Hamburg. Seit fast sechs Jahren braucht der Hamburger Heiko Dirks ein Spenderorgan. Ein zermübender Wettlauf zwischen Leben und Tod.

Am 2. Januar 2017 tritt Dr. Alexander Bernhardt, Assistenzarzt im Herzzentrum des Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE), ans Krankenbett von Heiko Dirks und sagt: „Herr Dirks, wir haben ein passendes Herz für Sie, aber …“ Es 21.30 Uhr und der Moment, auf den der todkranke Eidelstedter lange gewartet hat. Sehr lange schon. Fünf Jahre und neun Monate. Endlich soll er ein neues Herz bekommen. Es muss nur noch einem eben verstorbenen Organspender entnommen werden, damit er selbst weiterleben darf. Doch die Erwartungen des 47-Jährigen sind verhalten. Und das ist auch gut so. Denn der Arzt fügt hinzu: „… es ist leider noch nicht hundertprozentig geklärt, ob das Spenderherz Ihren Anforderungen genügt.“

Alles muss schnell gehen

„Ich bin trotzdem gelassen geblieben“, sagt Heiko Dirks. Er ruft seine Angehörigen an, muss deren Euphorie bremsen, geht noch einmal in Ruhe duschen und verstaut danach seine Wertsachen im Safe seines Zimmers in der vierten Etage, das seit dem 29. Mai 2016 sein Zuhause ist. Gegen Mitternacht wird er in den OP gefahren, von jetzt an muss alles sehr schnell gehen: „Wenn das Spenderorgan eintrifft und wir das alte Herz bereits entfernt haben, wäre es der Idealzustand“, sagt Bernhardt.

Heiko Dirks im Herzzentrum des UKE in Hamburg
Heiko Dirks im Herzzentrum des UKE in Hamburg © Roland Magunia | Roland Magunia

Während zwei weitere Herzchirurgen des UKE für die Organentnahme zum Krankenhaus unterwegs sind, um das potenzielle Spenderherz zu entnehmen und zu untersuchen, wird Heiko Dirks für die Transplantation vorbereitet. Er liegt bereits in Vollnarkose und wird künstlich beatmet, als bekannt wird, dass die Blutwerte zwar in Ordnung sind, aber nicht das Spenderherz. Die Operation wird abgebrochen. Das Risiko wäre zu hoch.

Als Heiko Dirks am frühen Morgen des 3. Januar 2017 aus der Narkose erwacht, tastet er vorsichtig auf seine linke Brust. „Aber da tat nix weh“, sagt er, „meine Ahnung hatte sich bestätigt. Also doch kein neues Herz.“

Und alles wieder zurück auf Anfang.


Spenderorgane werden nach strengen, festgelegten Kriterien an die Wartelisten-Patienten vergeben. Die Vermittlungskriterien sind für die einzelnen Organe unterschiedlich. Im Vordergrund stehen jedoch immer Erfolgsaussicht und Dringlichkeit. Organspende ist dabei in Deutschland eine Gemeinschaftsaufgabe aller Krankenhäuser mit Intensivstationen (insgesamt 1327), der Transplantationszentren und der Deutschen Stiftung Organspende (DSO). Die Krankenhäuser sind gemäß dem Transplantationsgesetz (§ 9 Abs. 2) verpflichtet, die DSO über eine mögliche Organspende zu informieren. Die DSO hat jedoch gleichzeitig die Pflicht, den letzten Willen des Verstorbenen zu respektieren und entsprechend umzusetzen – also auch ein „Nein“ zur Organspende.


