Hamburg. Was der Lockdown mit der Gesellschaft, der Wirtschaft und den Kindern anrichtet, steht noch dahin. Die Folgen werden uns beschäftigen.
Wer das Wort Corona-Folgeschäden hört, denkt sofort an die mitunter dramatischen Erkrankungen, die manchem Infizierten noch Monate danach das Leben erschwert – dazu zählen Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns, Erschöpfung, Müdigkeit, Atembeschwerden, Gelenkschmerzen oder eine eingeschränkte Lungenfunktion. Diese sogenannten Long-Covid-Folgen sind medial omnipräsent. Und das zu Recht. Andere Long-Covid-Folgen hingegen rücken erst langsam ins Blickfeld oder bleiben im Dunkel. Zu Unrecht. Denn sie könnten ebenso dramatisch sein.
Mit jeder weiteren Woche im Lockdown verschlimmern sich die Folgen, wachsen die volkswirtschaftlichen Effekte, möglicherweise sogar exponentiell: Hamburgs Schüler sind seit 20 Wochen im Lockdown und lernen zu Hause, wenn sie denn lernen. Der Einzelhandel muss seit zwei Monaten zusperren, Restaurants, Kneipen und Hotels gar seit bald vier Monaten, Schausteller, Messebauer oder Eventveranstalter seit fast einem Jahr. Rund ein Siebtel der Wirtschaft gilt als mehr oder minder stillgelegt.
Hamburg: Übergang von Marktwirtschaft in Staatswirtschaft
Unter normalen Umständen würden beträchtliche Teile der Volkswirtschaft zusammenbrechen – zusammengehalten werden sie derzeit über Abermilliarden aus dem Bundesfinanzministerium. Die Marktwirtschaft wurde schon im ersten Lockdown ausgehebelt, seitdem erleben wir einen schleichenden Übergang in die Staatswirtschaft.
Mit immer neuen Milliardentransfers werden die Unternehmen bei Laune gehalten, Gastronomen und Einzelhändler bekommen November-, Dezember-, Januar-, Februar-, bald Märzhilfen, auf dass sie sich in ihr Schicksal fügen. Aber ob das reicht? Mehr als 50.000 Einzelhandelsgeschäfte sieht der Handelsverband HDE in akuter Insolvenzgefahr, mehr als 250.000 Arbeitsplätze sind bedroht.
Corona-Hilfen von Staat gleichen Umsatzverluste nicht aus
Die Hilfen sind zwar teuer, gleichen die Umsatzverluste aber nicht einmal annähernd aus, so die Kritik. Die Bundespolitik, die anfänglich völlig zu Recht die Kosten der Pandemie minimieren wollte, ist längst in einer Kostenfalle gefangen, die sich mit jeder Verlängerung zuspitzt – und am Ende vielleicht nicht einmal hilft. Der Lockdown wird zu einer unendlichen Geschichte.
Hätte uns jemand vor einem Jahr erklärt, dass 20 Wochen ohne vernünftige Beschulung der deutsche Weg aus der Pandemie ist, hätte ein jeder mit dem Kopf geschüttelt. Noch vor wenigen Jahren wurden Eltern, die auf Heimunterricht bestanden, hierzulande ins Gefängnis gesperrt. Heute wird er verlangt.
Bildungspolitische Langzeitschäden:
Geschlossene Schulen sind inzwischen als vermeintlich zielführende Strategie so weit akzeptiert, dass selbst hochrangige Bildungspolitiker klagen, Kinder und Jugendliche hätten wohl auch aufgrund der Demografie in einem der ältesten Länder der Welt keine Lobby. „Andere Staaten setzen die Gewichtungen anders“, sagt der Experte. „Da werden eher nächtliche Ausgangssperren für alle akzeptiert als geschlossene Schulen.“ 47.000 Schulen und 57.000 Kitas mussten wegen der Pandemie schließen.
Die Folgen dieser staatlich verordneten Bildungsmisere, die durch Kontaktbeschränkungen, die Absage von Gruppenstunden, Ferienfreizeiten und Sportveranstaltungen noch verstärkt wird, lassen sich nur erahnen. Die Zahl der psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen steigt exorbitant.
Kinder haben häufiger psychische Probleme
In dieser Pandemie wird nicht nur Humankapital vernichtet, sondern manchen in der Generation die Perspektive auf Wohlstand und Aufstieg genommen. Der ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann beziffert den Verlust des Lebenseinkommens der betroffenen Schüler inzwischen auf 4,5 Prozent. Darin sind die gesellschaftlichen Folgen noch nicht einmal hineingerechnet. Langfristig fürchtet Wößmann, dass Kosten in Höhe von 3,3 Billionen Euro auflaufen.
