Das Abendblatt hat einen Helden der Rockgeschichte besucht. Und zur Erleichterung erfahren: In seinem Tonstudio geht noch was.
Er ist in etwa so alt wie der Ex-Torwart Sepp Maier oder das Ex-Schätzchen Uschi Glas, wie die Ex-Supremes-Sängerin Diana Ross oder der Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, in einer Altersliga mit dem Star-Wars-Schöpfer George Lucas, der Südtiroler Bergziege Reinhold Messner oder der französischen Chanson-Göttin Françoise Hardy. Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen sieht Achim Reichel nun wirklich nicht nach 71 aus. „Ex“ wäre als Etikett erst recht fehlplatziert, denn Reichel ist „alive and kicking“, nach wie vor und überhaupt.
Gut, die blonden Haare sind jetzt grau, das geht dem profilverwandten Kollegen Sting nicht anders, und der ist noch nicht mal 65. Aber im Vergleich zu den tragischen Lemuren, die seit Jahren in zu eng gewordenen Schlaghosen durch die Einkaufszentren der Republik tingeln und für eine Handvoll Gage ihre morsch gewordenen Oldie-Hits wiederkäuen müssen, tickt Reichel reichlich anders. Das Wort „verbiegen“ kommt in seinem Wortschatz nicht vor, zumindest nicht für den Künstler-Eigenbedarf.
Rein intuitiv würde man Achim Reichel wegen seiner popmusikalischen Vorgeschichte als „Teenie-Tröster von den Rattles“ (Reichel über Reichel) ohne den Hauch eines Zögerns auf dem Hamburger Kiez ansiedeln, oder wenigstens in Kiez-Nähe. Dort ist er groß geworden. Zunächst biologisch, als Sohn eines Schiffs-Stewards in der Gegend um die Bernhard-Nocht-Straße und die Hafenstraße, in Verhältnissen, die derart bescheiden waren, dass das Kinderzimmer noch nicht mal ein Fenster hatte. Und nach dieser Kinderstube wurde der Kiez für Reichel, das ist Teil der deutschen Nachkriegs-Musikgeschichte, das musikalische Paradies auf Erden: mit Rock’n’Roll, Beat-Musik und Mädchen, die Beat-Musiker mochten, und so ziemlich allem anderen an Aufputschmitteln, die ein junges Jungs-Herz zu der Zeit begehrte. In diesem Biotop aus ruppigen Gitarren-Akkorden und langen Nächten ohne Schlaf wurde Reichel zum Star einer Generation. Seiner Generation.
„Wir waren in den 60er-Jahren einfach nur Rock’n’Roll-verrückt“, erinnert er sich an diese wilde Zeit. „Wir haben auf unsere Gitarren eingeprügelt, als wenn’s die große Erleichterung wäre, und wir fanden es zu schön, um wahr zu sein, dass es dafür auch noch Geld gibt.“ Während er das erzählt, sitzt Achim Reichel sehr tiefenentspannt auf der Couch in seinem Tonstudio. Anders als von vielen jetzt wohl erwartet und wie es eigentlich perfekt zum Kiez-Klischee passen würde, befindet sich das Studio nicht in einem dekorativ heruntergerockten Hinterhof-Schuppen, sondern in einem typischen Wohngebiet.
Das kleine Reich des Musikers ist vollgestopft mit einem Mischpult und den üblichen Bergen von technischem und diversem Erinnerungs-Kram. An der Wand hängt eine Gitarre. In der kleinen Küchenzeile parken Verstärkerchen auf dem Tresen. Im Regal steht ein Foto mit einem auch schon nicht mehr ganz jungen Herrn aus Liverpool, der einem bekannt vorkommt: Vorname Paul, Nachname McCartney. Das Bild steht da so dezent, als sei es nichts Besonderes, mit einem der Beatles auf einem Foto zu sein, als sei es der Kumpel aus dem Konfirmandenunterricht. Etwas weiter oben auf dem Küchenschrank verstaubt eine Tasche mit „Star-Club“-Aufdruck. Zu unserer Begrüßung tapst jetzt auch noch Junek ins Bild, der Golden Boxer der Familie Reichel – nicht gerade klein, aber ganz umgänglich. Benannt ist er nach den Großeltern mütterlicherseits, die aus Prag kamen. Eigentlich alles ziemlich gemütlich hier.
