Bayreuth. Inszenierung der “Meistersinger“ mit diversen bösen und schmerzlichen Widerhaken – der vierte Tag in Bayreuth.

Wenn der Chor auftritt,
läuft die Uhr an der Wand rund, dann treten die Gesetze der Zeit
außer Kraft. Denn die 150 Sängerinnen und Sänger entscheiden in
Richard Wagners „Meistersingern“ nicht nur über Kunst oder Kitsch
beim Sängerwettstreit. Sie sind die kritische Masse, die bestimmt,
wer zur Gesellschaft gehört und wer nicht.

Barrie Koskys viel
diskutierte „Meistersinger“-Regie erweist sich in der zweiten
Spielzeit auf dem Grünen Hügel erneut als sensationell gut
gearbeitete Inszenierung mit diversen bösen und
erkenntnisschmerzlichen Widerhaken. Weil die Geschichte von Haus
Wahnfried aus direkt auf die Nürnberger Prozesse zusteuert, gibt es
vom Publikum neben rauschendem Beifall auch empörte Buh-Rufe.
Dirigent Philippe Jordan und die Sänger werden mit nicht enden
wollenden Bravos gefeiert.

Es fängt wie ein Spiel an. Der Dirigent
Hermann Levi und der Komponist Franz Liszt, der Vater von Cosima,
besuchen die Wagners. Zunächst geht es im Haus Wahnfried so munter
zu wie bei Hempels unterm Sofa, dann probieren die Beteiligten des
Komponisten neue Oper aus: Liszt wird zu Veit Pogner, Cosima zu
Evchen, Levi zu Beckmesser, und Wagner selbst teilt sich entzwei -
in den weltweisen alten Künstler Hans Sachs und in den jungen
Avantgardisten Walther von Stolzing, der die Regeln beherrscht, sie
aber bewusst übertritt.

In das Lachen schleicht sich leise das Grauen

So gewinnen die „Meistersinger“ gleich drei
Erzählebenen: Künstlerdrama, Komponisten-Biographie und die
Rezeption als Nazi-Propagandastück. Haus Wahnfried wird zum
deutschen Schicksalsort. Barrie Kosky verführt das Publikum durch
opulente, farbpralle Bilder, die wie lebendig gewordene Szenen
altmeisterlicher Malerei zur Reformationszeit anmuten. Die
Wagnerianer verlieren sich im historisierenden Rausch dieser Optik.
Schon die taktgenau auf die Musik choreographierte, türenknallende
Screwball-Komödie zum Vorspiel bringt die Lacher auf die Seite des
Regieteams, zu dem neben Kosky Bühnenbildnerin Rebecca Ringst und
Kostümbilder Klaus Bruns gehören.

Im weiteren Verlauf zeigt sich,
dass Barrie Kosky tatsächlich Chöre über die Bühne bewegen kann,
die Personenregie ist handwerklich und ästhetisch meisterhaft. Doch
in das Lachen schleicht sich leise das Grauen. Beckmesser,
berührend zwischen Selbstüberschätzung und Demütigung gesungen und
gespielt von Johannes Martin Kränzle, ist anfangs ein geachtetes
Mitglied der Meistersinger-Gilde, die ein bisschen wie der Elferrat
im Kölner Karneval daherkommt. Weil er aber als alter Hagestolz
noch mal auf Freiersfüßen wandeln will und dabei so eifersüchtig
ist, wird der Stadtschreiber komisch.

Nach und nach, fast
unmerklich, nimmt dieses Verhalten Aspekte an, die von den
Antisemiten als Vorurteile über Juden unters Volk gebracht wurden.
Das Publikum lacht über die gestelzten Verrenkungen, den
krächzenden Gesang, die Unfähigkeit, eigene schöpferische
Leistungen zu erbringen, ohne zu erkennen, dass es auf Klischees
hereinfällt. Bis sich der Chor in einen Mob verwandelt und in der
Prügelfuge auf Beckmesser stürzt. Dabei steigt die gigantische
Karikatur eines Judenkopfes aus der Hetzschrift „Der Stürmer“ in
die Luft. Beckmesser, der nervtötende, harmlose Querulant, wird zum
Außenseiter, zum Juden gemacht, den man straflos schlagen kann.

Die „Meistersinger“ sind tückisch zu dirigieren

Die
Frage, woher diese Gewaltausbrüche, diese Lust am Quälen des
Anderen kommen, macht den Wahn-Monolog des Sachs‘ ja so aktuell.
Barrie Kosky hat seine Inszenierung noch einmal überarbeitet, vor
allem den zweiten Akt. Dadurch wird die Handlung stärker
fokussiert. Auschwitz, das legen seine Bilder nahe, steht in keinem
ursächlichen Zusammenhang mit den „Meistersingern“, aber die Saat
der Gewalt, die dort gelebt wird, kann jederzeit wieder ausbrechen.
Die „Meistersinger“ sind tückisch zu dirigieren, denn sie klingen
bei schlechten Maestros oft nicht gut.

Philippe Jordan schafft es
hingegen, bis zur Wurzel von Wagners musikalischem
Komödienverständnis durchzudringen. Das speist sich aus der Motorik
bestimmter Formeln, Tanzbewegungen, frühe altfränkische Fugen und
Schusterlied. Dieser Bewegungsimpuls erzeugt einen enormen
Vorwärtsdrang, der auch die lyrischen und schwelgerischen Passagen
einbindet. Mit Klaus Florian Vogt als Stolzing und Michael Volle
als Sachs steht ein Sängerpaar auf der Bühne, das sich gerade in
seiner Unterschiedlichkeit perfekt ergänzt. Klaus Florian Vogts
Tenor mit der kostbaren silbernen Farbe ist reicher geworden,
dunkler und noch ausdrucksstärker. Volle hingegen reflektiert als
Sachs den Liebesverzicht und den Wahn der Welt in erschütternden
Monologen.

Das ist bis zum Schluss eine großartige Leistung. Der
Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedrich verteidigt
mühelos seinen Ruf als bester Chor der Welt. An Sachs’ens Worten
von der „heil‘gen deutschen Kunst“ haben sich schon viele
Regisseure die Zähne ausgebissen. Barrie Kosky zeigt am Schluss
einen Weg auf, der nicht zum Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse
führt. Auf dem Bühnenwagen rollt sie heran, die deutsche Kunst, das
Beste, was das Land der Welt zu bieten hat: Sinfonieorchester und
Chöre.