Organspendeausweise gibt es unter anderem in Krankenhäusern
Organspendeausweise gibt es unter anderem in Krankenhäusern © dpa


Bis zu jenem 26. Oktober 2008, dem Tag, als sein Herz plötzlich nicht mehr Schritt hält, führt der damals 39-jährige Gas- und Wasserinstallateur Heiko Dirks ein zufriedenes und ziemlich ­pralles Leben. Er wohnt mit seiner Lebenspartnerin und deren Tochter in einer hübschen Dreizimmerwohnung in Eidelstedt (aus einer früheren Beziehung hat er noch eine heute 21-jährige Tochter). Er verdient gut, arbeitet viel, „durchschnittlich 14 Stunden am Tag“, wie er sagt, „mein Beruf war so was wie meine Berufung“. Krank sei er praktisch nie gewesen: „Dafür hatte ich keine Zeit.“

Aktiv Fußball gespielt

Seine zweite große Leidenschaft gehört dem Fußball. Heiko Dirks ist HSV-Fan durch und durch, spielt selbst aktiv viele Jahre lang in der Herrenmannschaft des SV Halstenbek-Rellingen, mit der er Anfang der 90er-Jahre von der Kreisliga bis hinauf in die Verbandsliga durchmarschiert. Zuletzt kickt er in der Altherren-Mannschaft. Seine Kondition ist trotz eines Zigarettenkonsums von mindestens zwei Schachteln täglich bemerkenswert. Außerdem verreist er öfter, feiert gern, vorzugsweise mit den Mannschaftskameraden.

Sorgen um seine Gesundheit macht er sich jedenfalls nie, auch nicht, als das Herz seiner Mutter 1999 über Nacht seinen Dienst versagt. Sie überlebt nur knapp und steht in den folgenden sechs Monaten gleich zwei Herztransplantationen durch; ihr Körper stößt das erste Spenderorgan ab. Sein Vater ist da schon viele Jahre tot, von einer Herzschwäche ist nichts bekannt. Doch sehr viel später wird auch das Herz seiner Schwester Gabriele Zicken machen. Man könnte daher heute vermuten, dass Heiko Dirks erblich zumindest vorbelastet ist.

An jenem Oktobersonntag, dem neunten Bundesligaspieltag der Saison 2008/2009, will Heiko Dirks sich am Nachmittag das Spiel seines HSV gegen den Aufsteiger, die TSG Hoffenheim, ansehen. Aber am späten Vormittag bekommt er schlagartig starke Schmerzen. „Ich dachte, mein Brustkorb platzt jeden Moment. Es hat sich angefühlt, als ob ein Panzer draufsteht“, erinnert er sich. Er wartet darauf, dass die Schmerzen nachlassen, doch das tun sie nicht. Und so setzt er sich, einer inneren Eingebung folgend, es könnte sich doch um was Ernsteres handeln, ins Auto und liefert sich selbst in die Notaufnahme des Albertinen-Krankenhauses ein. Von einem Arzt erfährt er wenig später zwei Dinge: erstens, dass er einen akuten Herzinfarkt erlitten und, zweitens, dass der HSV mit 0:3 verloren und die Tabellenführung eingebüßt habe.

"Ich und Herzinfarkt?"

„Das Spiel interessierte mich dann aber doch weniger“, sagt er, „denn ich und Herzinfarkt? Das war für mich völlig undenkbar.“ Erst im Nachhinein seien ihm verschiedene Dinge eingefallen, die für seinen Infarkt eine Rolle gespielt haben könnten, dazu zähle logischerweise auch seine Qualmerei.

Vielleicht war er aber auch bloß unvorsichtig gewesen, als er trotz einer hartnäckigen, verschleppten Erkältung im Sommer weitermalochte und mehrmals pro Woche Fußball spielte. Was, wie seine Ärzte heute vermuten, zu einer (schmerzlosen) Herzmuskelentzündung (Myokarditis) geführt haben könnte, die sein Zentralorgan irreparabel geschädigt hat.

Eine Kühlbox zum Transport menschlicher Organe auf dem Weg zum Operationssaal
Eine Kühlbox zum Transport menschlicher Organe auf dem Weg zum Operationssaal © imago/HRSchulz


Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sind Todesursache Nummer eins in den Industrieländern. 2014 starben daran in Deutschland 338.056 Menschen, 48.181 von ihnen an einem akuten Myokardinfarkt. Für dasselbe Jahr verzeichnet die Statistik „nur“ 223.758 Krebstote; 10.209 Menschen nahmen sich das Leben, und 3368 verunglückten tödlich im Straßenverkehr.