Wir sind in Hummelsbüttel. Richtig: Alstertal, Stadtrand, viel Grün, eher wenig los, der Ohlsdorfer Friedhof ist nicht weit weg und ebenso das Alstertal-Einkaufszentrum, kurz AEZ. Man ist hier weit entfernt von so ziemlich allem, was an Millionenstadt erinnert, an große weite Welt und an Musikmetropole sowieso. Hier gibt’s draußen noch Kännchen, denkt man sich, „to go“ ist woanders. „Irgendwann möchte man einfach weniger Geräuschpegel“, sagt Achim Reichel zu diesem vermeintlich dramatischen Widerspruch, und er sagt es mit diesem leicht erstaunt-ironischen Unterton in der satt grundierten Achim-Reichel-Bassbariton-Stimme, den er sehr gut drauf hat. Sein Haus, in dem er mit Frau, einer Tochter und deren Freund wohnt, hat ein Reetdach und gehörte einem Reeder. Es liegt etwas versteckt in einer ruhigen Seitenstraße. Wo jetzt das Studio ist, war früher die Schwimmhalle. „Das ist ideal, getrennter Eingang, da kannste die Welt vergessen.“ Der Blick aus dem Tonstudio-Fenster geht ins eigene Grüne und bezeichnenderweise auf eine Hängematte. Am Ende des Geländes fließt die Susebek, die bei Hoch-wasser beileibe nicht so harmlos bleibt in Richtung Alster. Mit einem Satz: Hier kann man es aushalten.
Und das lässt sich nach kurzer Eingewöhnung im Großen und Ganzen auch über Hummelsbüttel sagen. Der erste Eindruck ist: Ach ja, doch ganz nett, sieh mal einer an. Der zweite Eindruck: Ach was, ist ja ganz schön viel Gegend hier. Der Name Hummelsbüttel mag eher klein und rustikal klingen, ein wenig nach Jägerzaun riechen und nach Randlage. Aber wenn man mal da ist oder auch nur zur Orientierung auf die Karte schaut, wird klar, wie flächig dieser Stadtteil ist. Die Alster als natürliche Südgrenze, weiter im Norden viel Grün. Mittendrin ein unaufdringlicher Mix aus Wohnstraßen und Gewerbe. Man müsste also nicht unbedingt ständig Richtung Stadtmitte fahren, um sich wohlzufühlen.
Der Hockeyclub UHC hat seine Plätze nicht auf der Uhlenhorst, sondern hier
Hummelsbüttel bildet mit Poppenbüttel, Fuhlsbüttel, Sasel und Wellingsbüttel die Schicksalsgemeinschaft Alstertal. Der Stammbaum ist beachtlich lang. „Humersbotle“ taucht 1319 zum ersten Mal in einem Schriftstück auf. Nach etwa zwei Jahrhunderten im Eigentumsbestand des Harvestehuder Klosters fiel das Dorf 1528 an die Grafschaft Holstein-Pinneberg und ein gutes Jahrhundert später an Dänemark. Als Schleswig-Holstein 1867 preußisch wurde, wurde Hummelsbüttel in den Kreis Stormarn eingemeindet und 1937 im Rahmen des Groß-Hamburg-Gesetzes schließlich Teil der Hansestadt. Damals soll der ruhige Fleck auf der Landkarte ein Dörfchen mit gerade mal 1900 Einwohnern gewesen sein, die frische Milch gab es direkt aus der Kuh in den Eimer.
