Hamburg. Der Verein Deutscher Ingenieure möchte Kinder für Technik begeistern. Vor allem Jungs kommen zahlreich in die Bücherhalle Alstertal.
Hinter den Bücherregalen führen einige Stufen hinab ins Spieleparadies. Auf einem großen Tisch im neuen Gruppenraum der Bücherhalle Alstertal liegen gut 2000 einzelne Plastikteile. Ein kunterbuntes Durcheinander mit dem Potenzial, daraus etwas Sinnvolles zu konstruieren.
Draußen vor der Tür warten bereits die ersten Eltern mit ihren Kindern auf Einlass. Es ist 15.30 Uhr, da öffnet Diplom-Ingenieurin Reingard Streit, 61, mit ihrem Mann Thilo, 67, einem gelernten Juristen, das Reich der Spiele.
Technik für Kinder: Regelmäßig offene Kurse in der Bücherhalle Alstertal
Willkommen beim „Offenen Technik-Angebot“ für Kinder im Alter von vier bis 12 Jahren, organisiert vom Verein Deutscher Ingenieure e.V. (VDI) und seinem ganz speziellen Angebot für Kinder, dem VDIni-Club. Die Organisation will Mädchen und Jungen für Technik und Naturwissenschaften begeistern. Früh übt sich, wer später einmal Flugzeuge konstruieren oder Hightech-Medizin entwickeln will.
Der VDIni-Club Hamburg-Norderstedt mit Reingard Streit an der Spitze veranstaltet regelmäßig offene und kostenfreie Kurse, nicht nur in der Bücherhalle Alstertal, sondern auch in der Willy-Brandt-Schule Norderstedt-Garstedt und im Schulzentrum Süd Norderstedt-Glashütte. Träger der vier VDIni-Clubs in Barsbüttel, Bergedorf, Buchholz (Nordheide) und Norderstedt ist der VDI Hamburger Bezirksverein e.V. mit insgesamt 480 VDIni-Club-Mitgliedern im Alter ab vier Jahren.
VDIini Club Norderstedt gibt es bereits seit 2015
Tüfteln, zusammenbauen, schrauben, löten, mit Werkzeug hantieren – hier lernen die Lütten, dass Technik kein Hexenwerk ist, sondern Spaß machen und neue Perspektiven eröffnen kann. „Unser Angebot mit dem Motto ‚Hier ist Technik im Spiel‘ ermuntert die Kids zum Ausprobien und vermittelt Wissen aus den Fachbereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT)“, sagt Reingard „Reini“ Streit, die den Norderstedter VDIni-Club 2015 gegründet hat.
Mehr als 20 Kinder sind gerade dabei, mit den 2000 Teilen der Marke Till-Toy etwas zu bauen. Ben, 7, geht in die erste Klasse und ist mit seinem Vater Sascha Hinrichsen gekommen. Ben will etwas zum Drehen bauen. Tatsächlich können alle Tills an den verschiedensten Stellen ineinander gedreht werden. „Wir sind durch Bens Lehrerin auf das Angebot in der Bücherhalle Alstertal aufmerksam geworden“, sagt Sascha Hinrichsen. Und weil Ben gerne bastle, seien sie nun hier. Noah, 8, sitzt neben ihm und will ein Auto bauen. Die Jungen – Mädchen sind zu Beginn noch nicht unter den Teilnehmern – werkeln ohne viel zu schnacken. Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Die Karrieren künftiger Ingenieure beginnen offenbar spielend im stillen Ganz-Bei-Sich-Sein.
Bücherhalle Alstertal: Der Vater hat vom Technik-Kurs im „Wochenblatt“ gelesen
Mit dabei ist auch Sebastian Röbke, der Vater von Timo, 8. Auch sein Sohn setzt Teile zusammen und freut sich, etwas bauen zu können. „Ich habe von der Veranstaltung im Hamburger Wochenblatt gelesen“, sagt Sebastian Röbke. Auf die Frage an Timo, was er später einmal werden möchte, antwortet er allerdings: „Fußballer.“
Vielleicht tragen solche Angebote des Vereins Deutscher Ingenieure dazu bei, dass Kinder wie Timo sich eines Tages für den Beruf des Ingenieurs entscheiden. Denn sie werden dringend gesucht. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das gemeinsam mit dem VDI den Ingenieursmonitor erstellt, geht bundesweit von einem jährlichen Bedarf an 130.500 Ingenieurinnen und Ingenieuren aus.
Bereits 2015 hatte der VDI gemeinsam mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft in einer Studie festgestellt, dass bis 2029 die starke Generation der Babyboomer in Rente gehen wird und damit auch 710.000 Ingenieurinnen und Ingenieure altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen werden.
