Hamburg. Am 8. Mai vor 78 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Es blieben unbewältigte Traumata und Schuld. Die Folgen spüren noch die Kriegsenkel.
Sie fühlte sich heimatlos, litt an einer unerklärlichen inneren Unruhe und wurde von Alpträumen gequält, die sie nachts um Hilfe schreien ließen. Lange lebte Andrea Jürss (64) mit diesen Gefühlen, deren Ursprung sie sich nicht erklären konnte. Das änderte sich erst, als sie als Erwachsene zufällig auf Bücher über die sogenannten Kriegsenkel stieß.
Kriegsenkel: Die Schrecken des Weltkriegs wurden vererbt
Die Generation der zwischen 1960 und 1975 geborenen Kinder schilderte darin ihre Erfahrungen mit ihren Eltern, die als Kriegskinder während des Zweiten Weltkrieges aufwuchsen. Diese Berichte zeigten oft ähnliche Muster, wie etwa ein Gefühl der Verlassenheit und der emotionalen Kälte zu einem oder beiden Elternteilen. „Das bin ja ich“, erinnert sich Andrea Jürss an ihre Reaktion, als sie das las.
„Der Begriff Kriegsenkel ist nicht nur eine Sortierung von Jahrgängen, er impliziert auch, dass man Eltern hat, die während des Krieges durch Erfahrungen wie Vertreibung, Flucht, Gewalt geprägt wurden und diese Prägung an ihre Kinder weitergaben“, sagt der Vorsitzende des Vereins Kriegsenkel e.V., Michael Schneider.
Der Kaufmann ist Mitbegründer des Vereins, der 2010 in Hamburg entstand. Auslöser waren Seminare der Autorin und Journalistin Sabine Bode, die intensive Recherchen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges für die im Krieg geborenen Kinder aufgenommen hatte. Sie befragte viele Angehörige dieser Generation und veröffentlichte 2004 das Buch „Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. 2009 folgte ein Buch zu den Erfahrungen der „Kriegsenkel“.
Vertreibung, Flucht, Gewalt: Prägung an Kinder weitergegeben
Für die Eltern der Kriegsenkel war es lange Zeit tabu, über existenziell bedrohliche Erlebnisse wie Bombenangriffe, Flucht, Hunger oder Gewalt zu sprechen. Im Krieg mussten sie ihre Gefühle verdrängen, um zu überleben, nach dem Krieg ging es um den Wiederaufbau. Auch die Frage von Schuld in der Zeit des Nationalsozialismus wurde in den Familien oft verdrängt.
Mit den Fragen der 68er-Bewegung begann sich etwas zu bewegen. Es entwickelte sich eine akademische Aufarbeitung der Nazi-Zeit, doch die „emotionale Aufarbeitung beginnt erst jetzt“, sagte Autorin Sabine Bode 2015 in einer Gesprächsrunde des TV-Senders Phönix zum 70. Jahrestag der Befreiung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zunahme der Gesprächskreise und Austauschforen von Kriegskindern und Kriegsenkeln belegt den hohen Gesprächsbedarf.
Die Eltern der Kriegsenkel hatten teils schwere Belastungen zu tragen, die sich auf ihre psychische Entwicklung auswirkte sowie auf ihre Rolle als Eltern, stellt die Fachpsychologin für Psychotherapie Marie-Luise Hermann in ihrem aktuellen Buch „War das schon alles? Babyboomer jenseits der Lebensmitte“ (Psychosozial-Verlag) fest.
Auswirkungen sind bei allen Betroffenen ganz individuell
Die Kriegskinder mussten alles Belastende abspalten, hatten dadurch aber auch „wenig emotionale Wärme und Nähe zur Verfügung oder gar nie selbst erlebt“, schreibt Marie-Luise Hermann. Ihre Kinder wurden mit dem Wirtschaftswunder in eine vermeintlich heile Welt geboren, „sollten die Hoffnung der Eltern nicht enttäuschen und es mal besser haben und besser machen.“
Doch die verdrängten Erlebnisse der Eltern hatten Folgen, bis hin zur Alkoholabhängigkeit, und prägten das Familienleben. Ihre Kinder, die Kriegsenkel, aus der Generation der Babyboomer spürten, das etwas mit ihren Eltern nicht stimmt, weiß Ingrid Meyer-Legrand. Die systemische Therapeutin und Coachin ist spezialisiert auf die psychologische Problematik von Kriegsenkeln.
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Als Erwachsene erfolgreich, seien die Angehörigen dieser Generation innerlich oft rastlos und auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. „Typisch für Kriegsenkel ist das Gefühl, nie angekommen zu sein und keine innere Zufriedenheit zu finden“, sagt sie.
Kriegsenkel vermissen Wärme, Nähe und emotionale Verbundenheit
Auch wenn das nicht für jeden und jede Angehörige dieser Generationen gelten mag, zeugen zahlreiche Fach- und persönliche Bücher sowie Berichte in Foren wie etwa www.forumkriegsenkel.de von ähnlich erlebten Merkmalen in den Biografien. So wie etwa eine mangelnde emotionale Nähe von Eltern und Kindern.