Solche Detailinformationen übers Gestern und Vorgestern kann der Heimatverein Hummelsbüttel liefern, seit mittlerweile mehr als einem halben Jahrhundert schon. Dass der „UHC“, in der deutschen Hockey-Welt berühmt, seine Sportplätze nicht auf der Uhlenhorst, sondern in Hummelsbüttel hat, ist eine nette Fußnote im Lebenslauf des Stadtteils und hat damit zu tun, dass die vorherigen Ballsport-Nutzflächen in Steilshoop keine dauerhafte Bleibe sein konnten und der Verein deshalb 1923 ins Alstertal umzog, direkt an den Alsterwanderweg und die Straße Wesselblek.
Im Café Luise gibt’s erstmal Kaffee, Rhabarberschorle und Zimtschnecke
Das Dörfliche an Hummelsbüttel ist längst vor allem eine Frage der inneren Einstellung, denn allzu viel Bausubstanz erinnert nicht mehr an diese Vorgeschichte. Achim Reichel ist hier jeden Morgen mit dem Fahrrad unterwegs. „Meine beschaulichen Runden drehen“, wie er es nennt. Richtung Norden geht es dann hoch bis zum Hummelsee oder zum Müllberg, der hier liebevoll „Monte Müll“ heißt. Bevor jetzt jemand Höhenangst bekommt: Mit seinen 76 Metern ist der Müllberg nicht mal Mittelgebirge, sondern eher ein ehrgeiziges Hügelchen. Dennoch besitzt er Rodelpotenzial, falls mal Schnee fallen und auch noch liegen bleiben sollte. Seine Entstehung verdankt er, wie der Name schon ahnen lässt, keineswegs einer Laune der Natur vor Millionen Jahren, sondern viel profaner: Hier landete das Erdreich, das beim Bau der City Nord in den 60er-Jahren irgendwohin musste.
„Den Kopf durchpusten und etwas gegen das Gefühl der Jahreszahl im Personalausweis tun klappt in dieser Landschaft bestens“, findet Reichel. Dabei helfen aber auch die regelmäßigen Besuche in einem Fitness-Studio in der Nachbarschaft. Und eine andere Lieblingstour, die ihn kreuz und quer über den Ohlsdorfer Friedhof führt. „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich mal gern über den Friedhof radele, weil es da so eine einzigartige Atmosphäre hat.“
Reichel und Hummelsbüttel, das ist – genau genommen – eine tierische Geschichte. Eigentlich hatte er ja vorher schon geglaubt, seine Bleibe für die Ewigkeit gefunden zu haben – in Großensee vor den Toren Hamburgs. Altes Haus, viel Ruhe, alles prima. Bis er eines Tages beim Anblick seiner Haustür sehr sonderbare Löcher entdeckte: schöne Grüße vom Holzbock. Das ganze Haus war voll mit dem Ärgermacher. Es folgte ein jahrelanger Prozess, bei dem Reichel Recht und schließlich sein Geld bekam. Erst danach kam er irgendwann auf Hummelsbüttel und wurde zum Fan. „Es ist nämlich einfach unglaublich, was man hier alles entdecken kann!“, staunt er auch heute noch.
Zum Beispiel die 60 Hektar des 9,1 Quadratkilometer umfassenden Stadtteils, die heute Naturschutzgebiet sind. Es gibt da das Ohlkuhlenmoor, das Hüsermoor und das Raakmoor. Im Osten grenzt die Siedlung Tegelsbarg mit ihren Wohnblocks gen Poppenbüttel ab, im Südwesten stehen die Lentersweg-Wohntürme. Das Herz von Hummelsbüttel schlägt weder rechts noch links, sondern im Süden, rund um den Hummelsbütteler Markt, der mittwochs zum festen Bestandteil auch von Reichels Kalender gehört. Und wer es sich leisten konnte, hat sich beizeiten eine der gediegenen Villen an der Alten Landstraße gesichert. Die Sozialstruktur ist vielschichtiger, als man denkt. Bestensverdiener wohnen ebenso in Hummelsbüttel wie Menschen, die von so einem Platz an der Sonne nur träumen können.
