Hamburg. Wer regionale Bio-Lebensmittel kauft, tut der Umwelt etwas Gutes – so die landläufige Meinung. Tatsächlich trifft das nicht immer zu.
Die Corona-Pandemie hat an vielen Stellen den Alltag der Menschen verändert. Auch das Ess- und Einkaufsverhalten der Deutschen hat sich gewandelt. Ein neues Bewusstsein für Lebensmittel ist entstanden – und für die Arbeit derjenigen, die sie produzieren.
Es wird mehr zu Hause gekocht. Bei der Umfrage für den Ernährungsreport 2021 des Bundeslandwirtschaftsministeriums haben 52 Prozent der Befragten gesagt, dass sie täglich kochen. Im Vorjahr waren es noch 39 Prozent. Vor allem die Bio-Branche profitiert von dem Trend, aber auch Obst, Gemüse, Milch oder Brot aus der Region landen häufiger im Einkaufskorb. Und noch ein Wandel ist zu beobachten: Immer mehr Deutsche verzichten auf Fleisch und ernähren sich vegetarisch oder sogar vegan.
Die fünf Wahrheiten des Abendblatts über Lebensmittel greifen die Entwicklungen auf und geben Antworten auf Fragen rund ums Essen und Trinken.
Bei Bio-Lebensmitteln muss man genau hinschauen
Wer Bio-Lebensmittel kauft, erwartet gesicherte Qualität, umweltschonende Produkte und ein reines Klima-Gewissen fürs Geld. Meistens stimmt das, aber Bio-Lebensmittel sind auch ein Milliardengeschäft. Im ersten Corona-Jahr 2020 ist der Branchenumsatz nach Zahlen des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft im Vergleich zum Vorjahr um knapp 22 Prozent auf 14,99 Milliarden Euro gestiegen.
Gefühlt gibt es in Hamburg an jeder zweiten Ecke einen Bio-Supermarkt, auch in normalen Supermärkten und bei Discountern werden immer mehr Bio-Lebensmittel angeboten. Da fragt man sich schon, wo und wie die steigenden Absatzmengen ökologisch produziert werden – und dabei lohnt ein Blick aufs Kleingedruckte. Denn Bio ist nicht gleich Bio.
Siegel für Lebensmittel: Sichergehen mit Bioland oder Demeter
Das grüne EU-Biosiegel, das seit 2012 jedes Bio-Produkt im deutschen Handel tragen muss, definiert nur die Mindeststandards nach der EG-Öko-Verordnung. Dazu gehören: kein Einsatz von künstlichen Aromen oder Geschmacksverstärkern, Begrenzungen bei der Anzahl der Tiere pro Quadratmeter, das Verbot von gentechnisch verändertem Futter oder synthetischen Pflanzenschutzmitteln.
Wer ganz sichergehen will, sollte auf die Siegel der deutschen Herstellerverbände wie Bioland oder Demeter achten, die nach deutlich strengeren Regeln vergeben werden. So müssen Tiere mehr Platz haben, und bei der Verarbeitung dürfen anders als beim lascheren EU-Siegel keine Zusätze wie Nitritpökelsalz verwendet werden. Bei Futtermitteln gibt es ebenfalls mehr Beschränkungen, wie das Verbot von Fischmehl.
Klimabilanz für Lebensmittel: Manchmal ist Bio sogar schlechter
Das Klima lässt sich allerdings auch mit dem Verzehr von Bio-Produkten nicht per se retten. Eine Untersuchung des Instituts für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (Ifeu) zum CO2-Fußabdruck von Lebensmitteln hat ergeben, dass zum Beispiel eine Bio-Kartoffel nicht klimafreundlicher ist als eine aus konventioneller Landwirtschaft.
Das Gleiche gilt für einen Bio-Apfel, der aus Neuseeland eingeflogen wird. Ein Bio-Steak ist sogar schlechter fürs Klima als ein herkömmliches. Der Grund: Bio-Betriebe benötigen mehr Fläche, da sie geringere Erträge erwirtschaften, und haben dadurch rechnerisch eine schlechtere Emissionsbilanz pro erzeugtem Agrarprodukt.
Trotzdem, sagt Ifeu-Studienleiter Guido Reinhardt, würde dies „durch den deutlich geringeren Pestizideinsatz, nachhaltigere Bodenbewirtschaftung und Erhöhung der Artenvielfaltviel mehr als wieder wettgemacht“.
Es ist besser, Leitungswasser als Mineralwasser zu trinken
Statistisch trinkt jeder Deutsche im Jahr 132 Liter Mineralwasser – Tendenz sinkend. Gegenläufig ist der Trend beim Leitungswasser: Mehr als 83 Prozent der Bundesbürger machen zum Durstlöschen regelmäßig oder gelegentlich den Hahn auf. Im Hamburger Stadtgebiet stammt das Trinkwasser ausschließlich aus dem Grundwasser und wird aus großen Tiefen gefördert, größtenteils aus Wasserschutzgebieten.
