Hamburg. Früher hat Till Jagla in der Sportschuhindustrie gearbeitet. Nun macht er sein eigenes Ding. Dabei verfolgt er ein bestimmtes Ziel.

Es gibt Menschen, die Till Jagla einen Sneaker-Guru nennen oder gar den Sneaker-Gott. Er macht nicht den Eindruck, als ob ihm das etwas bedeuten würde. Aber der Hamburger hat eine Erklärung, wie es so weit kommen konnte. „Es gibt sicher nicht viele, die seit 20 Jahren in der Branche arbeiten und um die 20.000 Produkte kreiert haben“, sagt der 42-Jährige, der in Soltau aufwuchs und in Hamburg BWL und Marketing studierte.

Schon während des Studiums arbeitete er nebenbei für des US-Sportschuhhersteller New Balance, heuerte dort später fest an. Seitdem nehmen schicke Turnschuhe noch viel mehr Raum in seinem Leben ein als zuvor schon. Es gibt wohl nur wenige, die mehr über die boomende Branche wissen, die weltweit pro Jahr 135 Milliarden US-Dollar umsetzt. Jagla hat diesen Boom viele Jahre mit befeuert, zuletzt elf Jahre lang bei und für Adidas. Jetzt arbeitet er auf eigene Rechnung. Und er will vieles anders und besser machen als Nike und Co.

Sneaker-Preise: 350.000 Dollar für ein Paar Turnschuhe

Für Adidas war Jagla auf vielen Auslandsstationen, zuletzt firmierte er im deutschen Konzern als „Head of Energy“. Sein Job war, Adidas auf Augenhöhe mit Nike zu bringen, die Marke und ihre Schuhe in der öffentlichen Wahrnehmung positiv aufzuladen, ihnen Publicity und ein gutes Image zu verschaffen, sie „begehrlich“ zu machen, wie er es nennt. Manche dieser Turnschuhe, deren Herstellung allenfalls einige Dutzend Euro kostet, sind so begehrt, dass Käufer bereit sind, mehrere Zehntausend oder gar Hunderttausend Euro für ein Paar auszugeben. Das zeigte sich zuletzt vor wenigen Tagen als das Auktionshaus Sotheby’s 200 Paar Sneakers aus der Sammlung des verstorbenen Designers Virgil Abloh für umgerechnet insgesamt 22 Millionen Euro versteigerte. Das billigste Parr ging für 75.000, das teuerste für 350.000 US-Dollar weg.

Weltweit werden pro Jahr schätzungsweise mehr als eine Milliarde Paar Turnschuhe produziert. Nur der kleinere Teil davon wird tatsächlich beim Joggen oder sonstigen sportlichen Betätigungen getragen. Das sind die sogenannten Performance-Schuhe. Das Lifestyle-Segment der Sneaker, die einfach schick und für manche ein Statussymbol sein sollen und zu jeder Gelegenheit getragen werden, ist ungleich größer. „Fünf- bis siebenmal“, sagt Jagla. Und dann gibt es noch die Schuhe, die niemals getragen, sondern gesammelt und für sehr viel Geld gehandelt werden.

Schnelles Geld mit Sneakers

Rund um die Sneaker ist eine Fanszene der Jäger und Sammler, der sogenannten Sneakerheads, entstanden, die es auch bei Whisky oder Luxusuhren gibt und in der binnen kurzer Zeit fantastische Gewinne möglich sind. Wer es schafft, ein Paar eines seltenen, besonders begehrten und deshalb oft teuren neuen Modells zu ergattern, hat gute Chancen, es bisweilen schon nach wenigen Monaten für ein Vielfaches des Kaufpreises weiterzuverkaufen. „Allein auf dem Zweitmarkt werden pro Jahr etwa 35 Milliarden Euro umgesetzt“, weiß Jagla.

Nike und Co. tun viel dafür, diesen Hype anzufachen: Ständig kommen neue Schuh-Modelle und -Varianten in kleinen oder kleinsten Auflagen von einigen hundert oder gar nur Dutzend Exemplaren auf den Markt. „Die großen Marken kommen auf bis zu 250 Releases pro Jahr“, sagt Jagla. Benannt nach oder gemeinsam designt werden die Schuhe oft mit Sport- und Musikstars. Wenn Fans tage- und nächtelang vor dem Verkaufsstart eines solchen Modells vor einem Sneakerladen anstehen, um sich eines von wenigen Exemplaren sichern zu können, ist das gute Publicity für die Marke. Das Problem ist, dass Anstehen inzwischen oft gar nichts nützt – weil die Sneaker online angeboten werden, und spezielle Software (Bots) nach Freischaltung der Seite in Sekundenbruchteilen Bestellungen abfeuert.

Kooperation mit Kanye West

Jagla trieb bei Adidas Schuh-Kooperationen etwa mit US-Eisteeherstellern und dem Rapper Kanye West voran. Eines seiner Aufsehen erregenden Projekte war 2018 ein Sneaker mit der und für die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG). Es gab 500 Paare, eines kostete 180 Euro. Zugleich war der Sneaker aber auch eine BVG-Jahreskarte im Wert von mehr als 700 Euro – die allerdings nur galt, wenn der Besitzer die Schuhe bei der Fahrkartenkontrolle auch an den Füßen trug. Selbst in Asien wurde über die BVG berichtet, deren Image ansonsten nicht das Beste ist.