Fakt ist, dass das Virus soziale Ungleichheiten vergrößert. Wer in bildungsfernen Haushalten aufwächst, ohne Platz, ohne Computer, ohne Ansprechpartner, mitunter ohne Deutschkenntnisse, wird den Anschluss verlieren. Der renommierte Pädagoge Heinz-Elmar Tenorth kritisiert: „Corona hat nahezu Bildungsverhältnisse der Vormoderne neu erzeugt, als Unterricht Recht und Pflicht der Eltern war, die sich den Hauslehrer oder die private Betreuung leisten konnten.“
Ökonomische Langzeitschäden:
Der Zusammenhang von Bildung und Einkommen ist gut belegt – doch die fatalen ökonomischen Langzeitschäden greifen schon früher: Man solle sich von dem derzeit noch überraschend positiven Arbeitsmarktdaten nicht täuschen lassen. Kurzarbeitergeld kann Nachfragegräben überbrücken, aber keine dauerhafte Disruption heilen. Spätestens nach Ende des Lockdowns werden die leeren Läden, die geschlossenen Restaurants, zugesperrte Kultureinrichtungen oder die insolventen Betriebe unübersehbar werden. Und viele Soloselbstständige gehen heimlich, still und leise pleite.
Die deutsche Wirtschaft muss darauf hoffen, dass es einmal mehr der industrielle Kern ist, der das Land am Laufen hält. Für Dienstleister und Selbstständige in vielen Branchen bleibt die Zukunft düster. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) war auf dem richtigen Weg, als er der „Bild“-Zeitung sagte: „Was mir große Sorgen macht, ist: Dass viele Unternehmer mutlos werden, weil sie sie so lange schließen mussten.“
Unternehmer wollen wieder selbst entscheiden können
Doch Altmaier wäre nicht Altmaier, wenn er dann nicht wieder aus der Kurve getragen würde: „Wenn sich jemand selbstständig macht, dann macht er das, weil er gerne den Menschen die Haare schön macht.“ Wirklich? Jemand mag Friseur werden, weil er Menschen die Haare schön macht, aber er macht sich als Friseur selbstständig, weil er sein eigener Chef sein will, unabhängig und wagemutig, weil er etwas Individuelles gestalten und aufbauen möchte.
Unternehmerisches Denken scheint vielen hierzulande inzwischen so fern und fremd wie der Planet Neptun. Manche Behörden und Politiker verstehen nicht einmal, dass Unternehmer keine Almosen wollen, sondern etwas unternehmen, dass sie nicht Hilfsanträge ausfüllen möchten, sondern Ideen entwickeln wollen, wie sie durch die Krise steuern – dass sie nicht fremdgesteuert werden wollen, sondern selbst entscheiden. Das Grundgesetz definiert in Artikel 12 Absatz 1: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Gilt das noch? Fragen Sie mal eine Kosmetikerin oder einen Friseur, eine Künstlerin oder Privattheaterbetreiber.
Hilfspakete beinhalten keinen Unternehmerlohn
Interessant in diesem Zusammenhang ist, wie die vielen Rettungs- und Hilfspakete ausgestattet sind. Während Transferempfänger keine Einbußen hinnehmen mussten, Rentner pünktlich ihre Pension bekommen, sind betroffene Arbeitnehmer über großzügige Kurzarbeiterregelungen zumindest einigermaßen abgesichert. Ein Unternehmerlohn hingegen ist nicht vorgesehen – wie der Selbstständige die private Miete, Krankenversicherung oder seinen Autokredit bezahlen soll, bleibt allein seine Sache.
Auch wenn ein Unternehmerlohn politisch schwer durchsetzbar erscheint und stattdessen lieber ein Almosen über die „Neustarthilfe“ gezahlt wird, ist das Signal klar: Wer in Zukunft materielle Sicherheit sucht, flüchtet sich am besten in die Behörden. Wer selbstständig ist, gehört zu den größten Verlierern von Corona. Das werden viele Menschen nicht vergessen.
Politische Langzeitschäden:
Klaus von Dohnanyi brachte es im Abendblatt auf den Punkt: „Eine neue Welt braucht eben neue Unternehmer: von Gates zu Microsoft und von Musk zu Tesla. Eine Nation, die da unternehmerisch nicht dabei ist, wird ausscheiden“, warnte der frühere Bundesbildungsminister und Erste Bürgermeister in Hamburg. „Wir liegen aber zurück bei Wissenschaft und neuen Industrien. Also müssten gerade wir dieses Unternehmertum besonders stark machen.“
Nur zu sehen ist davon wenig. Denn durch die Corona-Pandemie hat sich die Staatsgläubigkeit in Europa und auch in Deutschland noch einmal vergrößert. Der Staat soll es immer und überall richten, und – so fordern manche – noch viel mehr Verantwortung übernehmen. Nach dem Corona-Lockdown träumen manche schon vom Klima-Lockdown. Außer Acht gerät dabei, dass sich die staatlichen Stellen in der Pandemie wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert haben. Wann wäre wohl ein Impfstoff entwickelt worden, wenn man der EU-Kommission diese Aufgabe übertragen hätte? Oder wie viel besser liefe das Impfen, wenn Amazon Terminvergabe und das Spritzen organisiert hätte? Das mögen überspitzte Fragen sein, aber man darf sie stellen.