Es wird täglich gemäß der Trinkwasserverordnung kontrolliert, die aktuellen Wasseranalysen des hauseigenen Labors finden sich auf der Internetseite von Hamburg Wasser. Nach der Aufbereitung würden alle Grenzwerte, gerade von gesundheits- und umweltschädlichen Stoffen wie Nitraten, Arzneimittelrückständen oder künstlichen Süßstoffen, deutlich unterschritten, sagt Sabrina Schmalz, Pressereferentin des städtischen Versorgers. „Eine Gefährdung können wir ausschließen.“
Das bestätigt ein Test von Stiftung Warentest aus dem vergangenen Jahr, bei dem das Leitungswasser in der Hansestadt ausgezeichnet abgeschnitten hat. Allerdings gilt das Qualitätsversprechen nur bis zur Grundstücksgrenze.
Mit einem halben Cent pro Liter ist Leitungswasser um ein Vielfaches günstiger als Mineralwasser, und man tut als Verbraucher auch noch etwas für die Umwelt, wenn das Wasser direkt aus dem Hahn kommt und nicht in (Einwegplastik-)Flaschen abgefüllt und über Hunderte Kilometer transportiert werden muss.
Konzerne kaufen Wasservorkommen – auch in der Region
Wasserentnahmen werden angesichts des Klimawandels auch immer wieder zum Politikum. In den vergangenen Jahren sorgten große Konzerne wie Nestlé für Proteste, weil sie sich den alleinigen Zugang zu Wasservorkommen erkaufen und mit ihrer Mineralwasser-Abfüllung den etwa in der Region um die französische Kleinstadt Vittel den Grundwasserspiegel senken. Auch im Landkreis Lüneburg wehrten sich Bürger gegen Testbohrungen von Coca-Cola für einen neuen kommerziell genutzten Brunnen.
Nicht ganz so eindeutig ist dagegen die ernährungsphysiologische Bilanz. Nach einer Studie des Kompetenzzentrums Mineral- und Heilwasser an der Leibniz-Universität in Hannover aus dem Jahr 2019 „liefert Trinkwasser keinen relevanten Beitrag zur Mineralstoffversorgung“. Allerdings muss man genau hinschauen, um eins der wenigen Mineralwässer mit einem hohen Mineralstoffgehalt von mehr als 1500 Milligramm pro Liter zu finden.
Wo regional draufsteht, ist oft gar nicht regional drin
Äpfel, Milch, Eier – regionale Lebensmittel sind frisch, umweltfreundlich und bei Verbrauchern sehr beliebt. Aber es gibt immer wieder Fälle, in denen die vermeintliche Regionalität nur vorgetäuscht ist. Der Begriff „Region“ ist gesetzlich nicht geschützt. Noch weniger nachvollziehbar sind Bezeichnungen wie „von hier“ oder „Heimat“. Auch Markennamen mit regionalem Bezug wie „Unser Norden“ sagen nichts darüber aus, wo die Lebensmittel herkommen und produziert werden.
Ein anderes Beispiel für Irreführung nennt Jana Fischer, Lebensmittelexpertin bei der Hamburger Verbraucherschutzzentrale. Dabei ging es um Fischfilet aus der Tiefkühltruhe, auf dessen Verpackung eine Deutschland-Flagge prangt. „Bei der Überprüfung stellte sich raus, dass der Fisch weder in Deutschland gefangen noch produziert worden war, sondern verpackt“, sagt sie.
Selbst die EU-weite Kennzeichnung „g.g.A.“ für „geschützte geografische Angabe“ bedeutet nur, dass eine Stufe der Produktion im genannten Gebiet stattfinden muss. „Kunden sollten auf sachliche Aussagen wie das Ursprungsland bei Obst und Gemüse oder auf Siegel von Regionalinitiativen und Kennzeichnungen, wie etwa den Eiercode, das blau-weiße Regionalfenster oder das Kürzel ,g.u.’ für ,gestützte Ursprungsbezeichnung‘, achten“, sagt Verbraucherschützerin Fischer.
Auch Kolhrabi ist nicht zwingend regional
Ulf Schönheim geht noch weiter. „Es ist für Kunden kaum zu erkennen, wie regional ein Erzeugnis wirklich ist“, sagt der Vorstand der Regionalwert AG Hamburg, die Produzenten und Verbraucher über einen neuartigen Verbund direkter verbinden will.
Sein Beispiel ist ein Kohlrabi, den ein Bauer aus den Vier- und Marschlanden auf dem Wochenmarkt anbietet: „Die Saat kommt aus Ostasien, der Keimling wurde in den Niederlanden gezogen. Nachdem die Jungpflanze auf einem Feld in den Vier- und Marschlanden gesetzt wurde, ist sie mit Dünger aus Osteuropa und Pflanzenschutzmitteln aus den USA gereift und schließlich von Arbeitshelfern aus Osteuropa geerntet worden“, sagt Schönheim.
„Letztlich ist das, was in dem Kohlrabi steckt, fast so global wie wenn Volkswagen ein Auto baut.“ Auch er rät dazu, auf regionale Bio-Siegel zu achten und auf dem Markt genau nachzufragen, zum Beispiel nach samenfesten Sorten.
