Hamburg. Wellengang Hamburg bietet Kindern psychisch kranker Eltern Gruppen an, in denen sie offen über ihre Gefühle reden können.

Tills Mutter ist manchmal sehr traurig und zurückgezogen. Für den Neunjährigen und seine zwei jüngeren Brüder ist das schwer zu begreifen. „Meine Eltern haben mit mir darüber gesprochen, dass Mama krank ist“, erzählt er im NDR-Kinderpodcast Mikado. Auch Studiogast Clara hat einen Vater, der unter Depressionen leidet und inzwischen aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist.

Die Siebenjährige weiß, dass es „nicht seine Schuld“ ist. Offen berichten die beiden Kinder in dem Podcast unter dem Thema „Wenn die Seele wehtut“ über ihre Familiensituation. Sie sind beide Teilnehmer der Gruppe „La Ola“ des Angebots wellengang hamburg, das sich seit zehn Jahren speziell an Kinder und Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern in Hamburg richtet. Das spendenfinanzierte Projekt gehört zum Angebot der Aladin gGmbH, einem gemeinnütziger Träger der Hamburger Kinder- und Jugendhilfe in Wandsbek.

Es gibt zwei Gruppen pro Jahr für Kinder ab sieben und Jugendichen ab zwölf

Pro Jahr gibt es zwei „La Ola“ (Die Welle) -Gruppen. Sie werden in unterschiedliche Altersgruppen aufgeteilt – es gibt eine für Sieben- bis Elfjährige und eine für zwölf- bis 16-Jährige. Nach einem Vorgespräch mit Eltern und Kind treffen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit anderen betroffenen Kindern. In den wöchentlichen Gesprächsrunden reden einige der Kinder und Jugendlichen oft zum ersten Mal über ihre schwierige Familienkonstellation.

„Manchmal sind viele Schritte notwendig, bis ein Kind bei uns ankommt“, sagt Jonas Popp, der fachliche Leiter von wellengang hamburg. Dazu müssten die Eltern erst einmal erkennen, dass sie ein Problem haben, erkrankt sind und ihr Kind Unterstützung benötigt. Am häufigsten seien Depressionserkrankungen und Angststörungen bei einem der Elternteile vorhanden, es sind manchmal beide betroffen. „Das Thema ist bei den Eltern sehr scham- und schuldbehaftet“, sagt Heilpädagogin Annika Smolka, die gemeinsam mit einer Psychologin die Gruppen leitet.

Jedes vierte Kind in Deutschland hat ein Elternteil, das psychisch krank ist

Es würden sich auch Lehrer oder Fachkräfte von der Jugendhilfe bei ihnen melden, wenn sie bemerken, dass die Kinder sehr belastet sind. „Dann setzen wir die Kinder schon mal auf die Warteliste und hoffen, dass die Eltern sich dazu entscheiden, ihr Kind bei uns anzumelden“, so Smolka.

Jonas Popp ist der fachliche Leiter des Angebots wellengang Hamburg, und Heilpädagogin Annika Smolka leitet die Gruppen der Kinder psychisch kranker Eltern an.
Jonas Popp ist der fachliche Leiter des Angebots wellengang Hamburg, und Heilpädagogin Annika Smolka leitet die Gruppen der Kinder psychisch kranker Eltern an. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Der Bedarf an solchen Gruppen ist groß, denn laut „Aufklaren“, dem Hamburger Netzwerk für Kinder psychisch erkrankter Eltern, leben mehr als drei Millionen Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammen – jedes vierte Kind in Deutschland ist betroffen. Allein in Hamburg wachsen circa 77.000 Kinder im Schatten der elterlichen Erkrankung auf. Sie müssen die Auswirkungen einer Depression, Psychose oder Persönlichkeitsstörung ihrer – unter Umständen einzigen – Bezugsperson miterleben.

Die Kinder sind oft auffällig unauffällig in der Kita und Schule

„Diese Kinder sind oft auffällig unauffällig“, sagt Jonas Popp. Er berichtet von Kindern, die schon im jungen Alter Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen, Brote für die Schule schmieren, sich selbst mit Essen versorgen. „Um zu überleben“, sagt der 46-Jährige. Sie würden zu Co-Partnern ihrer Mutter oder des Vaters. Das gehe manchmal so weit, dass sie den erkrankten Elternteil an die Einnahme seiner Tabletten erinnern.

Die Kinder möchten ihre Eltern nicht belasten, auch wenn sie traurig sind

Diese Kinder hätten oftmals verlernt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern. „Und wenn sie traurig oder wütend sind, möchten sie ihre Eltern damit nicht belasten. Ein Kind sagte mir, es sei ihm gar nicht wichtig, dass es ihm selbst gut gehe, es wolle nur, dass die Mutter wieder lacht“ erzählt Smolka. Oftmals hätten sie niemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Denn sie selber schämen sich dafür, dass sich ihr Vater oder ihre Mutter anders als die Eltern ihrer Freunde verhielten. So berichtet auch Till in der NDR-Podcast-Folge, dass er keinem von der Erkrankung seiner Mutter erzählt habe, weil „das doch mein Zuhause ist, das ist privat“. Und auch Clara sagt, dass es ihrem Vater sicher nicht recht sei, wenn andere davon erfahren würden, dass er immer so traurig sei.

