Hamburg. Die Pandemie hat die Nachfrage in die Höhe getrieben. Händler erhalten nicht genug Räder, Hersteller melden Engpässe an Zubehörteilen.
Derzeit sieht das Angebot in den Fahrradläden der Hamburger Kette BOC eigentlich recht gut aus. „Im Schnitt haben wir pro Filiale noch 140 E-Bikes“, sagt Geschäftsführer Bernd Heumann. „Aber das ist bei den hohen Kundenfrequenzen auch schnell verkauft.“ Als Händler sei das eine schlimme Situation. Die Kunden dürften nach den monatelangen Lockdowns wiederkommen.
Die Beschäftigten möchten ihrer Arbeit nachkommen, beraten und Velos verkaufen, sagt der 55-Jährige: „Letztlich ist aber die Ware knapp. Das wird wieder ein sehr, sehr enges Jahr.“ Schon jetzt gebe es Engpässe bei Rennrädern sowie mit Elektromotor angetriebenen City-, Mountainbikes und SUV-Bikes, einem jungen Fahrradtyp mit Federung, einem eher niedrigen Rahmen und Lenker aus dem Mountainbikebereich kombiniert mit Gepäckträger, Schutzblechen und fest installierter Beleuchtung eines Citybikes.
Einzelhandel erreicht 2020 Bestwerte
Seit Beginn der Corona-Krise erlebt die Branche eine hohe Nachfrage. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 4,31 Millionen Fahrräder und E-Bikes verkauft. 2020 waren es 5,04 Millionen Stück – plus 17 Prozent und Bestwert seit 20 Jahren. Wegen der Pandemie mieden viele Menschen den öffentlichen Nahverkehr aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus, einige stiegen auf das Zweirad um.
„Wir hätten 2020 noch viel mehr Ware verkaufen können, haben aber keine mehr bekommen“, sagt Heumann. Viele Hersteller waren schlichtweg ausverkauft, zudem seien viele Räder nach Amerika gegangen. Im Vorjahr wurde mit 4,7 Millionen abgesetzten Exemplaren der zweitbeste Wert hierzulande seit 2005 erreicht.
Vor allem E-Bikes sind gefragt
Treiber der Entwicklung sind vor allem die E-Bikes. Wurden 2011 nur 330.000 Stück in der Bundesrepublik verkauft, waren es zehn Jahre später schon zwei Millionen. „Der E-Bike-Anteil an unserem Umsatz liegt aktuell bei etwa 50 Prozent vom gesamten Sortiment, also inklusive normaler Räder, Bekleidung, Zubehör und Werkstatt“, sagt Heumann, dessen Unternehmen mit vollem Namen „Bike Outdoor Company“ heißt. Mit 40 Filialen ist es Deutschlands größter Fahrradfilialist.
Der Anspruch ist, Fahrräder für die gesamte Bevölkerung anzubieten. Daher starten die Preise für die günstigsten Velos bereits bei 249 Euro. Der Durchschnittsbon liege mit etwa 1100 Euro pro neuem Rad inklusive der E-Bikes aber deutlich höher. „Jedes Jahr ist er um etwa zehn Prozent gestiegen“, sagt Heumann und nennt drei Hauptgründe.
Preissteigerung von Händler zu Kunden
Erstens gibt es die Absatzverschiebung hin zu mehr Fahrrädern mit Elektromotor, die teurer sind als herkömmliche Exemplare. Zweitens gebe es Qualitätssteigerungen insbesondere bei den E-Bikes. Früher sah der Hilfsmotor wie ein klobiger Klotz am Rahmen aus. Heute sieht man ihn teilweise gar nicht mehr, weil er im Rahmen verbaut ist. Auch die Reichweite der Batterie ist höher. Drittens hängt es mit höheren Kosten zusammen.
So habe sich allein der Seetransport aus Asien nach Europa in der Spitze wegen der steigenden Frachtraten der Reedereien um 80 Euro pro Rad verteuert. Die Hersteller geben zudem natürlich auch ihre Preissteigerungen weiter.
Kunden wollen mehr Qualität
Zu den hochwertigen Produzenten am Markt zählt das Hamburger Unternehmen Stevens. „Im Durchschnitt geben die Kunden bei uns 3890 Euro für ein E-Bike aus und 1280 Euro für ein herkömmliches Rad“, sagt Marketingleiter Volker Dohrmann. Das seien noch einmal 200 beziehungsweise 80 Euro mehr als ein Jahr zuvor. Auch er verweist als einen der Gründe dafür auf den Wunsch der Kunden nach mehr Qualität. So würden höherwertige Komponenten verbaut.