Nach unserer Rundfahrt durch den Stadtteil geht es mit vielen Fragen und nach wie vor ohne Stress ins Café Luise am Erdkampsweg – Rhabarberschorle, Zimtschnecke, Kaffee. Genaugenommen ist hier zwar schon Fuhlsbüttel, aber wir wollen da mal nicht so sein. In dieser Ecke Hamburgs sind die Übergänge zwischen den Stadtteilen ohnehin fließend. Wer mit Achim Reichel über Achim Reichel und Musik und den Rest der Welt spricht, dem wird schnell klar, dass er wenig Interesse an Un-Eindeutigkeiten hat. Und wenn man besonders viel Zeit hat, kriegt man die ganz leicht rum mit Fragen nach dem bedenklichen Zustand der Musikindustrie, wie Achim Reichel ihn sieht.
Reichel ist sein eigener Herr, seit langem schon. Eigener Musikverlag, eigener Produzent, eigener Autor, eigenes Studio, „ich bin rundherum autark“. Mit den großen Firmen, die ihm früher das große Geld versprochen hatten, mag er nicht mehr zusammenarbeiten. „Die können einem echt leidtun. Und ich mag nicht in deren Zwänge geraten. Es ist ein Geschenk des Himmels, seinen eigenen Weg gehen zu dürfen. Ich muss wirklich zur Gelassenheit finden – und bin schon ganz schön nah dran. In 50 Jahren habe ich eine Menge vom Stapel gelassen, das hat eine Menge angeschoben, manches früher, anderes später. So, und der kleine Fuzzi von St. Pauli hat jetzt überhaupt nicht das Gefühl: Wenn ich damals dies oder jenes anders gemacht hätte, wäre ich jetzt da oder dort. Nee“, sagt Reichel zwischen zwei Bissen Zimtschnecke, „da wo ich bin, ist es super. Das ist einfach so. Ich bin nicht überbeansprucht, und da pass’ ich auch auf, dass das nicht geschieht.“
Zeit für einen Rückblick im Schnelldurchlauf. Achim Reichel war Frontmann bei den Rattles und bekam seine Karriere 1967 durch ein eher unfreiwilliges Gastspiel bei der Bundeswehr auf Eis gelegt. Danach ging es abwechslungsreich weiter. Die Idee, Ende der 60er-Jahre den Star-Club zu pachten, war im Prinzip prima, hätten sich damals nicht die Diskotheken daran gemacht, mit Musik von der Platte den Live-Clubs das Publikum abspenstig zu machen.
Reichel erfand sich also wieder neu. Er war damals – neben Les Humphries – auch Mitglied bei Wonderland, einer von James Last produzierten Band, die mit „Moscow“ einen großen Hit ablieferte. Später produzierte er erlesene Kiffer-Musik mit dem Soloprojekt A. R. & Machines. Dann kam die nächste für ihn logische, geradlinige Kehrtwende: Shanty (Jahrzehnte vor den Schunkel-Freibeutern von Santiano), Gedicht-Vertonungen, Volkslied-Bearbeitungen, eigene Texte und eine Menge Hits, die seit Jahrzehnten zum Kanon deutschsprachiger Rockmusik gehören. „Da steht jedes Album für sich, und vieles hat sich als zeitlos herausgestellt“, summiert Reichel die vielen Aspekte. „Aloha Heja He“ kennt jeder, den „Spieler“ ebenso. Für Reichel überhaupt kein Grund, zufrieden in den Rückspiegel zu blicken und den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Nach dem Song ist für ihn immer vor dem Song. „Ich möchte nicht nur als ein Gestriger transportiert werden“, stellt er klar. „Ich war oft meiner Zeit voraus, und die Anerkennung dafür kam dann hinterhergetrödelt. Wenn’s um eine Lebensleistung gehen soll, gehört da mehr dazu als nur ein paar Hit-Singles.“
