Hamburg. Metallbranche klagt, Bewerber seien oft nicht „ausbildungsfähig“. Nordmetall-Vize Thomas Piehler über die Gründe und TikTok.

Die jüngste Umfrage des Arbeitgeberverbands Nordmetall bei seinen Mitgliedsunternehmen aus der norddeutschen Metall- und Elektrobranche förderte einen besorgniserregenden Befund zutage: Eine deutliche Mehrheit (63 Prozent) der Firmen beklagt, sie finde nur noch sehr schwer „ausbildungsfähige“ Bewerber für die Ausbildungsplätze. In Hamburg ist die Situation laut der noch unveröffentlichten Umfrageergebnisse, die dem Abendblatt exklusiv vorliegen, noch schwieriger als in den anderen Nordländern. Nordmetall spricht von „Azubi-Notstand“. Der für Hamburg zuständige Vizepräsident des Verbands und langjährige Arbeitsdirektor bei Philips, Thomas Piehler (64), nennt die Ursachen, sagt, was sich ändern muss – und nimmt dabei auch die Unternehmen in die Pflicht.

Was genau versteht man bei Nordmetall unter dem Begriff „ausbildungsfähig“?

Thomas Piehler: Es geht dabei vor allem um die Deutschkenntnisse, die Auszubildende haben sollten. Zweitens die Rechenfähigkeiten, die Bewerber mitbringen müssen. Und drittens sind die sogenannten Soft Skills wichtig, zu denen neben der Begeisterung für Technik, Maschinen und Fahrzeuge auch Verlässlichkeit und Pünktlichkeit am Ausbildungsplatz gehören.

Deutsch und Rechnen schwach: Firmen rufen „Azubi-Notstand“ aus

Konkret: Was fehlt den Bewerbern heute, was sie vor zehn Jahren noch konnten?

Die Ausbildungsleiter beklagen, dass sich die Rechenleistungen deutlich verschlechtert haben. Und auch die Deutschkenntnisse. Mehr als die Hälfte der Bewerber haben einen Migrationshintergrund, ungefähr zehn Prozent einen Flüchtlingshintergrund. Nicht alle erfüllen da die Anforderungen. Manche haben es in der Berufsschule noch schwer. Gleichwohl brauchen wir diesen Berufsnachwuchs mit ausländischen Wurzeln unbedingt. Zum anderen ist der Krankenstand heute höher. Es gibt außerdem Fälle, in denen junge Leute, mit denen ein Ausbildungsvertrag geschlossen wurde, überhaupt nicht erscheinen. Und es kommt vor, dass Einzelne unzuverlässig sind, sich etwa bei Krankheit nicht abmelden, sondern einfach wegbleiben. Ich will hier bestimmt kein Jugend-Bashing betreiben. Aber das ist das, was man aus den Betrieben verstärkt hört.

Gibt es Defizite bei Bewerberinnen und Bewerbern für alle Ausbildungsberufe, die in der M+E-Branche angeboten werden?

Der Schwerpunkt der Probleme bei Sprache und Rechnen liegt offenbar bei den Bewerbern für die gewerblichen Ausbildungsberufe und bei Bewerbern mit einfachem Abschluss.

„Ein Drittel der Firmen wird leer ausgehen“

Nordmetall spricht von Azubi-Notstand. Was fürchtet die Branche?

Wir sprechen inzwischen nicht mehr von Fachkräftemangel, sondern von Fachkräftekrise. Der Jahrgang, der heute von der Schule kommt, ist nur noch halb so groß wie meiner es war. Es ist nicht so, dass es überhaupt keine Lehrstellenbewerber mehr gibt, aber die Eignung der jungen Leute, die sich bewerben, hat eben sehr, sehr stark nachgelassen. Die Knappheit der Bewerber trifft vor allem die kleineren und mittelgroßen Betriebe. Etwa ein Drittel dieser Unternehmen wird voraussichtlich leer ausgehen. Die großen Konzerne haben da weniger Probleme.

In Hamburg haben Unternehmen laut der Umfrage besonders große Schwierigkeiten ausbildungsfähige Lehrlinge zu finden. Warum?

Da spielt sicherlich die schwierige Wohnsituation eine große Rolle. Zuletzt konnten deutlich weniger junge Leute vom Land zur Ausbildung in die Stadt gelockt werden. Da sind sowohl die Unternehmen als auch der Senat gefordert, dass, so wie für Studenten, zum Beispiel auch mehr Wohnheime für Azubis in der Stadt geschaffen werden.

Thomas Piehler (64) ist Vizepräsident des Arbeitgeberverbands Nordmetall und dort zuständig für Hamburg. Zuvor war er viele Jahre Arbeitsdirektor bei Philips.
Thomas Piehler (64) ist Vizepräsident des Arbeitgeberverbands Nordmetall und dort zuständig für Hamburg. Zuvor war er viele Jahre Arbeitsdirektor bei Philips. © Nordmetall | Nordmetall

Wer muss jetzt was anders und besser machen, damit sich die Situation verbessert?

Zunächst mal finde ich es einen Skandal, dass hierzulande immer noch fast drei Millionen Menschen gar keinen Schulabschluss haben, in Hamburg sind es derzeit knapp sechs Prozent der Schulabgänger. Da ist der Staat dringend gefordert. Und wir selbst als Branche und die Unternehmen müssen angesichts der geringen Zahl an Schulabgängern sicherlich noch mehr dorthin gehen, wo sich die jungen Leute mit Affinität für alles Digitale tummeln. Unsere Begeisterung für technische Lösungen und die Tatsache, dass die Metall- und Elektroindustrie intensiv an der Energiewende arbeitet und einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels leistet, ist offensichtlich noch nicht ausreichend angekommen. Diese Aspekte müssen wir auch noch stärker bei Lehrerinnen und Lehrern verankern.

Azubi-Notstand: Was die Industrie sich von den Schulen wünscht

Sie hoffen also darauf, dass in den Schulen mehr Überzeugungsarbeit im Sinne der Branche geleistet wird?

Wir wünschen uns, dass bei Lehrern und Schülern noch stärker ankommt, dass in unserer Branche eine gesamtgesellschaftlich wichtige Arbeit geleistet wird und dass es viel Sinn macht, sich dort zu engagieren. Und, dass technische Berufe auch für Mädchen eine gute Perspektive sind. Wir wünschen uns natürlich auch, dass Lehrerinnen und Lehrer nach Ende der Pandemie wieder einen stärkeren Fokus auf Berufsorientierung in der Schule legen. Die Unternehmen bieten ja inzwischen wieder verstärkt Praktika an.

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Wir müssen sicherlich auch darüber nachdenken, ob unsere Arbeitsplätze so attraktiv sind, wie die jungen Leute sich das heute vorstellen. Es kommt auf spannende, gut bezahlte und sinnstiftende Tätigkeiten an, aber zunehmend auch auf mehr Flexibilität bei Arbeitszeit und Homeoffice. Und auf offene Türen, einen zwangloseren Umgang sowie die Förderung von Teamgeist und Zusammengehörigkeitsgefühl. In manchen Betrieben ist da sicherlich noch Luft nach oben. Wir als Verband machen da gerade für kleinere und mittelgroße Unternehmen viele Beratungsangebote. Und wie gesagt: Wir müssen stärker präsent sein, wo die Jugendlichen sind, um sie abzuholen in den sozialen Medien.

Azubi-Notstand: Jetzt sollen TikTok-Videos helfen

Also mehr TikTok-Videos aus der Metall- und Elektroindustrie?

Ja genau, auch mehr TikTok-Videos.