Das Hype-Marketing habe sich zuletzt mehr und mehr verschärft, sagt Jagla. „Bei mir hat sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt und ich habe in der Branche vieles gesehen, mit dem ich mich nicht identifizieren kann.“ Das ist einer von mehreren Gründen dafür, dass er Mitte vergangenen Jahres bei Adidas ausstieg. Einen persönlichen gab es auch. „Ich habe mir überlegt, wie weit ich im Unternehmen noch kommen kann und was ich dafür tun muss – und mich dann dagegen entschieden“, sagt er beim Gespräch in der Lobby des Hotels The Fontenay. Jagla lebt da jetzt ganz in der Nähe mit seiner Familie.

Selbst neue Schuhe werden geschreddert

Wachsende Zweifel an der Nachhaltigkeit einer Industrie, in der selbst fabrikneue Schuhe geschreddert werden, wie ein aufwendiges Rechercheprojekt von Investigativjournalisten kürzlich aufdeckte, kamen noch hinzu. Und ein Schuss Nostalgie. „Wir sind früher für zwei, drei Tage nach Berlin gefahren, um ein neues Modell zu kaufen, haben uns mit Gleichgesinnten getroffen und über Sneaker geredet, das hatte was von Stammtisch. Am Ende hatte man ein paar nette Tage erlebt und ein Paar Schuhe gekauft.“ Mittlerweile gehe es in der Szene „nicht mehr ganz so romantisch“ zu wie in der Anfangszeit.

Auch in diese Richtung will er mit seiner eigenen Firma mit dem heimeligen Namen Flowers for Society und einer virtuellen Community für Sneaker-Fans und-Sammlerinnen wieder mehr hin. Man muss sich diesen sogenannten Garden of Comfort wie einen Club von Gleichgesinnten vorstellen, der sich um die von Jagla und seinem Team entwickelten Sneaker schart. Die wichtigste Maxime lautet: Produziert wird nur, was fest bestellt ist. Überproduktion gibt es daher nicht. Und jeder hat die Chance, die Schuhe auch zu bekommen.

Käufer müssen Geduld mitbringen

Das erste Modell, der Seed.One (erste Saat) kostete 199,99 Euro und konnte im November 12 Tage lang vorbestellt werden. „Eine mittlere vierstellige Zahl“ von Kunden hat das getan, sagt Jagla. Manche orderten mehrere Exemplare, einer gleich elf. Zwei Drittel der Bestellungen kamen aus dem deutschsprachigen Raum, 20 Prozent aus den USA, der Rest „kleckerweise aus dem restlichen Europa und aus Japan“. Nun werden die Schuhe in Vietnam produziert, einem Zentrum der Turnschuhherstellung. Der Sneaker besteht weitestgehend aus Recycling-Material und ist vegan. Ausgeliefert wird er voraussichtlich ab April oder Mai. Die Käufer müssen warten können.

Mit dem Kauf wurden Jaglas erste Kunden zugleich Besitzer eines NFT. Die Abkürzung steht für „Non Fungible Token“, das bedeutet nicht austauschbare Münze und ist die Bezeichnung für ein rein digitales Objekt, etwa ein virtuelles Kunstwerk, das nur als Datei existiert. Die Herstellung und die Eigentümer der Unikate sind in der Blockchain dokumentiert. Der Handel mit solchen NFT hat sich im vergangenen Jahr seinerseits zu einem Milliardenmarkt entwickelt. So zahlte Popstar Justin Bieber unlängst angeblich umgerechnet 1,15 Millionen Euro für einer der bekannten Bored-Ape-Bilder. Der NFT-Hype erinnert an die digitale Parallelwelt von Second Life, in der schon vor 15 Jahren virtuelle Grundstücke für 100.000 Dollar den Besitzer wechselten.

Ein NFT als Clubausweis

In Jaglas Sneaker-Start-up ist das NFT zunächst eine Art Clubausweis und Kundenkarte. Besitzerinnen und Besitzer erhalten exklusive Angebote für neue Produkte, die von März an monatlich auf den Markt kommen sollen. „Das kann ein Hoodie sein, ein T-Shirt oder auch mal eine Blumenvase.“ Auf Basis des Ur-Schuhs Seed.One sollen im Laufe dieses Jahres drei weitere Varianten veröffentlicht werden, im Dezember dann ein zweites Modell. Der Garden of Comfort soll weiter wachsen und zugleich ein Fan-Forum mit exklusiven Hintergrundinformation zur Marke sein, eine Basis zum Tausch und Handel mit Sneakers und NFT, zur Diskussion untereinander und mit den Machern der Schuhe – auch darüber, wie ein neues Modell aussehen könnte. Es sind Informationen, die dem Unternehmen nützen, Jagla nennt es die „Demokratisierung“ der Branche, die. „Ich hätte das Unternehmen am liebsten gemeinsam mit 20.000 Co-Foundern gegründet. Aber das ist nach deutschem Recht praktisch nicht möglich“, sagt er.

Auch wenn er in seiner Zeit als reiner Fan nie länger als einen Tag für ein neues Paar angestanden hat – nach 20 Jahren hat sich bei Jagla eine riesige Sneaker-Sammlung angehäuft. Er besitzt von jedem Modell, an dessen Entstehung er beteiligt war, ein Paar. Die notorische Schuhsammlerin und Diktatoren-Gattin Imelda Marcos wirkt gegen ihn wie eine Anfängerin. Verkaufen kommt für Jagla nicht in Frage. „Ich verbinde mit jedem Paar eine besondere Geschichte.“ Er hat das Schuhwerk vorerst in gemieteten Lagerräumen untergebracht – auf drei Standorte verteilt. Es öffentlich auszustellen ist ein Gedanke, den er bislang nicht weiterverfolgen konnte. Zumal viel Platz benötigt würde. „Es sind“, sagt Till Jagla, „um die 5000 Paar.“