Bild eines Kindes aus einer La-Ola-Gruppe. Es wird deutlich, was das Kind in seiner Seele bewegt.
Bild eines Kindes aus einer La-Ola-Gruppe. Es wird deutlich, was das Kind in seiner Seele bewegt. © Annika Smolka | Annika Smolka

Die Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen können laut dem Netzwerk Aufklaren schwerwiegend sein: Störung der Beziehungs- und Bindungsentwicklung, Überforderung, Scham- und Schuldgefühle sowie ein erhöhtes Risiko, Opfer von Misshandlung zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine psychische Erkrankung entwickeln, ist um ein Drei- bis Vierfaches höher.

Die Gruppengespräche sollen vorbeugend wirken

Dem möchte wellengang mit seinen Gruppen vorbeugen. Es sieht sich als Präventionsangebot für diese Kinder und Jugendlichen. So geht es in den Gruppengesprächen zunächst darum, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, wieder ihre Gefühle zu äußern. Das geschieht zum Beispiel anhand von Smileys für die Jüngeren und Gefühle-Karten für die Jugendlichen.. Mit einem Ausflug, Gruppenspielen und dem Bewusstsein, dass alle ein gemeinsames Thema verbindet, sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Gemeinschaftserlebenis erfahren und sich geborgen fühlen.

Wichtigste Botschaft: Du bist nicht schuld an der Erkrankung deiner Mutter oder des Vaters

Die Gruppenleiter erklären altersgerecht, was eine psychische Erkrankung bedeutet. Eines der wichtigsten Botschaften dabei ist: „Du bist nicht schuld daran.“ „Manche Kinder glauben, dass sie durch Streitereien oder schlechtes Verhalten, die Krankheit bei ihren Eltern ausgelöst hätten“, erklärt Jonas Popp. Oft seien gerade die Jugendlichen selbst schon betroffen, zeigten Symptome einer Depression, weil sie schon länger als die Jüngeren mit der belasteten Familiensituation leben müssen.

Mehr zum Thema

Es geht in den Treffen auch darum, die Stärken und Ressourcen der Teilnehmer zu stärken. Sie machen sich Gedanken darüber, was in der Familie auch gut läuft und was sie selber besonders gut können. „Sie haben oft kein Bewusstsein dafür, was sie können. Dabei helfen die anderen Kinder oft mit und sagen zum Beispiel, du kannst doch gut springen oder laufen“, erzählt Annika Smolka. Sie entwickeln Ideen dafür, was ihnen guttut und wie sie sich dann auch von den Eltern abgrenzen können. So geht Till, wenn er Ruhe braucht, in sein Zimmer und macht ein Hörspiel an. Clara macht Hausaufgaben oder malt ein Bild. Die Kinder und Jugendlichen lernen, wieder ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern.

KInderbild aus einer La-Ola-Gruppe. Es geht darum, die eigenen Gefühle aufzuschreiben und zu zeichnen.
KInderbild aus einer La-Ola-Gruppe. Es geht darum, die eigenen Gefühle aufzuschreiben und zu zeichnen. © Annika Smolka | Annika Smolka

Notfallpläne mit Adressen und Anlaufstellen werden aufgeschrieben

Und es werden Notfallpläne mit Adressen und Anlaufstellen entwickelt für die Tage, an denen es Mutter oder Vater besonders schlecht geht. Wer hilft, wenn Mama ausfällt? Wo kann ich hingehen, wenn zu Hause die Stimmung mies ist? Gibt es Freunde? So ein Notfallplan kann Halt und Sicherheit geben.

Wichtig für die Teilnehmer: Sie sind nicht alleine mit ihrem Problem

Am wichtigsten sei für die meisten der Kinder und Jugendlichen jedoch die Erfahrung durch die Gruppe, dass sie nicht alleine mit ihrem Problem seien, sagt Smolka. Das würde für große Erleichterung sorgen und oftmals auch einen Diskurs in der Familien anregen. Für Gruppenleiterin Annika Smolka ist ein Ziel erreicht, „wenn das Kind oder der Jugendliche an Selbstwert und Stabilität gewonnen und sich von uns Erwachsenen gesehen gefühlt hat“.

Künftig sollen die Eltern noch mehr einbezogen werden

Bisher werden die Eltern, außer beim Vor- und Abschlussgespräch sowie einem Elternabend, noch wenig in die Gruppenarbeit mit einbezogen, dass soll künftig intensiviert werden. Zusätzlich gibt es zweimal in der Woche eine Telefonsprechstunde. „Wir raten den Eltern, mit ihren Kindern über ihre Erkrankung zu sprechen, weil Kinder sowieso spüren, dass etwas anders ist. Man könnte zum Beispiel sagen: ,Mir geht es nicht gut, aber es hat nichts mit dir zu tun und ich kümmere mich darum‘“, sagt Jonas Popp. Und am besten melden sie ihre Kinder bei dann bei „La Ola“ an.

Kontakt und Buchtipp:

Kontakt. wellengang hamburg, Jonas Popp, E-Mail:  mail@wellengang-hamburg.de, Telefon: 3866669-35, www.wellengang-hamburg.de/laola

Büchertipp: Wolkenwetter, ein illustriertes Kinderbuch ab 7 Jahren, das Kinder psychisch erkrankter Eltern über die Erkrankung seiner Eltern aufklärt sowie ihnen Ängste und Schamgefühle nimmt. 36 Seiten, 19,90 Euro. E-Mail: bestellung@aladin-hamburg.de, Betreff: Kinderbuch.