Da wir schon beim Grundsätzlichen sind, bringt Reichel gleich noch einen weiteren seiner Lebensgrundsätze in die Debatte ein. Der ist zwar nicht von ihm, könnte aber: „Man soll den Menschen nicht daran messen, was er erreicht hat, sondern an dem, was er versucht hat.“ Vielen Dank für die Steilvorlage. Was hat der Mensch Achim Reichel versucht? „Der ist nicht monothematisch geblieben. Dem kam die englische Sprache irgendwann vor wie Urkundenfälschung, und dann hat er sich daran versucht, rockmusikalische Auffassungen mit Eigenkultur zu verbinden. Und das Tolle ist: Es gibt auch noch ein Publikum dafür! Die das verstehen! Und schätzen!“
Reichel und das Radio? Auch so ein Thema für sich. Dass der Saarländische Rundfunk damals das Gitarrensolo aus dem mehr als fünf Minuten langen „Spieler“-Song herausschnitt, um den Titel auf Format zu stutzen, regt ihn, verständlicherweise, heute noch auf. „Früher durften Rundfunkredakteure noch spielen, was sie mochten. Heute nicht mehr. Für mich ist das alles zu durchtrieben. Es geht nicht mehr um Kultur, es geht nur noch um Knete.“
Neulich hatte Reichel einen Auftritt in Bielefeld. Dort traf er nach sehr langer Zeit seinen alten Bass-Mann aus Rattles-Zeiten. Der war nach dem Konzert ganz baff, wie sehr sich das jetzige Repertoire vom klassischen Sortiment unterschied. Seine eigenen Platten hört er übrigens nicht, sagt Reichel. Warum auch. Was man im Kopf hat, muss man ja nicht auch noch in den Ohren haben. „Höchstens, wenn ich wieder auf Tournee gehe und mir überlegen muss, welche Nummern ich spielen soll. Ich kopiere die dann für die Musiker, dann können die schon mal üben.“ Im Grunde genommen, da ist Reichel aus Erfahrung ganz pragmatisch, würde schon ein Hit pro Jahrzehnt genügen. „Es hat zwar welche gegeben, da hatte ich auch zwei oder drei, dafür in anderen aber gar keinen. Ganz oben ist die Luft eben ganz dünn. Außerdem wollen dann einfach zu viele etwas von einem, und wenn man Pech hat, liest man Dinge über sich, die man nie erlebt hat.“
Achim Reichel, der Held der wirklich wilden Jahre, und die Musikstadt Hamburg, wie sie sich jetzt gibt und versteht? Die nächste dankbare Vorlage. Würden wir nicht sitzen, nähme Reichel wahrscheinlich Anlauf für die lange und deutliche Antwort: „Hamburg ist das Beste, was mir passieren konnte, um in den 60ern mit meiner Karriere anzufangen. Da war das Pressestadt, die Stadt der Plattenfirmen, Hafenstadt, in der es weltoffener zuging als anderswo. Und, na ja, es gab den Star-Club, das Top Ten, das Indra und den Kaiserkeller.“ Erster kleiner Zwischenstopp zum argumentativen Nachlegen.
„Später war ich ja auch einer der letzten Pächter vom Star-Club und habe da erlebt, wie Hamburg behördlicherseits mit so einer Instanz umging. Das gab einem damals eher das Gefühl, man sei mit einem Jugendclub auf der Großen Freiheit unerwünscht. Die Stadtverantwortlichen sind ein büschn spät aufgewacht. Aber Gott sei Dank sind sie’s. Es gibt jetzt das Reeperbahn Festival, es gibt den Musikpreis Hans – auch wenn dahinter oft wieder unternehmerische Interessen stehen. Ist alles in Ordnung, so ist unsere Welt nun mal.“ Kleine Pause, danach geht’s weiter.
