Hamburg. Sinkende Kaufkraft, viel Zuzug, aber wenig Arbeitsplätze und Attraktionen. Verschläft die Schlafstadt den technologischen Wandel?

Rahlstedt – ein abgehängter Stadtteil? In der Debatte um die Defizite des bevölkerungsreichsten Hamburger Stadtteils (90.000 Einwohner) kristallisieren sich zwei Pole heraus: SPD-Politiker, die das Positive hervorheben, und Vertreter des in Gründung befindlichen Wirtschaftsclubs Rahlstedt sowie die Spitzen des Bürgervereins, die den Druck auf Politik und Verwaltung erhöhen und die Bürger zu mehr Engagement bewegen wollen.

Ein mäßig funktionierendes und in Teilen unattraktives Ortszentrum, Verkehrsprobleme infolge hohen Zuzugs in den letzten Jahren der Nachverdichtungen und fehlender Arbeitsplätze vor Ort, der Verlust von Grünflächen, das bedrohte Freibad und die im Verhältnis zu anderen Stadtteilen vielen Flüchtlingsunterkünfte ohne entsprechende soziale Infrastruktur waren im Abendblatt beklagt worden. In der „Schlafstadt Rahlstedt“ werde zwar gewohnt, aber weder eingekauft noch gearbeitet.

Hinzu kommt, daran erinnerten mehrere Rahlstedter Leser, die fehlende Anbindung Rahlstedts durch S- oder U-Bahn. Die Regionalbahn fährt nur alle 30 Minuten, gilt als störanfällig, hält nur in Tonndorf, Wandsbek, Hasselbrook und endet am Hauptbahnhof. Sie offeriert also nur wenig Ziele und Umsteigepunkte.

SPD-Politiker Buschhüter lobt seinen Stadtteil

Der Rahlstedter SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Ole Thorben Buschhüter bescheinigt der Kritik auf seiner Internetseite, „etwas jammernd daher zu kommen“ und will sich den Stadtteil nicht schlecht reden lassen: „Rahlstedt ist äußerst lebenswert und grün. Rund 30 Prozent seiner Fläche stehen unter Natur- oder Landschaftsschutz. Rahlstedt hat sehr gute Wohnlagen direkt neben Quartieren mit sozialem Wohnungsbau. In Rahlstedt ist so etwas selbstverständlich. Es gibt Gegenden mit viel Geld, und solche mit ganz wenig. Wir haben hier kein Chichi, sondern ausgeprägte Bodenständigkeit. Das schlägt sich nieder in Gelassenheit, und das schätzen die Leute, die hierher ziehen.“

Die Nachverdichtungen der letzten Jahre „kann Rahlstedt ab“, sagte Buschhüter. Im Ortskern werde investiert, und die Lage zwischen Ostsee und Hauptbahnhof sei hervorragend. Außerdem plane der Senat mit der S 4 eine bessere Anbindung. „Von einem Bedeutungsverlust Rahlstedts für die Gesamtstadt kann keine Rede sein“, sagte Buschhüter. „Das Bild Rahlstedts wird sich verändern, der Charakter unseres schönen Stadtteils aber nicht!“

Wirtschaftsclub hält gegen und verschärft die Kritik

Genau diese argumentative Mischung aus verheißender Zukunftsmusik und Beschwörung der schönen Heimat stößt bei den Kritikern der jahrelangen Abwärtsentwicklung Rahlstedts auf wachsendes Unverständnis. „Hier werden Wahrheiten über die guten Seiten des Stadtteils bewusst benutzt, um die Probleme systematisch klein zu reden“, hieß es aus dem Bürgerverein und dem Wirtschaftsclub Rahlstedt.

Jochen Fahrenkrug, der jahrzehntelang in leitenden Positionen der Hamburger Wirtschaftsförderung arbeitete, und der CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Klimke sind die Gründungsväter des neuen Wirtschaftsclubs. Sie wollen die Schwierigkeiten offen benennen. Fahrenkrug: „Der Wirtschaftsstandort Rahlstedt wurde ohne kompetente Gegenwehr von Politik und Verwaltung und Vertretern der Wirtschaft abgehängt. Kasernen der Bundeswehr wurden geschlossen, eine Kompensation zugunsten Rahlstedts fand nicht statt. Seit 2004 stellen Politik und Verwaltung einen Kaufkraftverlust von 80 % fest, inhabergeführte Rahlstedter Fachgeschäfte wie Bendtfeld und Möller mussten schließen.“ Die aktuelle Sozialstruktur gebe wenig Anlass zur Hoffnung für eine wirtschaftliche Belebung, weil die Kaufkraft fehle.

Fahrenkrug: „Nahezu jeder vierte Rahlstedter ist älter als 66 Jahre, fast 10.000 Hartz-IV-Empfänger, mehr als 1100 Armutsrentner sowie die neu ankommenden Flüchtlinge können nur wenig zur wirtschaftlichen Belebung beitragen. Der Trend zum Online-Einkauf insbesondere bei jüngeren Menschen verstärkt diese Negativentwicklung.“

Auch fänden qualifizierte Abiturienten und Studenten in Rahlstedt kaum adäquate Wohnungen und Arbeitsplätze. „Bei der Ansiedlung wissenschaftlicher Institute und der Bildung technologischer Schwerpunkte wird Rahlstedt von der Politik im Hamburger Rathaus und den Fachbehörden seit Jahren systematisch übergangen“, sagte Fahrenkrug. Der Stadtteil sei „für die wirtschaftliche Zukunft völlig unzureichend gerüstet“.

Wirtschaftsclub sucht Mitstreiter und will 2017 starten

Der Wirtschaftsclub will die ehrenamtliche Arbeit für den Stadtteil in ein professionelles, hauptamtliches Standortmanagement überführen. Das soll einen „technologieorientierten Strukturwandel einleiten“. Es müssten gezielt junge, innovative Technologieunternehmen und wissenschaftliche Institute angesiedelt werden, auch auf den neuen Gewerbeflächen von Klaus-Peter Jebens.

Der Wirtschaftsclub will Anfang 2017 ins Laufen kommen. Mittelfristig sollen die 5300 Unternehmen des Stadtteils vernetzt werden für eine gemeinsame Interessenvertretung, die gezielt Wirtschaftsförderung betreibt.

Buschhüter zeigt sich am Ende kompromissbereiter, als es zunächst den Anschein hatte: „Rahlstedt muss sich nicht abgehängt fühlen, aber Rahlstedt droht abgehängt zu werden.“ Das geplante neue Gewerbegebiet (Viktoria- und Minervapark), der Wohnungsbau und die S 4 müssten vorangetrieben statt kritisch beäugt zu werden. Zur geforderten Ansiedlung von Technologieunternehmen und Wissenschaftlern und deren Förderung durch die Stadt sagte er allerdings nichts.