Hamburg. Die Hilfsbereitschaft ist ungebrochen. Doch nach einigen Übergriffen macht sich Sorge breit. Es kursieren Gerüchte und Diffamierungen.

Schmucke Backsteinvillen, gepflegte Vorgärten, alter Baumbestand und in der Mitte der Ohlstedter Platz – bis Anfang August eine große Wiese. Jetzt steht hier eine zentrale Erstaufnahme für rund 350 Flüchtlinge: 44 grüne Zelte, mächtige Heizungsschläuche, die sich über das Gelände schlängeln, ein paar Container und ein Unterstand für das Wachpersonal.

Lange galt das wohlhabende Ohlstedt im Norden Hamburgs als Paradebeispiel für eine vorbildliche Willkommenskultur: Das Engagement für die neuen Nachbarn ist nach wie vor groß. Doch mittlerweile ist der Stadtteil gespalten. Seit Wochen kursieren Gerüchte, Verschwörungstheorien und anonyme Anfeindungen. Mittlerweile macht niemand mehr vor niemandem halt. Sogar der Verein Ohlstedt hilft, der für die Camp-Bewohner Deutschunterricht, Kinderbetreuung und Sportkurse ausrichtet, wird diffamiert.

Dabei hatte Ohlstedt gehofft, dass wieder Ruhe einkehrt. Vor allem, nachdem die peinliche Forderung einiger Eltern nach getrennten Toiletten- und Pausenzeiten für Flüchtlings- und Grundschulkinder sogar bundesweit mediale Aufmerksamkeit bekommen hatte. Doch seit den Silvestervorfällen und dem Kuss, den ein 23-Jähriger aus dem Zelt-Camp einer Zehnjährigen auf dem Schulhof des Gymnasiums gab, ist die Stimmung endgültig gekippt.

Gegen die Flüchtlinge an sich will niemand etwas sagen. Stattdessen sprechen viele von „Lagerkoller“, wenn die Rede auf Schlägereien im Camp oder auf sexuelle Belästigungen kommt, die es auch am U-Bahnhof schon gegeben haben soll. „Müssten so viele Deutsche unter diesen Bedingungen zusammenleben, würden wohl auch einige von ihnen ausflippen“, sagt etwa Apothekerin Ina von Jaworski,

Wer sich unter ihren Kunden umhört, hört gereizte Töne: Direkte Anwohner des Camps beklagen das Dröhnen der Heizungsgeneratoren und den Krach von Müll- und Dixie-Klo-Abfuhr. Und etliche Eltern treibt die Furcht um. „Viele Mädchen dürfen bestimmte Wege nicht mehr benutzen. Das gilt auch für meine 14-jährige Tochter“, sagt eine Kundin. Manche Ohlstedter halten das für Hysterie. „Da hat sich einer daneben benommen. Wäre es kein Ausländer gewesen, hätte kein Hahn danach gekräht“, sagt einer.

Auch Rainer Beers, der am Bahnhof einen Kiosk betreibt, ist in Sorge. Eine Woche vor Silvester hatte ein Camp-Bewohner seine Mitarbeiterin bedrängt und erst von ihr abgelassen, als Kunden in den Laden kamen. „Ich habe Pfefferspray gekauft und werde eine Kamera installieren“, so Beers.

Ilja Wünschirs von der Eisdiele befürchtet ebenfalls, dass seine Mitarbeiterinnen nach der Winterpause belästigt werden. „Wir beschäftigen viele junge Mädchen“, sagt er. Bereits im September hätten sich Schülerinnen am Bahnhof von Flüchtlingen bedrängt gefühlt. Seitdem ist die Hochbahn-Wache täglich präsent. Der Vorfall: Männer sollen Mädchen nachgepfiffen haben. Es habe darüber hinaus aber keine weiteren Vorfälle gegeben, sagt eine Hochbahn-Sprecherin.

Aus der linken Ecke stammt ein Drohbrief, von rechts wohl ein Gerücht

Ein seit Wochen kursierendes Gerücht, im November sei ein Flüchtlingsmädchen im Camp missbraucht worden, wurde von der Polizei nicht bestätigt. Es stamme wohl aus der „rechten Ecke“ und solle die Ausländerfeindlichkeit schüren, wird dort vermutet. Aus der „linken Ecke“ kommt dann wohl ein Drohbrief, den einige Eltern aus der Grundschule erhielten. Nachdem dort Lerngruppen für Flüchtlingskinder eingerichtet worden waren, hatten sie wegen gesundheitlicher Bedenken ihre Separierung gefordert. Das Schreiben beschimpfte sie als „braune Rassisten“ , die sich aus Schule und Elternrat „verpissen“ sollten. Wegen des Bezugs zur Schule ist der Staatsschutz eingeschaltet.