„Ich find’s ja auch etwas halbherzig, dass der NDR eine Sendung macht und sie ,Hamburg Sounds‘ nennt. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass unsere Populärkultur nicht auf die Sorte Förderungswillen trifft, der das Unternehmerische mal etwas beiseite lässt ... Ey, das geht um Musik. Da sind Texte drin! Die sagen einem was! Uns hat als 16-Jährige der Rock’n’Roll das Herz aus dem Leib gerissen, obwohl wir kein Wort verstanden haben. Das hatte eine Energie, da wurden alle Fragen hinfällig.“ Noch Fragen?
Zum 70. sollte seine Autobiografie erscheinen, aber er ist noch nicht fertig
Auch beim Thema Alterswerk kann Reichel, weil diese Vokabel so sehr nach Bilanz und Feierabend klingt, nicht behilflich sein. „Mir wird überhaupt erst nach und nach klar, was es bedeutet, unbeschadet so weit gekommen zu sein, ohne dass man sich irgendwelchen Instanzen an den Hals geworfen hat. Es ist ein Lebensgeschenk für mich, dass ich in diesen Job geraten bin und mich darin nicht verloren habe. Obwohl ich doch sehr verschiedenartig unterwegs war. Das ist eine Lebensleistung, mit der ich sehr zufrieden bin.“ Glücklich ist er also ganz offenkundig, wunschlos noch längst nicht. Die vielen rockigen Balladen-Klassiker, die er im Sortiment hat, die würde er sehr gern noch mal mit großem Sinfonieorchester auf die Bühne bringen. „Das bietet sich doch schier an“, findet er, „aus dem Lager der Dichter und Denker ins Zeitgefühl von heute, das wäre doch interessant. Ob’s mir gelingt, weiß ich nicht, aber ich würd’s mir wünschen.“
Ein halbes Jahrhundert im Rampenlicht, da kommt einiges an Erinnerungen und Geschichten zusammen. Deswegen hatte Reichel vor zwei Jahren damit begonnen, seine Autobiografie zu schreiben. Sein „Solo mit Euch“-Album war da schon etwas her, die 100 Erzähl-und-Sing-Konzerte, die er damit gab, waren gespielt. „Okay, 100 Storyteller-Konzerte, schön und gut, aber es ist ja noch gar nicht alles erzählt.“ Warum also kein Buch über das und alles andere? Gute Idee, nicht ganz so gutes Timing. Denn als eine Agentin frohlockte, sie wüsste schon einen Verlag, und sich herausstellte, dass die sein Buch pünktlich zum 70. auf den Markt bringen wollten, war Reichel diese Termindenke zu viel.
Also lieber die Pausentaste drücken und für einige Monate nach Mallorca umziehen, da ist’s auch schön, aber ruhiger. „Und dann gucken wir mal, wonach einem ist. Und dann war mir eher danach, eine neue Platte zu machen. Das ging einfacher. Das flog einem so zu. Ein Song hat drei oder vier Strophen, die müssen auf den Punkt sein. Aber Geschichten erzählen, die lebendig sein müssen, das ist ja nicht meine gewohnte Arbeit. Also eher so ein Selbsterkundungstrip, bei dem ich denke: Das willst du jetzt mal wissen, ob du das hinkriegst.“
Noch lässt sich das nicht abschließend sagen, aber Reichel ist wieder dran am Text. Ob die gedruckte Geschichte seines Lebens schon bald auf den Markt kommt oder erst zum 75. Geburtstag oder sich noch Zeit lässt, das ist ihm eigentlich wurscht. „Aber was nicht egal ist – sie sollte in Ruhe geschrieben werden.“ In Hummelsbüttel, wo der Ruhepuls das Maß vieler Dinge ist, dürfte das kein allzu großes Problem sein.
Magazin „Der Hamburger“
Dieser Beitrag ist auch in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Der Hamburger“ erschienen. Das Heft gibt es für 9,80 Euro an vielen Verkaufstellen in der Stadt.