Viele Eltern der derzeit 40- bis 60-Jährigen sind traumatisiert worden – und gaben das an ihre Kinder weiter.
Mit kräftigen Strichen hat Britta (Name geändert) ein Kind gezeichnet, das an einem Tisch sitzt und allein „Mensch ärgere dich nicht“ spielt. Das Kind schaut den Betrachter direkt an und lächelt. Die zarte Figur neben dem Tisch, eine Frau unter einer Trockenhaube, wirkt unbeteiligt. „So sah immer sonnabends die mühsam abgerungene halbe Stunde aus, in der ich meine Mutter ganz für mich hatte“, erzählt Britta mit bebender Stimme. „Ich habe die Zeit, in der sich meine Mutter ihre Haare gemacht hat, dafür genutzt, um ihr von meinen Erlebnissen zu erzählen. Dabei hat sie unter ihrer Haube kaum etwas hören können. Ist das nicht absurd?“
Die 54-jährige Hamburgerin ist die jüngste von fünf Teilnehmerinnen, die im „KriegsenkelLab“ der Systemischen Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand mit einer neuen Haltung zu ihrer lähmenden Familiengeschichte experimentieren möchten. Wie bei Britta haben auch die Mütter der anderen Teilnehmerinnen als Kinder oder Jugendliche durch die Flucht ihre Heimat verloren. Manche Väter wurden noch in der Endphase des Zweiten Weltkriegs als Soldaten eingezogen. Das leidvolle Erbe dieser zwischen 1928 und 1946 geborenen „Kriegskinder“ wurde im Nachkriegsdeutschland nicht aufgearbeitet und wirkt bis heute in die Familien hinein. Ihre Nachfahren, die von Mitte der 1950er bis Ende der 1970er-Jahre geborenen „Kriegsenkel“ übernahmen angesichts der schweigenden, erstarrten Eltern früh Verantwortung und lernten, besser für andere als für sich selbst zu sorgen. „Meine Mutter ist mit 14 Jahren geflüchtet. Von ihren Erlebnissen hat sie nicht viel erzählt, aber ich hatte immer das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Da sie alleinerziehend war, habe ich früh gelernt zu funktionieren“, erzählt Sozialpädagogin Britta, die heute auf mittlerer Führungsebene in einem Unternehmen arbeitet. „Bis heute fühle ich mich in der Rolle der Beobachterin, die für alles und jeden Verständnis hat. Beruflich laugt mich das aus. Ich frage mich, wie ich zu innerer Klarheit und einer Balance zwischen Verantwortung und Selbstfürsorge finden kann.“ Diesen Widerstreit der Gefühle kennen alle Teilnehmerinnen. Für die meisten ist der mehrfache Wechsel von Job, Wohnort und Partner die einzige Konstante im Leben.
„Das Top-Thema dieser Generation heißt: Nicht ankommen können“, sagt Ingrid Meyer-Legrand, die in ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ von 2016 über ihre Arbeit mit Betroffenen berichtet. „Kriegsenkel steckten von Kindesbeinen an in zu großen Schuhen, weil sie für ihre traumatisierten Eltern die Elternrolle übernommen haben. Sie haben nicht gelernt, sich in klar definierten Rollen zu bewegen und sich abzugrenzen. Viele haben großes Leid erlebt. Kriegsenkel haben aber auch früh besondere Fähigkeiten wie Empathie, Selbstständigkeit und Organisationstalent erworben.“ Bei ihren Coachings blickt Ingrid Meyer-Legrand mit ihren Klienten auf typische Situationen in der Herkunftsfamilie und auf biografische Stationen wie Schule und Ausbildung oder Studium, um den Blick für die eigenen Ressourcen zu schärfen.