„Der Fachkräftemangel kann auch heute nicht annähernd gedeckt werden“, sagt der Leiter des VDI-Bereichs Technik und Gesellschaft, Dieter Westkamp. Öffentliche Bauprojekte kämen zum Erliegen oder könnten gar nicht erst gestartet werden. Auch die Digitalisierung oder die Energiewende drohten durch den Mangel an qualifiziertem Personal ausgebremst zu werden. Deshalb hat es sich der Verein Deutscher Ingenieure zur Aufgabe gemacht, Kinder und Jugendliche für Technik zu begeistern und Nachwuchs zu fördern – vom Kindergartenkind bis zu Studierenden und Young Professionals.
Technik für Kinder: Basis ist der pädagogische Konzept von „Kinder forschen“
Reingard und Thilo Streit vom VDIni-Club freuen sich, wenn sie in strahlende Kinderaugen sehen können. „Bei unseren Veranstaltungen steht das freie Entdecken und Forschen nach dem pädagogischen Konzept der ‚Stiftung Kinder forschen‘ im Vordergrund“, sagen sie über ihr ehrenamtliches Engagement. Da werden auch mal kleine Boote gebaut und zu Wasser gelassen oder Lötarbeiten ausprobiert. Ihr erstes „Pilotprojekt“ war einst ihr Sohn Micha. Bausätze für kleine Ingenieure und ein Schweißgerät gehörten zum Repertoire der Weihnachtsgeschenke. Mit Erfolg, denn Micha studiert jetzt Mechatronik und Robotik an der Hochschule Heilbronn. Früh übt sich eben, wer ein Techniker werden will.
Neben den Norderstedter Stadtwerken, der Haspa und der Offenen Werkstatt Norderstedt gehört vor allem die Bücherhalle Alstertal zu den Kooperationspartnern des VDIni-Clubs. Wie Bücherhallen-Leiter Joachim Kunde sagt, verfügt diese Einrichtung seit vergangenem Jahr über die erste VDI-Technothek. Ihr Herzstück sind die zahlreichen Technikbausätze zum Ausleihen. Darunter sind beispielsweise das beliebte Kugelbahnsystem „GraviTrax“ oder die „Sound Machine“, ein Synthesizer-Bausatz. „Wir wollen dazu beitragen, dass Kinder durch angeleitetes Lernen zu technischem Grundverständnis kommen“, sagt Joachim Kunde. Denn der Alltag werde immer stärker durch Technik geprägt.
Während die Jungen in der öffentlichen Bücherhalle Alstertal weiter ihre Raketen, Flugzeuge, Schiffe und Autos konstruieren, kommt Reingard Streit auf ein Thema zu sprechen, das die Fachwelt seit Langem beschäftigt: Es fehlen bei den technischen Berufen und Ingenieuren die Frauen und Mädchen. Fragt man 15-jährige Schüler, gibt laut einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jeder zehnte Junge an, dass er sich eine Karriere im Ingenieurwesen vorstellen könne. Unter den Mädchen ist es nur eine von 100. Das hat Konsequenzen: Nur 18 Prozent aller erwerbstätigen Ingenieure in Deutschland sind weiblich, heißt es beim Verein Deutscher Ingenieure, Tendenz allerdings steigend. „Der Weg, um junge Frauen und Mädchen für die Aufnahme eines technischen Studiums zu begeistern, beginnt in der frühkindlichen technischen Bildung.
Technik-Kurse ohne Mädchen: „Sie sollten es einfach mal ausprobieren“
Bereits hier Interesse für technische Lösungen und Herangehensweisen zu wecken, ist Ziel technischer Bildung. Mehr junge Frauen für den Ingenieursberuf und die Aufnahme eines Ingenieursstudiums zu begeistern, sei schließlich ein Weg, weitere weibliche Vorbilder zu generieren und damit den Verlust von Fachkräften in den klassischen Ingenieursberufen abzumildern.
„Eltern“, sagen Reingard und Thilo Streit, „haben es manchmal nicht auf dem Schirm, dass Technik auch ihre Töchter interessieren kann. Einfach mal ausprobieren, wäre die Lösung.“
Die Jungs sind jedenfalls nach diesen zwei Stunden in der Bücherhalle Alstertal so begeistert, dass sie sagen. „Da gehen wir morgen wieder hin!“ Und vielleicht arbeitet einer von ihnen eines Tages bei Airbus auf Finkenwerder.
Infos zum Angebot unter: Verein Deutscher Ingenieure Norderstedt,
Tel. 64665414, E-MaiL hamburg-norderstedt@vdini-club.de. ‚
Die Kurse gibt es in der Regel einmal im Monat in altersgerechten Gruppen, entweder freitags für Technikfans im Alter von 4 bis 7 Jahren von 15.30 - 17 Uhr, ab 8 Jahren von 17.15 bis 19.15 Uhr oder auch samstags von 10-13 Uhr.