Zudem würden mehr Arbeitsschritte als vor der Corona-Krise in EU-Ländern oder sogar in Deutschland erfolgen. So kommen die Rahmen bisher überwiegend aus Taiwan, Vietnam und China. In Portugal sei nun nahe Porto aber eine Aluminium- und Carbonrahmenfertigung entstanden. Stevens prüfe, ob man von dort Rahmen beziehe.
Lieferprobleme ziehen sich über Jahre
Der Zusammenbau der Räder erfolgt schon zu mehr als der Hälfte hierzulande – trotz der höheren Lohnkosten. Seit Anfang 2019 gehört ein Montagezentrum in Bramsche mit 55 Beschäftigten zu dem Billstedter Unternehmen, das natürlich auch die gestiegenen Kosten für Energie, Fracht und bei den zugelieferten Teilen spürt – wenn denn welche kommen.
Dohrmann spricht von einer „leicht chaotischen Lage“ in Asien. Dort sitzen viele große Zulieferer wie der japanische Konzern Shimano, der zum Beispiel Schaltzüge, Bremsleitungen und Kettenblätter herstellt. „Unsere Auftragsbücher sind rappeldicke voll. Aber wir können nicht alles wie gewünscht produzieren, weil es einen Mangel an Zubehörteilen oder deutliche Verzögerungen bei deren Lieferungen gibt“, sagt Dohrmann und hält das für ein längerfristiges Problem: „Die Lieferprobleme werden wahrscheinlich noch zwei Jahre anhalten.“
Produktion kommt nicht hinterher
Die Gründe dafür hängen zum einen mit den Schiffsverspätungen im globalisierten Welthandel zusammen. Zum anderen gibt es einen Branchensondereffekt, der sich aus der sehr, sehr hohen Nachfrage der Kunden seit Corona-Beginn ergibt. „Seit April 2020 haben die Fahrradhändler bestellt, als ob es kein Morgen gäbe“, sagt Dohrmann: „Aber wir können nicht so schnell produzieren, weil wir einen Vorlauf von zwei bis vier Jahren bei den Modellen haben.“ So habe Stevens im Mai 2021 die Fahrräder der diesjährigen Kollektion vorgestellt. Der Handel habe 150 Prozent der Produktionskapazität sofort bestellt.
Per Quote mussten die Räder auf die Händler verteilt werden, obwohl die Zahl der gefertigten Räder von früher 80.000 bis 90.000 während der Pandemie schon auf mehr als 100.000 Räder pro Jahr gesteigert wurde. Das Potenzial wäre durch den coronabedingten Nachfrageschub noch größer, aber die Teile dafür sind nicht erhältlich. So gelten auch Elektromotoren von Bosch als rares Gut.
Kunden wünschen sich individualisierte Räder
Die Engpässe liegen auch an den langfristigen Lieferverträgen, die abgeschlossen werden müssen. Früher hätten drei Monate Vorlauf gereicht, um Teile zu erhalten, sagt Dohrmann, der seit 32 Jahren im Geschäft ist. Nach vier Monaten sei das Rad gebaut und ausgeliefert gewesen. Vor zehn Jahren stieg der Vorlauf auf ein Jahr. Das reiche nun nicht mehr, Shimanos Auftragsbücher seien für 1,5 Jahre voll. „Die Fahrradhersteller bevorraten sich mehr denn je und früher als zuvor, bestellen jetzt sogar schon für 2024 und 2025“, sagt Dohrmann. Alles in der Hoffnung, dass der Markt weiterhin gut ist und sie mehr verkaufen können.
All dies führt dazu, dass Kunden mit individuellen Wünschen für eine bestimmte Konfiguration mit Lieferzeiten rechnen müssen wie einst nur beim Autokauf. Man müsse sich als Endkunde vor allem im oberen Preissegment derzeit mit einem Händler zusammensetzen und fragen, welches Rad vorhanden sei und zu einem passe, sagt Dohrmann: „Der Handel hat sicher noch Räder. Aber das Lieblingsrad kommt vielleicht erst in ein bis fünf Monaten.“ Im Einsteigerbereich bei Mountainbikes bis 1000 Euro und Trekkingrädern bis 700 Euro sehe die Situation noch ein bisschen entspannter aus. Man könne mit größeren Wahrscheinlichkeiten an ein Rad kommen, weil statt der geplanten Schaltung A nun als Alternative Schaltung B montiert werde.
