Hamburg. Nach dem Aufstand der Händler gegen die harte Linie des Bürgermeisters nennt der Innensenator erstmals einen möglichen Öffnungstermin.
Ludwig Görtz kennt die Hamburger Innenstadt wie kaum ein anderer. In der Spitalerstraße ist eine der größten Filialen seiner Schuhhandelskette, schräg gegenüber hat die Firmenzentrale ihren Sitz. Auch mit über 80 Jahren kommt Görtz, zudem lange Jahre Vorsitzender des Trägerverbundes Projekt Innenstadt, mehrfach in der Woche ins Büro. Jetzt sagt der Schuhkönig: „Wer soll das noch verstehen.“ Und meint die Corona-Politik des Senats.
Wenn er durch die Spitalerstraße gehe, könne er im Supermarkt Lebensmittel kaufen, auch Buchhandel und Optiker seien geöffnet. Alles ohne Termin und Kontaktverfolgung. „Aber alle anderen Geschäfte sind seit fünf Monaten geschlossen. So kann es nicht weitergehen“, sagt Görtz. „Jetzt muss entschieden werden, dass der gesamte Hamburger Einzelhandel endlich wieder öffnen kann.“ Die zögerliche Haltung des Senats halte er, „angesichts der sinkenden Inzidenzen für völlig übertrieben“.
Protest der Händler gegen Senat
Görtz ist einer von mehreren prominenten Hamburger Geschäftsleuten, die die aktuelle Corona-Öffnungsstrategie in der Hansestadt jetzt öffentlichkeitswirksam kritisieren. „Herr Bürgermeister, haben Sie uns vergessen?“, fragen sie in einer ganzseitigen Anzeige in der Dienstagsausgabe des Hamburger Abendblatts. Der Protest richtet sich vor allem gegen den Stufenplan für die Lockerungen im Lockdown, der im ersten Schritt ab dem heutigen Mittwoch noch keine Erleichterungen für den Handel vorsieht.
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Frühestens zehn bis 14 Tage nach der ersten Stufe des sogenannten Hamburger Wegs ist demnach geplant, dass Einkaufen in allen Geschäften unter Auflagen wieder möglich sein soll. Den Händlern ist das zu spät. Die Chefin des Alstershauses, Alexandra Bagehorn, hatte ebenfalls im Abendblatt eine Öffnung am 17. Mai gefordert. Insgesamt stehen mehr als 50 Unternehmen hinter dem Appell der Initiative „Das Leben gehört ins Zentrum“, darunter Thalia, Saturn sowie der Einkaufscenterbetreiber ECE.
Senator Grote verteidigt harte Corona-Linie
Am Dienstag ist das Beben, das der ungewöhnliche Schritt ausgelöst hatte, deutlich zu spüren. Während Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sich in Stillschweigen hüllt und auch Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) nicht für ein Gespräch zur Verfügung steht, verteidigt Innensenator Andy Grote (SPD) den strengen Öffnungsplan des rot-grünen Senats nach der Senatssitzung in der Landespressekonferenz. „Wir können verstehen, dass die Erwartungen und der Druck bei allen hoch ist“, sagt Grote. „Aber wir müssen Ordnung halten. Das, was für den Handel terminiert ist, ist sinnvoll.“
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Der Senat habe den zweiten Öffnungsschritt für die nächste Woche in Aussicht gestellt. „Insofern glaube ich, dass der Unterschied zwischen dem, was gefordert wird, und dem, wie wir es planen, gar nicht so groß ist.“ Konkret bringt der SPD-Innensenator zum ersten Mal das Datum 22. Mai ins Spiel. Das wäre der Sonnabend vor Pfingsten. „Es geht um nur fünf Tage“. betont er.
An sich wäre Öffnung der Läden erlaubt
Als Metropole habe Hamburg ein anderes Risiko für ein dynamisches Infektionsgeschehen und damit für eine steigende Sieben-Tage-Inzidenz. Am Dienstag lag die Inzidenz nach Hamburg-Messung bei 78,2 und den fünften Tag in Folge unter 100. Nach den Regelungen der Bundes-Notbremse wären damit auch in Hamburg wie schon in Schleswig-Holstein und Niedersachsen die Öffnung des Einzelhandels gedeckt.
Corona: Hamburgs 4-Stufen-Plan zurück ins normale Leben:
„Das ist eine Salami- und Hinhaltetaktik“, kontert der Präsident des Handelsverbands Nord Andreas Bartmann Grotes Ausführungen. Den Zeithorizont des Senats nennt er „realitätsfern“. Für den Handel zähle jetzt jeder Tag. Schon Ende vergangener Woche hatte er vor weiteren Firmenpleiten in Hamburg gewarnt. Dabei verweist der Handelsexperte, der im Hauptberuf Geschäftsführer des Outdoor-Ausrüsters Globetrotter mit Filialen in ganz Deutschland ist, auf Regelungen in anderen Bundesländern. So sei etwa in München bei einer ähnlichen Inzidenz wie in Hamburg zumindest Terminshopping ohne Testpflicht möglich und laufe gut.
Lockdown lässt Umsatz einbrechen
Wie verzweifelt viele Händler nach fünf Monaten im Corona-Lockdown sind, weiß Citymanagerin Brigitte Engler. Die Hamburger Innenstadt leidet besonders unter den Geschäftsschließungen. Täglich meldeten sich Geschäftsleute, denen die wirtschaftliche Grundlage genommen sei. „Mir fehlen die Worte, was ich ihnen noch sagten soll“, sagt Engler.
Dass die Verluste drastisch sind, zeigt eine aktuelle Umfrage des Handelsverbands Deutschland (HDE). Danach liegen die Umsätze in den von Lockdown und Schließungen betroffenen Branchen in den ersten fünf Monaten dieses Jahres im Schnitt 60 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Mehr als die Hälfte der Modehändler sieht sich demnach ohne weitere staatliche Hilfen in Existenzgefahr.
Opposition fordert Perspektiven für den Handel
Kritik an dem Hamburger Sonderweg kommt auch aus der Opposition in der Hamburger Bürgerschaft. „Der Einzelhandel in Hamburg leidet noch immer unter enormen Umsatzeinbußen. Viele Arbeitsplätze und Existenzen stehen auf dem Spiel. Weiterhin fehlt es an echten Perspektiven für Öffnungen“, sagt CDU-Fraktionschef Dennis Thering dem Abendblatt. Er forderte zumindest das Terminshopping zuzulassen.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
„Für viele Einzelhändler ist es aber noch wichtiger, dass jetzt alles für echte Öffnungen mit Hygienekonzepten, tagesaktuellen Tests und Abstandsregelungen vorbereitet wird und diese so schnell wie möglich erlaubt werden.“ Gleichzeitig sei der Handel weiter auf Hilfsprogramme angewiesen. Hier dürfe sich vor allem SPD-Finanzminister Olaf Scholz auf Bundesebene nicht länger sperren.
Sieben Klagen gegen Hamburgs Senat
Handelsverbandschef Andreas Bartmann will jetzt noch mal „in einen engen Austausch“ mit der Politik gehen und hofft auf eine schnelle Lösung. Manche Unternehmen wollen das nicht mehr abwarten und gehen juristisch gegen die zögerliche Öffnungspolitik des Senats vor. Nach Abendblatt-Informationen sind seit April sieben Klagen von Händlern beim Verwaltungsgericht eingegangen.
Der Elektronikhändler MediaMarktSaturn zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Dort hat das Unternehmen eine Klage eingereicht, unter anderem wegen des Eingriffs in die Berufsfreiheit und des Gleichbehandlungsgrundsatzes.