Am Hamburger Konservatorium können Musiker mit Behinderung ein inklusives Orientierungsjahr machen – der Abendblatt-Verein unterstützt.

Mit Tonleitern, die er auf und ab singt, stimmt Ersin Gülcan (28) sich ein. Er steht mitten im Raum, um ihn herum sitzen der Schlagzeuger, Bassist, Pianist, Saxofonist und die beiden Gitarrenspieler. Einer davon, Gencay Özata (19), wippt heftig mit dem Oberkörper vor und zurück, wedelt dabei mit der Hand. In dem Moment jedoch, als Dozent Anselm Simon allen das Zeichen für das erste Lied gibt, ist Gencay Özata ruhig und fokussiert auf seinen Nachbarn Philippe Köller (28).

Jeden Griff, den der Musikstudent ihm vorspielt, übernimmt Gencay Özata zeitgleich. Er ist Autist, kann keine Noten lesen, sich aber Griffe merken, Lieder aus dem Gedächtnis nachspielen – Inselbegabung nennt man dieses Phänomen. Dozent Simon geht zu Ersin Gülcan, stubst ihn sanft an. Das ist das Signal für den Sänger, der blind ist. Ein wunderschönes Jazzlied erklingt, selbst geschrieben von der Band.

Ein besonderes Bandtraining

Es ist eine besondere Bandprobe für alle Beteiligten jeden Dienstag im Hamburger Konservatorium (Kon). Zum einen ist es für die sechs Bachelor-Studenten ein pädagogisches Seminar für inklusives Probetraining und für Gencay Özata und Ersin Gülcan Teil des Unterrichtprogramms – Ensemblearbeit – ihres inklusiven Orientierungsjahrs.

Sie beide sind seit dem Wintersemester die ersten Teilnehmer an dem Kooperationsprojekt des Kons und von Eureca, dem Dachverband zum Thema Kunst und Inklusion. Beim Orientierungsjahr, dem Pre College, können Studieninteressierte ein Jahr lang praktisch ausprobieren, ob ein Musikstudium im Anschluss das Richtige für sie ist.

Keine Einschränkung für die Bewerbung

Das Orientierungsjahr enthält einen Hauptfachunterricht (instrumental oder vokal), Unterricht in Allgemeiner Musiklehre, Musiktheorie und Gehörbildung, Teilnahme an Ensembles und Veranstaltungen, eine individuelle Beratung und die Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für ein Studium am Kon.

Der Verein „Hamburger Abendblatt hilft“ finanziert Gülcan das Stipendium für dieses Orientierungsjahr. „Ohne Spenden können wir diese Ausbildung nicht leisten“, sagt Anselm Simon im Podcast „Von Mensch zu Mensch“. Alle fünf Plätze sind derzeit mit jungen Musikern mit Behinderung belegt – es gibt keine Einschränkungen für die Bewerbung für dieses inklusive Orientierungsjahr.

Ersin Gülcan und Dozent Anselm Simon sprechen dazu im Podcast „Von Mensch Zu Mensch“
Ersin Gülcan und Dozent Anselm Simon sprechen dazu im Podcast „Von Mensch Zu Mensch“ © HA | Unbekannt

Ersin Gülcan hat zuvor verschiedene Ausbildungen, auch eine kaufmännische versucht, aber immer schnell gemerkt, dass das nicht zu ihm passt. „Mein Umfeld hat mir nie zugetraut, in die Musik zu gehen. Ich bin dann in einer Werkstatt gelandet, in der ich den ganzen Tag Wäsche gefaltet habe, ich hätte nie gedacht, dass Unterforderung auch krank machen kann“, erzählt der eloquente junge Mann im Podcast „Von Mensch zu Mensch“.

Früher musste er Gummibärchen sortieren

Er entschied sich für die Musik, und seit Juli letzten Jahres arbeitet er bei Bahner 16, einem inklusiven Künstlerkollektiv der Ev. Stiftung Alsterdorf als Musiker und hörte dort von dem neuen Kon-Projekt. „Mir wurde bei Bahner 16 gesagt, dass ich talentiert bin, aber noch mehr gesangliche Ausbildung benötige“, sagt Gülcan.

