Rahlstedts kleines Kaufhaus schließt. Geschäftsführerinnen beklagen: Kunden hätten sich zwar gern beraten lassen, aber lieber im Internet bestellt
Rahlstedt. Zum 100. Geburtstag war die Welt noch in Ordnung. Kurt Stegner jedenfalls, damaliger Geschäftsführer des Fachhauses Möller in Rahlstedt, schien durchaus zufrieden, als er sein Grußwort aus Anlass des Firmenjubiläums formulierte: "Weil wir genügsam und zäh waren, konnten wir Könige, Kaiser, etliche Kanzler und einen Diktator, Weltkriege und zwei Inflationen überleben." 1993 war das, da konnte Stegner nicht mal ahnen, dass die größte Gefahr für die Existenz des Kaufhauses erst noch kommen sollte, eine Gefahr namens Internet. Er dachte nicht, dass keine 20 Jahre später alles vorbei sein würde. Aber genau so ist es. Ende Mai gehen an der Rahlstedter Bahnhofstraße die Lichter aus. Der Ausverkauf hat begonnen.
"Das Internet macht den Einzelhandel kaputt", sagt Stegner-Tochter Marina, 56, die das Kaufhaus (20 Mitarbeiter) heute gemeinsam mit ihrer Schwester Sylvia Müsing, 61, in der vierten Generation führt. "Die Umsätze sind seit zehn Jahren leicht rückläufig. Aber seit zwei Jahren ist es richtig schlimm." Wie schlimm? "Steilküste", sagt Marina Stegner und fährt mit ihrer Hand gen Fußboden.
Möller, 1893 von Stegners Urgroßvater Heinrich Möller als Eisenwarenhandlung gegründet, ist eine Rahlstedter Institution: Mittendrin die Terrazzotreppe, vor der sich die Kunden entscheiden müssen: Wollen sie nach oben in die Porzellanabteilung? Oder nach unten zu den Eisenwaren, wo Zigtausende von verschiedenartigen Schrauben noch einzeln verkauft werden? In der Etage dazwischen gibt's Haushaltsgeräte, Spielzeug, Schreibwaren, Bastelbedarf, Dekorationsartikel. Der Boden ist mit hellgrauem Linoleum ausgelegt, auf dem Absätze laut klacken; die Lamellendecke hängt tief.
Die Kunden sind gern hierhergekommen. Nur gekauft haben sie zuletzt nicht mehr so viel. Sie hätten sich ausführlich beraten lassen, hätten anschließend freundlich gedankt und seien wieder gegangen. Marina Stegner: "Und mancher hat doch tatsächlich noch im Laden mit seinem Smartphone online bestellt, was wir ihm empfohlen haben." Sie schüttelt entrüstet den Kopf. Nein, fair ist das nicht.
"Das ist grob ungehörig", sagt Wolfgang Linnekogel, Erster Geschäftsführer der Fachverbände des Hamburger Einzelhandels. Er kennt dieses Problem, spricht von "Beratungsklau". "Die Kunden lassen sich im Fachgeschäft informieren und kaufen dann anderswo. Das Internet scheint ihnen da eine billige Alternative zu sein." Tatsache ist: Die im Internet getätigten Umsätze steigen rasant, und daran wird sich nach Linnekogels Einschätzung in den kommenden Jahren auch nichts ändern. Zahlen des Bundesverbands zufolge - der Hamburger Verband erhebt keine eigenen - fließt bereits fast jeder 16. Euro in virtuelle Läden. Im Jahr 2011 waren es bundesweit 26,1 Milliarden Euro bei einem Gesamtumsatz des Handels von gut 414 Milliarden Euro (10,8 Milliarden in Hamburg). Für kleine und mittelständische Einzelhändler ist das Internet die zweite große Bedrohung, seit sich große Fachmärkte etabliert haben - Geschäfte, gegen deren gigantische Verkaufsflächen die einst riesengroß wirkenden 2000 Quadratmeter des Fachhauses Möller heute eher klein anmuten. In welchem Maße Fachmärkte die Geschäftswelt verändert haben, kann Wolfgang Linnekogel am ehesten an den Mitgliederzahlen des Verbands ablesen: "1979 hatten wir 2546 Fachgeschäfte, aktuell sind es noch 224."
Umso wichtiger sei es, dass die Einzelhändler versuchten, auf den Online-Zug aufzuspringen. "Sie müssen weiterhin herausragende Beratung bieten, sie müssen aber auch versuchen, sich über eigene Internet-Shops neue, zusätzliche Vertriebswege aufzubauen", sagt Linnekogel. Es gebe schon gute Beispiele, etwa das des Hamburger Schuhhauses Görtz. Linnekogel: "Aber bei dessen Betriebsgröße ist das auch leichter, bei einer Betriebsgröße Fachhaus Möller geht es vielleicht nicht so gut."
Unterdessen ist in Fachkreisen diskutiert worden, ob dem Handel eine Beratungsgebühr helfen könnte, die beim Kauf angerechnet wird. "Diese Idee ist sehr interessant", sagt Wolfgang Linnekogel, "aber sie wird in der Praxis einfach nicht funktionieren." Zu groß sei der Konkurrenzdruck. Wenn ein Händler eine Gebühr erhöbe, würde es der nächste in der Nachbarschaft nicht tun, weil er sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil verspreche.
Für die Schwestern Marina Stegner und Sylvia Müsing sind solche Überlegungen nicht mehr von Bedeutung. Sie haben die Kaufhaus-Immobilie, das seit den frühen 70er-Jahren hinter einer schwarzen Plattenfassade versteckte Haus aus der vorvergangenen Jahrhundertwende, verkauft, ein kleineres Gebäude links daneben ebenso. Der Architekt Heinrich Meier aus Farmsen-Berne hat im Auftrag eines Investors bereits Pläne für einen viergeschossigen Neubau mit Geschäften, Büros und Wohnungen in der Schublade liegen.
Vor 19 Jahren, als die Welt noch in Ordnung war, schloss Kurt Stegner sein Jubiläumsgrußwort mit diesen Worten: "Wir sind gespannt, was uns in den nächsten 100 Jahren noch alles blüht, und führen unser Geschäft weiter." Eine leider zu vollmundige Ankündigung.