Heumann: E-Bikes werden knapp
Beim Fahrradhändler BOC wird den Kunden zu Kompromissen geraten. „Das Wunschmodell ist das Fahrrad, was der Kunde gern bestellen möchte.“ Aber BOC bestelle bei den Herstellern gar nichts mehr. „Wir wissen schlichtweg nicht, wann ein bestimmtes Modell kommt – und ob es überhaupt kommt“, sagt Geschäftsführer Heumann. Dabei habe die Filialkette noch den Vorteil, in Hannover ein Zentrallager zu unterhalten und auf das Angebot der 40 Filialen zurückgreifen zu können. Wenn das Wunschrad eines Kunden dort vorhanden ist, könne dies in vier bis sieben Werktagen an den Verbraucher geliefert werden. Trotzdem glaubt der Kaufmann: „In den nächsten drei Monaten dürfte die Verfügbarkeit, insbesondere von E-Bikes, sehr knapp werden.“
Das Wachstum des Unternehmens soll weitergehen. Im Jahr 2020 habe man den Umsatz zum Vorjahr trotz des Lockdowns um 23 Prozent gesteigert – auch dank des nahezu verdoppelten Onlineumsatzes. Im zweiten Corona-Jahr wurden die Erlöse nochmals um vier Prozent auf 163 Millionen Euro nach oben geschraubt. Und auch dieses Jahr ist ein Einbruch nicht in Sicht – im Gegenteil. „Im laufenden Jahr liegen wir bisher bei einem Umsatzplus von etwa 20 Prozent zum Vorjahreszeitraum“, sagt Heumann: „Die Nachfrage ist nach wie vor auf einem sehr, sehr hohen Niveau.“
Trend zum Fahrrad Fahren
Die Gründe für den Kauf eines Zweirades seien vielschichtig. Bei Älteren würden Freizeittouren immer beliebter, für die sich gern ein teures Rad zugelegt wird. Sportive Mountainbikes – auch gern mit E-Motor – seien beliebt. In vielen Stadtteilen, insbesondere den eng bebauten mit wenigen Parkplätzen für Autos, gilt es als chic, die Kinder mit dem Cargobike zur Kita zu bringen. Und als Fahrzeug für den Weg zur Arbeit würde das Velo auch deshalb beliebter, weil immer mehr Firmen Diensträder anbieten. Flankieren die Arbeitgeber dies mit Lademöglichkeiten für den E-Motor und bewachten Stellplätzen sei dies ein weiterer Anreiz für den Umstieg.
BOC mit derzeit rund 1200 Beschäftigten will daher weiter expandieren. Ende Juni macht in Augsburg Filiale Nummer 41 auf. „In diesem Herbst/Winter werden noch fünf weitere Läden folgen“, sagt Heumann. Sie liegen großteils im Süden und Westen der Republik. Rund eine Handvoll Neueröffnungen soll es jährlich geben. Im Norden kam Pinneberg 2020 dazu, ein Jahr später Neumünster. Potenzial sieht der Firmenchef auch noch in Flensburg, Kiel, Braunschweig und Wolfsburg. „In Hamburg möchten wir gerne Richtung Walddörfer noch einen Standort eröffnen“, sagt Heumann, der sich zudem zwei bis drei reine E-Bike-Shops in der Hansestadt vorstellen kann.
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Den Trend zu den motorisierten Rädern spüren übrigens auch die Werkstätten. Denn mit mehr verkauften E-Bikes und hochwertigeren Fahrrädern gibt es auch mehr Hilfesuchende bei den Technikern. Die Nachfrage nach Werkstattleistungen sei im Vorjahr um 26 Prozent gestiegen, so der BOC-Chef. Beim Personal gebe es allerdings mitunter Engpässe. Weil zu wenig ausgebildet wurde – und weil der Krankenstand wegen der wieder größeren Zahl an Kontakten mit Kunden dreimal so hoch sei wie im Vorjahr. Daher gibt es nicht nur eine begrenzte Auswahl an neuen Rädern, sondern mitunter auch einen Reparaturstau bei gebrauchten, so Heumann: „Es gibt Filialen mit einer Wartezeit für Reparaturen von drei Tagen – und welche mit bis zu drei Wochen.“