Discounter sind besser als ihr Ruf
Gut und günstig muss kein Gegensatz sein. Discounter wie Aldi, Lidl & Co. erlangen mit ihren Eigenmarken bei Produkttests regelmäßig Bestnoten. Aldi und Lidl etwa veröffentlichen auf den eigenen Internetseiten Listen mit mehreren Dutzend Lebensmitteln, die von „Öko-Test“ mit „sehr gut“ oder „gut“ bewertet wurden.
Bei Lidl sind darunter Bio-Frischmilch für 1,09 Euro pro Liter, Tomatenketchup für 79 Cent für 500 Milliliter oder Brauner Rohzucker zum Kilopreis von 1,49 Euro. In der Regel stecken hinter den Produkten Hersteller, die ihre Erzeugnisse sowohl für den Discounter als auch für Markenproduzenten oder unter eigenem Namen anbieten. So stammt der Braune Zucker der Lidl-Marke Fairglobe von der Südzucker AG in Mannheim, deren – mutmaßlich – gleicher Zucker unter dem Namen Südzucker für 2,38 Euro pro Kilo angeboten wird.
„Die Discounter sind sehr wachsam geworden, was ihre Qualitätsansprüche angeht, und nehmen Lebensmittelkontrollen sehr ernst“, sagt Kerstin Scheidecker, stellvertretende Chefredakteurin bei „Öko-Test“. In ihren Tests schnitten die Discounter oftmals gut ab. In der aktuellen Ausgabe sei beim Thema Räucherlachs von nur sechs Produkten in der Spitzengruppe auch Aldi Nord dabei.
Discounter-Ketten bezahlen Mitarbeiter besser
Inzwischen haben alle Discounter-Ketten auch ihre Filialen mit neuen Ladenbaukonzepten attraktiver für die Kunden gemacht. Die neuen Märkte etwa von Aldi Nord oder Penny unterscheiden sich von denen der großen Supermarktketten wie Edeka oder Rewe vor allem durch die eingeschränktere Artikelauswahl.
Auch Dumpinglöhne sind bei Aldi, Lidl, Penny und Netto längst kein Thema mehr. „Die großen Ketten sind tarifgebunden und zahlen mindestens die branchenüblichen Gehälter“, sagt Heike Lattekamp, Landesbereichsleiterin Handel bei Ver.di Hamburg. Außer bei Lidl hätten sich inzwischen auch in allen Unternehmen Betriebsräte gebildet.
Nach einer Studie des Unternehmensbewertungsportals Glasdoor aus dem vergangenen Jahr verdienen Lidl-Mitarbeiter mit einem durchschnittlichen Jahresbruttogehalt von 41.780 Euro mehr als die Konkurrenz. Den zweiten Platz belegt Aldi mit 37.780 Euro. Erst danach kommen Rewe mit 37.224 Euro und Edeka mit 27.269 Euro. Allerdings, so Gewerkschafterin Lattekamp, sei der Arbeitsdruck aufgrund der geringen Personaldecke bei den Discounter deutlich höher als in anderen Unternehmen.
Fleischersatz ist nicht zwingend gesünder als Fleisch
Burger aus Erbsenprotein, Würstchen aus Seitan und Schnitzel aus Soja – vegane Fleischalternativen stehen gerade hoch im Kurs. Im Jahr 2020 produzierten die Unternehmen hierzulande laut Statistischem Bundesamt im Vergleich zum Vorjahr knapp 39 Prozent mehr Fleischersatzprodukte.
Der Vorteil: Die Produkte von Anbietern wie Beyond Meat, Vegetarian Butcher oder Rügenwalder Mühle schmecken ähnlich wie Fleisch, belasten aber Umwelt und Klima weniger. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sieht die Veggie-Alternativen aber skeptisch.
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Es handele sich um hoch verarbeitete Produkte mit einem hohen Gehalt an Zucker, Speisesalz oder Fett, die mit vielen Zusatzstoffen versehen sind. Solche Lebensmittel können ernährungsphysiologisch ungünstig und daher nicht unbedingt gesundheitsfördernd sein, so die Experten.
Veggie-Produkte haben hohen Salzgehalt
„Eine pauschale Aussage ist schwierig. Es hängt davon ab, was als Basis genutzt wird“, sagt Saskia Vetter von der schleswig-holsteinischen Verbraucherzentrale in Kiel, die im Sommer in einen Marktcheck 96 Würstchen mit und ohne Fleisch verglichen hat.
Das Ergebnis: „Die Veggie-Würstchen enthalten weniger Fett als konventionelle Würstchen aus Schwein, Geflügel oder Rind, dafür mehr Eiweiß und sogar Ballaststoffe“, sagt die Ökotrophologin Vetter und sieht die vegane Alternative bei der Nährstoffbilanz im Vorteil. Allerdings hatten die Experten bei den fleischlosen Varianten einen hohen Salzgehalt und – wie auch bei anderen Tests – Mineralölrückstände festgestellt.