legasthenie oder der Rechenschwäche Dyskalkulie leiden.
Einige haben auch Bilder und Comics beigesteuert
Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen und der Förderverein „Freunde des barrierefreien Lesens“ unterstützen das Buchprojekt. „Einige haben Texte beigesteuert, andere erzählen anhand von Bildern oder Comics aus ihrem Leben“, sagt Borowski. Die Beiträge stammen von Menschen im Alter zwischen zehn und 63 Jahren. „Dadurch entsteht ein Eindruck davon, wie sich der Umgang mit LRS und Dyskalkulie in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat“, sagt die 28-Jährige. Da ist etwa Udo, 63, aus Nordrhein-Westfalen. Es erscheint aus heutiger Sicht surreal, wenn er aus einer Zeit erzählt, in der Schüler für ihre angebliche Dummheit noch geschlagen wurden.
„Widerstand wurde mit leichten Schlägen auf den Hinterkopf begleitet“
„Die Welt der Grammatik erschloss sich mir einfach nicht“, beschreibt Udo das Gefühl, das ihn als Grundschüler prägte. Um Abhilfe zu schaffen, habe er außergewöhnliche Hausaufgaben, Strafarbeiten erhalten, die darin bestanden hätten, ein und dasselbe Wort zwanzigmal oder fünfzigmal hintereinander aufzuschreiben, damit sich der Junge die korrekte Schreibweise einpräge. „Widerstand wurde mit leichten Schlägen auf den Hinterkopf begleitet“, erzählt der 63-Jährige. Das Gefühl der Scham habe sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt.
Die negativen Erfahrungen haben nur noch mehr motiviert
Ganz anders erging es Abdullah. Der 25-Jährige aus Nordrhein-Westfalen erhielt früh Unterstützung. „In der ersten Klasse bekam ich eine Empfehlung für die Sonderschule. Meine Mutter entschied sich dagegen“, schreibt der Student, der ebenfalls unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leidet. Seitdem habe er viele Therapien gemacht und in der Schule einen Deutsch-Förderkursus belegt. Der 25-Jährige schaffte das Abitur. Heute steht er kurz vor seinem Master-Abschluss als Bauingenieur. „In meiner Schulzeit habe ich negative Erfahrungen gemacht, die mich im Nachhinein nur noch mehr motiviert haben“, so Abdullah. Erst durch seine Erkrankung habe er seine Leidenschaft für Mathematik und das Zeichnen entdeckt, die ihm jetzt im Studium halfen.
Borowski möchte Betroffenen eine Stimme geben
„Ich möchte Betroffenen mit dem Buch eine Stimme geben“, sagt Sonja Borowski. „Es tut gut, seine Geschichte zu erzählen.“ Das Besondere an dem Buch: In vielen Beiträgen finden sich Fehler. „Die Autoren konnten sich selbst entscheiden, ob ich ihren Text redigieren soll“, erklärt Borowski. „Viele haben sich dagegen entschieden und waren froh, dass sie endlich mal so schreiben konnten, wie sie wollten“
Betroffene leiden immer noch unter Vorurteilen
Die Idee sei ihr bei einem Seminar gekommen, sagt die Ammersbekerin, die sich lange in Selbsthilfegruppen für Legastheniker engagiert hat. „Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viel getan hat, werden Menschen mit Legasthenie oder Dyskalkulie immer noch häufig als weniger intelligent abgestempelt“, sagt sie. „Vielen ist das unangenehm und es macht ihnen psychisch sehr zu schaffen.“ Bis heute verheimlichten viele die Schwäche vor ihrem Arbeitgeber. „Deswegen ist Aufklärung so wichtig“, sagt Borowski. Dazu wolle sie mit dem Buch einen Beitrag leisten.
Es ist normal, verschieden zu sein von Sonja Borowski, ISBN 9783753446523, Book on Demand, 29,99 Euro oder als E-Book 2,99 Euro