Für Gencay Özata, der nicht spricht, berichtet seine Pflegemutter Marlies Böggemann, wie sehr er sich durch dieses Bandtraining bereits entwickelt hat. „Er wird hier respektiert, die anderen Jungs gehen gut mit ihm um, unterstützen ihn.“ Auch er wurde zuvor in einer Berufsvorbereitungsklasse stark unterfordert. „Er musste da Gummibärchen sortieren, das fand ich ganz schrecklich. Er war in dieser Zeit ganz schlecht drauf“, berichtet seine Pflegemutter. Sie spielt selbst Gitarre und hat früh das Interesse ihres Pflegesohns an dem Instrument gesehen – und gefördert. Auch wenn es lange dauerte, bis sie einen geeigneten Gitarrenlehrer fand.

Der Umgang fordert etwas Kreativität

Gerade gibt Philippe Köhler Gencay Özata ein Zeichen, dass er nun ein Solo spielen soll. Das ist ungewohnt für den 19-Jährigen, weil er bisher vor allem klassische und Poplieder gespielt hat, aber die Akkorde, die er spielt, sind wunderschön harmonisch. Mit seinem Arm, den er nach oben wirft, signalisiert er, dass er fertig ist. Dann ist der Nächste mit seinem Solo dran. Als Köller an der Reihe ist, will Gencay Özata ihm mit der Gitarre folgen. Köller hebt nur kurz die Hand, das vereinbarte Signal, dass Özata nicht spielen soll. „Wir haben das gemeinsam eingeübt. Ich achte ein wenig auf ihn, gebe den anderen auch ein Zeichen, wenn er nicht weiter Solo spielen will. Es fordert ein wenig Kreativität im Umgang, um mit Ersin und Gencay zu spielen, aber wir fordern sie musikalisch genauso wie alle anderen. Und das hier ist ziemlich anspruchsvoll“, sagt der junge Musiker, der seit 2020 an der Kon seinen Bachelor macht.

„Ziel ist es, dass die Studierenden hier auch lernen, Menschen mit Behinderung musikalisch zu unterrichten, denn das ist durchaus herausfordernd, erfordert Rücksicht und manchmal ein Umdenken“, sagt Simon, der viel Unterstützung von den Studierenden erfährt. Zunicken und Zeichen geben funktioniert für Gülcan nicht, er benötigt dafür einen Körperkontakt. „Wir haben für ihn zum Beispiel 3D-Modelle gebaut zum Kennenlernen von Noten und Quintenzirkel – damit er sie ertasten und damit besser begreifen kann“, erzählt Anselm Simon.

Enormer Selbstbewusstseinsschub

Mit Özata können sie wiederum nicht gut mit Sprache kommunizieren, deswegen geben die Bandmitglieder Zeichen. Für Ersin Gülcan haben bereits die wenigen Monate schon einen enormen Selbstbewusstseinsschub bewirkt. Bei einem Konzert, das die Studierenden immer selber organisieren müssen, hat er die Moderation übernommen. „Das machen alle anderen nicht so gern“, sagt Simon. Mit etwas Assistenz wurde er dann immer zum Mikro geführt „und haute dann seine Sprüche raus“. Vor seinem Orientierungsjahr „hätte ich mir das niemals zugetraut“, sagt Gülcan.

Er empfindet dieses Jahr als heilsam für seine Psyche. „Ich war von den Studierenden sehr positiv überrascht. Ich bekomme von ihnen viel Anerkennung und habe ganz neue Kontakte.“ Genauso empfindet das auch Gitarrist Philippe Köller: „Ich finde es spannend zu sehen, wie Ersin und Cencay sich hier musikalisch entwickeln. Und ich erlebe hier einfach zwei neue Kollegen mit ganz viel Potenzial.“

Der ganze Podcast unter: https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/

Infos zum inklusiven Orientierungsjahr: Julia Quast, E-Mail: akademie@hhkon.de, Tel. 87 08 77 20, www.hamburger-konservatorium.de/studieren/studiengaenge/orientierungsjahr/