Europa durch Krise geschwächt, USA gestärkt
Das Beispiel Biontech zeigt ja, was in Deutschland möglich ist, wenn Risikokapital auf kluge Köpfe trifft. Aber hat hierzulande ein einziger Politiker (außer Friedrich Merz) daraus eine Ableitung formuliert? Wo sind in Europa die Wagniskapitalgeber, wo sind die Börsen für innovative Unternehmen, wo steuerliche Anreizsysteme, um im Wettlauf der Kontinente mitzuhalten? Schon jetzt zeigt sich, dass Europa aus der Pandemie geschwächter hervorgehen wird als die USA oder China. Beide Volkswirtschaften entwickeln sich dynamischer.
Während China 2020 als einziger Staat weltweit gewachsen ist und ein Plus von 2,3 Prozent verbuchte, sehen die Prognostiker das Land auch 2021 mit einem Wachstum von rund acht Prozent vorne. In den USA lag das Minus bei 3,5 Prozent, aber nun wächst seit der Wahl von Joe Biden die Zuversicht. Auf einer Konferenz brachte es der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger nun auf den Punkt: „Deutschland und Europa werden durch die Krise geschwächt – vieles ist noch gar nicht erkennbar“, warnte der CDU-Politiker. „Gewinner der Pandemie sind die großen digitalen Unternehmen aus Kalifornien und China.“
Finanzielle Langzeitschäden:
Aber was heißt das für Europa, das immer weiter in einem Schuldensumpf versinkt? Schon vor Corona wuchsen die staatlichen Defizite weiter – die Pandemie hat nun den Turbo gestartet. Italien liegt bei einer Verschuldung in Höhe von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Portugal bei 150 und Griechenland bei gar 200 Prozent.
Durch die Verlängerung der Krise sind alle Prognosen auf eine baldige Trendwende hinfällig – einerseits brechen den südeuropäischen Staaten die wichtigen Tourismuseinnahmen weg, andererseits steigen die Staatsausgaben. Die Schuldenkrise, die der damalige EZB-Chef Mario Draghi am 26. Juli 2012 mit einem Satz „whatever it takes“ abräumte, könnte zurückkommen. Und sie würde Europa ein weiteres Mal erschüttern.
Gemeinsame Haftung der Staaten
Mit dem europäischen Wiederaufbaufonds sind die einzelnen Staaten erstmals in eine gemeinsame Haftung gegangen. Es dürfte der wohl bislang wichtigste Schritt hin zu Eurobonds sein. Sie aber könnten die Krise nur verlängern, statt sie zu lösen. Ein wachstumsschwaches, wenig innovatives, staatsgläubiges Europa hat eigentlich nur drei Möglichkeiten: Wird weitergewurstelt wie bisher, laufen die südeuropäischen Staaten Richtung Staatsbankrott – mit allen populistischen Verwerfungen.
Retten dann die nordeuropäischen Länder ihre Partner im Süden, drohen die populistischen Verwerfungen in Nordeuropa und bei uns. Der Widerstand der Sparsamen Fünf (Dänemark, Schweden, Finnland, Österreich, Niederlande) im vergangenen Sommer gegen den Wiederaufbaufonds war nur ein Wetterleuchten. Was aber ist, wenn Österreicher oder Holländer den Brexit-Briten nachfolgen?
Impfdesaster bedroht Idee von Europa
Käme es dazu, stünde die Europäische Union am Abgrund. Aus diesem Grund ist das Impfdesaster auch kein europapolitisches Ärgernis, sondern eine substanzielle Bedrohung der Idee von Europa und des Versprechens, dass es gemeinsam besser geht. Großbritannien macht Brüssel vor, wie es funktionieren kann, wenn man auf nationaler Ebene entscheidet.
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Das britische Modell ist über Nacht die Hauptkonkurrenz geworden. Gerade im Brexit, in diesem neuen Wettbewerb mit London, liegt am Ende vielleicht eine Chance – er zwingt Europa zu überfälligen Reformen. Die Union muss schneller, wissenschaftsorientierter, mutiger werden.
Folgeschäden haben eine weltpolitische Dimension
Gelingt der Wechsel von einer großen Agrarunion zu einer Zukunftsunion, kann die Krise sogar eine Chance sein. Immerhin bedeutet Krisis im Griechischen vor allem eins: eine Entscheidung herbeiführen.
Die Fixierung auf die Lebensgefahr durch das Virus hat uns die Gefahren für die Zukunft aus dem Blick verlieren lassen. Die Folgeschäden haben längst eine gesellschaftliche, ja weltpolitische Dimension. Höchste Zeit, der Zukunft ins Auge zu schauen.