„Die Seelenlage dieser Generation kann man nur mit Blick auf die Zeitgeschichte verstehen. Einerseits ist sie geprägt von der Zeit des Nationalsozialismus, des Krieges und der Flucht durch die Elterngeneration. Andererseits erlebten die Kriegsenkel in den 1970er- Jahren die Zeit der Individualisierung und Demokratisierung. Durch die Bildungsoffensive bekamen Arbeiterkinder die Möglichkeit zu studieren. Sie sind die Pioniere in einer offenen, mobilen Gesellschaft“, meint Ingrid Meyer-Legrand. Die 68er hatten ihre Eltern verurteilt und den Gang durch die Institutionen angestrebt, um die Gesellschaft zu verändern. Die „Babyboomer“, die den Kern der Kriegsenkel bilden, versuchten mit ihren Eltern zu reden und stellten bei allem die Frage nach dem Sinn. Sie waren die Ersten, die die starren Grenzen zwischen Privatem und Politischem und zwischen Lebens- und Arbeitszeit durchlässig machten. Die eine Politik in der ersten Person betrieben, indem sie fragten „Was hat das alles mit mir zu tun?“
„Die Kriegsenkel nutzten ihre Chancen, indem sie mutig neue Lebensmodelle entwickelten“, sagt Ingrid Meyer-Legrand. Trotz Auftrag aus der Herkunftsfamilie ,Du sollst es einmal besser haben‘ taten sich viele Kriegsenkel schwer damit, erfolgreicher und glücklicher zu sein als die leidgeprüften Eltern. Viele verfolgten keine geradlinige Karriere und blicken heute auf bunte Patchwork-Biografien. Um die Schätze dieser fragmentierten Lebensläufe zu heben, setzt Ingrid Meyer-Legrand bei ihrer Methode „My Life Storyboard“ auf das Zeichnen typischer Situationen in zentralen Lebensphasen. Dieser intuitive, kreative Zugang zum eigenen Leben mache möglich, eine neue Geschichte zu erzählen und den roten Faden in seinem Leben wiederzufinden, meint die Therapeutin.
Britta erinnert sich bei der Erläuterung ihres Bildes, das eine typische Situation in ihrer Herkunftsfamilie zeigt, vor allem an schmerzhafte Momente. Die anderen Teilnehmerinnen des Workshops legen beim freien Assoziieren den Fokus auf das selbstbewusst lächelnde Kind im Zentrum des Bildes. „Da wirkst du wie jemand, der auch in widrigen Situationen gut für sich sorgen kann“, heißt es mehrfach. Unter diesem veränderten Blickwinkel fallen Britta immer neue Erlebnisse ein, in denen sie sich als Kind zu behaupten verstand. Ein vermeintlich trauriger Lebensabschnitt beginnt facettenreich zu schillern, und auf Brittas Gesicht breitet sich ein Strahlen aus. Den Erkenntnisgewinn für ihre aktuelle Frage, wie sie mehr Klarheit und Balance finden könne, bringt sie auf den Punkt: „Mein Mitgefühl sollte für mich genauso wie für andere gelten.“
Erfahrungsgemäß mache es für die Teilnehmer Sinn, sich die Zeichnung im Alltag immer wieder anzusehen und weiter auf sich wirken zu lassen, meint Ingrid Meyer-Legrand. So könnten auch alternative Geschichten und damit das positive Erbe immer stärker in den eigenen Fokus rücken. Dieses Erbe zeichne die Generation der Kriegsenkel gerade angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen als wahre Experten aus, betont sie. „Kriegsenkel verkörpern die Willkommenskultur. Sie arbeiten verantwortlich mit an der Ausgestaltung einer mitfühlenden menschlichen und demokratischen Gesellschaft, in der das Fremde als Bereicherung erfahren werden kann.“
Die Berliner Therapeutin bietet ihre Workshops für Kriegsenkel auch in Hamburg an. Die nächste Veranstaltung findet hier am 3. September statt. Infos unter www.meyer-legrand.eu und Telefon 030/78 70 48 30 Es gibt eine Kriegsenkel-Selbsthilfegruppe in Hamburg, die sich jeden 1. Mittwoch im Monat ab 18 Uhr in Wandsbek trifft. Infos: www.kriegsenkel-im-norden.de, Angelika Grabow Tel. 04102/824 9 4 36