Hamburg. Der 21-Jährige hat eine Muskelschwäche, sitzt im Rollstuhl und spricht über einen Computer. Am 5. September liest er eine Hauptrolle.

Von Andreas Wrede

Etwas nachdenklich sitze ich in Eppendorf draußen in einem Café und warte auf Oscar Whyman. Der junge Mann kommuniziert mit einem Talker, einer komplexen elektronischen Verständigungshilfe. Denn Oscar Whyman hat keine Stimme. Wegen einer Muskelschwäche muss er beatmet werden. So hat er einen Luftröhrenschnitt und kann deswegen nicht sprechen. Das hält den 21-Jährigen nicht davon ab, sehr aktiv zu sein. Mobil ist er durch seinen elektrischen Rollstuhl.

Warum diese Nachdenklichkeit? Nun, ich habe ein schlechtes Gewissen – das Café ist näher an meinem Zuhause als an seinem, und ich bin verunsichert, well es nicht gerade barrierefrei gelegen ist.

Blitzschnell fliegen die Finger über die Tastatur des Talkers

Plötzlich ist Oscar Whyman dann da, angerauscht in seinem elektrischen Rollstuhl. Wir begrüßen uns mit Handschlag. Es war kein Problem für ihn, hierhin zu kommen. „Alles okay, schön, dass wir uns kennenlernen“, sagt er und ich bin erleichtert. Blitzschnell fliegen seine Finger über die Tastatur des Talkers, der wie eine Art Laptop aussieht und eine Sprachausgabe hat. „Damit habe ich auch Anschluss ans Internet.“ Und wie inzwischen die meisten Menschen hat Oscar natürlich auch ein Smartphone. Ungewohnt ist zu Beginn, dass Oscar auf Fragen nicht sofort antworten kann, sondern die Antwort eintippen muss.

Für ein Gespräch braucht man etwas Geduld

Sein Gegenüber muss sich in Geduld üben, während Oscar schreibt. Aber eigentlich ist das in der Hektik unserer bisweilen hysterischen Zeit sehr angenehm – diese Verlangsamung einer Konversation, die eben nicht in TikTok-Schlagabtausch-Manier geführt wird. Sondern in aller Ruhe, herrlich. Wie sagte doch der große österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer? „Für ein gutes Gespräch sind die Pausen genauso wichtig wie die Worte.“

Oscar liest die Hauptrolle über seinen Talker

Oscar Whymann hat sowohl einen Talker mit Sprachausgabe als auch ein Smartphone.
Oscar Whymann hat sowohl einen Talker mit Sprachausgabe als auch ein Smartphone. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Warum treffe ich Oscar? Er hat am 5. September eine Lesung in der Kulturküche der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Vor Publikum trägt er dann aus dem Kinderbuch „Abie Alba – Der junge Ottokar“ vor. Oscar wird die Hauptrolle sprechen mithilfe seines Talkers. Die Idee dazu hatte die Schauspielerin und Kinderbuchautorin Katrin Bühring. Sie erdenkt die „Abie Alba“-Reihe.

Und sie möchte – gemeinsam mit der Diplom-Sprachheilpädagogin Maike Freiberg – durch diese öffentlichen Lesungen in deutschen Städten inklusiv und integrativ wirken. Die Lesemotivation soll dabei spielerisch, unterhaltsam und bildend gefördert werden. Es geht also um das so bedeutsame Thema Sprach- und Leseförderung, „mit Blick auf besondere Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, Migrationshintergrund oder gesellschaftlich benachteiligte Kinder“, sagt Katrin Bühring.

Autorin ist von Oscars Talent inspiriert worden

Als sie auf YouTube ein Video von Oscar gesehen hat, schrieb sie „Abie Alba – Der junge Ottokar“. Inspiration für den Jungen mit Behinderung war Oscar Whyman. „Das fand ich natürlich super,“ sagt Oscar, „denn ich bin 24/7 in Sachen Inklusion unterwegs. Das Thema wird wohl mehr besprochen als es noch vor einigen Jahren in Deutschland der Fall war. Aber noch längst nicht genug!“

Ein ermutigendes Vorbild für Kinder und Jugendliche

Die Lesung in Alsterdorf mit dem Talker ist nicht seine erste. Der lebensfrohe und lebensbejahende Oscar sei „ein ermutigendes Vorbild für Kinder und Jugendliche“, findet Ute Friese, Gründerin und Geschäftsführerin von Aktion Kindertraum. Die gemeinnützige Organisation finanziert die Lesereise, „um die Grenzen zwischen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung durchlässiger zu gestalten“. Aktion Kindertraum unterstützt bundesweit seit 25 Jahren u. a. schwerkranke und todkranke Kinder und deren Familien.

Oscar ist auch Mitglied der Hamburger Schülerkammer

Das Thema Inklusion setzt Oscar immer wieder in der Hamburger Schülerkammer, deren Mitgleid er ist, auf die Tagesordnung. Zweimal im Monat tagt das Gremium, außer in den Ferien. „Das frisst schon viel Zeit.“ So empfindet Oscar seinen aktiven Einsatz. Das passt aber auch zu ihm, er will etwas bewirken, zum Nachdenken anregen, verändern. Gemeinsam mit seinem Freund.

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Und Oscar weiß, wovon er spricht: „Früher bin ich auf eine sogenannte Sonderschule gegangen.“ Der Name sagte schon aus, dass die Kinder hier eine Art „Sonderbehandlung“ erfuhren. „Dabei muss es doch darum gehen, dass junge Menschen mit Behinderungen genauso respektvoll und gleich behandelt werden wie Kinder ohne Behinderung“, unterstreicht Oscar. Dazu zählt gleichfalls das Thema Barrierefreiheit – immer noch können viele Menschen mit Behinderung in Deutschland nicht immer selbstständig dorthin gelangen, wo sie hinwollen, sei es ins Restaurant, in einen Shop oder auf ein Konzert.

Apropos Konzert: Oscar ist ein Riesen-HipHop-Fan, mit Freunden rappt er regelmäßig, schreibt selbst Texte und ist Teil eines Rap-Kurses im Esche Jugendkunsthaus in Altona. Seine Lieblings-Rapper sind Takt32 und Vega. Seine andere Leidenschaft gilt dem Rollstuhl-Hockey, das er immer sonnabends spielt. Da wird es schon mal ruppig, aber es bleibt immer fair,.

Die Lesung wird ein Erlebnis mit Musik und Geräuschen werden

Oscar Whyman, der im kommenden Jahr sein Fachabitur absolvieren wird und bei seinen Eltern in Niendorf wohnt, freut sich schon auf die Lesung in Alsterdorf. „Natürlich haben wir vorher Proben, schließlich muss ich mich mit meinem Talker in die Inszenierung fließend einfügen.“ Die Lesung wird ein Erlebnis werden, mit Geräuschen, Musik und jeder Menge Spannung. Bildung, Chancengleichheit und kulturelle Teilhabe können auf unterhaltsame Art und Weise vermittelt werden, ohne erhobenen Zeigefinger.

Nach der Lesung steht Oscar in einer Fragerunden dem hoffentlich zahlreichen Publikum Rede und Antwort. Und wer mag, kann sich selbst an einem Talker ausprobieren, um zu erfahren, dass eine Stimme nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist.

Oscar Whymans liest aus aus dem Kinderbuch „Abie Alba – Der junge Ottokar“ am 5. September um 16 Uhr in der Kulturküche der Ev. Stiftung Alsterdorf, Alsterdorfer Markt 18. Der Eintritt ist frei.