Auch Andrea Jürss empfand die Bindung zu ihrer Mutter getrübt, „sie hat uns materiell gut versorgt, aber es fehlte Mutterliebe“, sagt sie. Die Beziehung zum Vater sei ebenfalls brüchig gewesen, „seine Ansichten waren von einem rigiden Schwarz-Weiß-Denken geprägt“, erinnert sich die gelernte Erzieherin. Heute weiß sie, ihre Eltern waren sehr jung, die Mutter 17 und der Vater 20 Jahre alt bei ihrer Geburt.
„Als ich und mein Bruder in den 1960er-Jahren zur Welt kamen, waren meine Eltern voll berufstätig, wir Kinder wurden von der Oma großgezogen“, erzählt Andrea Jürss.“ Für sie war ihre Großmutter ihre Hauptbezugsperson. „Ich habe 15 Jahre lang das Zimmer mit ihr geteilt und ich fand es schön, ich kannte es ja nicht anders“, sagt sie.
In vielen Familien wurden leidvolle Erfahrungen verschwiegen
Doch mit der Oma verband sich auch der Hinweis auf ein dunkles Kapitel der Familie. „1945 musste meine Großmutter mit ihren Eltern und meiner damals vierjährigen Mutter vor den Soldaten der Roten Armee aus Pommern fliehen“, sagt Andrea Jürss. Sie hörte von ihr viele Geschichten aus der alten Heimat in positiven Farben.
Nur ein einziges Mal machte die Großmutter bei ihren Erzählungen eine Andeutung zu einer Bedrohung durch einen russischen Soldaten. „Sie sagte, dass er ihr ein Gewehr an die Stirn gehalten habe und sie zu ihm sagte: ,Schieß doch!’ Was dann geschah, habe ich nie erfahren, denn sie brach ihre Erinnerung abrupt ab, ich vermute, dass sie vergewaltigt worden ist“, sagt Andreas Jürss. Nachts fantasierte die Großmutter im Schlaf und wachte schreiend aus ihren Alpträumen auf, fügt Andrea Jürss hinzu.
Nach Erkenntnissen der Trauma-Forschung leidet ungefähr ein Drittel der Menschen, die zur Kriegsgeneration zählen, unter unbewältigten Traumata, also Ereignissen, denen die Betroffenen ohnmächtig und hilflos ausgesetzt sind. „Inzwischen gibt es Forschungen dazu, dass Traumata vererbbar sind“, sagt Michael Schneider.
Erst Ruhe, als sie sich mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzte
Aber auch wenn es sich um leidvolle Erfahrungen wie eine Flucht handelte, prägten sie das Leben der Eltern und ihrer Familie noch lange nach dem Krieg. „Das Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit spürten auch die Kinder noch“, weiß Michael Schneider aus vielen Gesprächen mit Kriegsenkeln, sowie aus eigenem Erleben, denn auch in seiner Familie gab es Fluchterfahrung.
Die Einflüsse der familiären Fluchtgeschichte auf ihr Leben verstand Andrea Jürss erst viel später. Als junge Frau brach sie zunächst aus den von ihr als eng empfundenen Verhältnissen aus. Sie ging nach einer ersten Ausbildung von Braunschweig nach Hamburg. Doch sie wurde zunächst nicht richtig heimisch.
„Ich zog in kurzer Zeit neunmal um, lebte sozusagen aus dem Koffer, so als ob ich auf der Flucht sei“, sagt sie heute. Als sie ihren Mann kennenlernte, heiratete und ihre Tochter zur Welt brachte, wurde die gelernte Erzieherin sesshaft, „doch die Unruhe blieb.“ Erst als sie sich näher mit ihrer Familiengeschichte befasste, begann sich allmählich etwas zu ändern. Sie besuchte das Dorf ihrer Vorfahren im heutigen Polen, recherchierte zur Geschichte der Großeltern und nahm an Workshops des Vereins Kriegsenkel e.V. zur Traumabewältigung teil.
Verein Kriegsenkel ist eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene
„Es ist wichtig sich ein eigenes Bild zu machen, um Legenden aus der Familiengeschichte aufzubrechen“, sagt Michael Schneider. Dabei hilft der Verein mit Infos und Adressen für die Recherche der Familiengeschichte bei Archiven und Auskunftsstellen, aber er bietet auch eine umfangreiche Literatursammlung, Seminare und Gesprächsgruppen.
„Bei der tieferen Beschäftigung mit der Geschichte der Vorfahren stößt man vielleicht auf Zusammenhänge, die man zuvor nur vermutet hat. Das kann zu einer Klärung und auch zu einer Entlastung eigener diffuser Gefühle führen. Letztlich erfährt man auch mehr über sich selbst“, sagt Michael Schneider. Dass wiederum kann sehr bereichernd sein. So empfindet es auch Andrea Jürss: „Es tut gut, sich in einer Gruppe zu treffen, neben dem Verständnis bringt es neue Erkenntnisse und man kommt dem eigenen Ich näher.“
Infos: Kriegsenkel e.V., www.kriegsenkel.de