Besorgt: die Gewerbetreibenden Ilja
Wünschirs und Rainer Beers
Besorgt: die Gewerbetreibenden Ilja Wünschirs und Rainer Beers © HA | Roland Magunia

Olaf Wagner, Vater zweier Kinder, von denen eines bereits die Grundschule besucht, findet Drohbriefe und Gerüchte „brandgefährlich“. „Im Stadtteil macht sich eine Spaltung bemerkbar, die nachhaltig sein könnte“, befürchtet er. Auch die Anonymität, aus der heraus radikale Tendenzen verbreitet werden, beunruhigt ihn. „Wir müssen wieder Dialoge führen über das, was uns nicht passt oder Angst macht. Das ist unsere einzige Chance.“ Doch bei Infoabenden oder Elternratssitzungen, die ja eine Plattform für Eltern böten, hätten sich in letzter Zeit nur wenige blicken lassen – obwohl es dort um eben die Themen gehe, die hinter vorgehaltener Hand diskutiert werden. Wagner fordert, die aktuellen Probleme kindgerecht auch im Unterricht zum Gegenstand zu machen. „Ich möchte nicht, dass meine Tochter von anderen Kindern hört, es sei ,eklig’, sich Toiletten mit Flüchtlingen zu teilen.“

Alle Hände voll zu tun also für die Initiative „Zukunft! Ohlstedt“. Ihre erklärte Absicht ist es, sich für ein verträgliches Miteinander von Bürgern und Flüchtlingen einzusetzen. Der Erfolg eines Weihnachtsmarkts, den sie im Dezember mit dem Verein Ohlstedt hilft initiiert hatte, sei jedoch durch den „Schulhof-Kuss“ getrübt worden, sagt Sprecher Thomas Laube.

Nachhaltiger könnten die Verhandlungen sein, die man derzeit mit der Stadt um eine verträgliche Alternativunterbringung für Flüchtlinge im Stadtteil führe. Ein hierfür vorgesehenes Grundstück, das als schützenswerte Fläche bis 2020 von der Stadt eigentlich nicht angetastet werden durfte, hatten die Ohlstedter zunächst nicht hergeben wollen – was wohl auch daran lag, dass es sich bei den Plänen der Stadt um eine Folgeunterkunft mit 400 Wohnungen handelte. Nach einem Treffen im Rathaus ist die Zuversicht jetzt offenbar groß, dass es dort auf eine temporäre Erstaufnahme mit festen Unterkünften in geringerer Zahl hinauslaufen könnte.Dann wären auch die Verschwörungstheorie hinfällig, die sich um dieses Projekt rankt: Einige vermuten, dass die Stadt mit der Zeltunterbringung ihr „soziales Gewissen“ nutzen wollte, um leichter die Zustimmung zur Großunterkunft zu kriegen.

Sogar der Verein „Ohlstedt hilft“wird im Internet angegriffen

„Wir brauchen in Ohlstedt mehr Transparenz“, findet Christian J. Becker, der deshalb Anfang Januar den Ohlstedtblog ins Leben gerufen hat. Auch er vermutet, dass es neben in Ohlstedt einzelne Mitbürger gibt, die gezielt Gerüchte und Halbwahrheiten gegen Flüchtlinge in die Welt setzen.

Im Blog selber werden mittlerweile auch Vorwürfe gegen Ohlstedt hilft laut. Der Verein soll seine Spenden nicht transparent verwalten, heißt es da. Und: Sei eine Feier mit 150 Ehrenamtlichen gar von Spendengeld bezahlt worden? Vorstandsmitglied Britta Freith weist die Anschuldigungen empört von sich. „Ich frage mich, warum es Menschen gibt, die ihre Zeit in dieses negative Engagement stecken, statt proaktiv mitzuhelfen“, sagt sie. Auf der Website versuche der Verein, seine Arbeit und die Ausgaben so transparent wie möglich darzustellen. Wegen der Belastung von etwa 20 Ehrenamtstunden pro Woche könne aber nicht alles umgehend erledigt werden. „Auf Facebook oder gar auf fremden Plattformen, die uns offenbar nicht wohlgesonnen sind, werden wir aber keine Summen veröffentlichen. Wir sind den Menschen als Verein Seriosität schuldig.“