Endlich nach Hause

Mitte November 2008 darf Heiko Dirks wieder nach Hause. Er raucht nicht mehr, und mit dem Fußballspielen ist ebenfalls Schluss. Gegen die Herzrhythmusstörungen wurden ihm ein Defibrillator sowie ein Schrittmacher eingesetzt. Dieser „Defi“ kann durch gezielte Stromstöße Herzrhythmusstörungen korrigieren, der Schrittmacher animiert den Herzmuskel zur regelmäßigen Kontraktion. Ein paar Tage lang bleibt Heiko Dirks noch zu Hause, dann fängt er wieder an zu arbeiten, um sich so schnell wie möglich sein gewohntes Leben zurückzuholen. „Ich wollte meine Lebensentscheidungen wieder allein treffen“, sagt er.

Im Job bekommt er einen Lehrling an die Seite gestellt, der ihn körperlich entlasten soll. Aber auch der Schongang kann es nicht verhindern, dass er von nun an eine ständige neue Begleiterin in seinem Leben hat: die Angst. Immer wieder horcht er in sich hinein, ob sein Herz vielleicht auf einmal schneller schlägt oder ob es stolpert. Als der Defibrillator zum ersten Mal mit einem Stromimpuls in Aktion tritt, durchfährt ihn ein stechender Schmerz, der seine Furcht vor einem erneuten Versagen seines Herzens weiter verstärkt.

Seine Herzleistung lässt kontinuierlich nach. Im Dezember 2010 ist Heiko Dirks so schwach, dass er kaum noch Treppen steigen kann. Mitte April 2011 wird er ins Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt wird er bei Eurotransplant erstmals als Herzpatient mit dem Hochdringlichkeitsstatus HU (High Urgency) gelistet.

14.000 Menschen warten


Für die Vermittlung aller Spenderorgane, die in Belgien, Deutschland, Kroatien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Ungarn und Slowenien verstorbenen Menschen zum Zwecke der Transplantation entnommen werden, ist die gemeinnützige Stiftung Eurotransplant (www.eurotransplant.org) zuständig. Derzeit warten mehr als 14.000 Menschen aus diesen Ländern auf ein Organ. Zum Stichtag 31.12.2015 standen in Deutschland 10.239 Personen auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Davon warten allein 773 auf ein neues Herz. (Quellen: Stiftung Eurotransplant, DSO).In Kiel fühlt Heiko Dirks sich nicht wohl. Er hat zunächst keinen Fernseher im Zimmer, und auch als seine Schwester Gabriele Mengden ihm nach Tagen endlich einen besorgt, damit er seine geliebte „Sportschau“ sehen kann, ändert das wenig an seinem miserablen Gemütszustand. „Es ging mir von Tag zu Tag schlechter. Gefühlt hing ich an 50 Kabeln, die alle viel zu kurz waren“, sagt er.

Am 29. Mai 2011, einem Sonntagabend, bestellt er sich bei einem Lieferservice telefonisch eine Pizza „Bombay“, zum Nachtisch Eis. Doch während er isst, fällt er ins Koma. Die Pumpleistung seines Herzens tendiert jetzt gegen null. Den Ärzten gelingt es, ihn zu stabilisieren und seine Bewusstlosigkeit zu kon­trollieren. Heiko Dirks schwebt jedoch tagelang zwischen Leben und Tod. „Diese Ungewissheit war ganz schlimm“, sagt seine Schwester, „wir, die Angehörigen, und seine Freundin waren damals am Verzweifeln.“

Frührente kommt

Seine Lebenspartnerin organisiert in den folgenden Tagen Heiko Dirks’ zukünftiges Leben, sollte er noch einmal aus dem Koma erwachen. Sie beantragt die Frührente für ihn, aber sie bereitet sich innerlich auch darauf vor, dass er sterben könnte. Über all das, was sie in dieser Zeit empfindet, führt sie Tagebuch, das Dirks später lesen wird. „Diese Zeit muss für sie sehr hart gewesen sein“, sagt er heute.

Am 16. Juni 2011, seinem 42. Geburtstag, leiten die Ärzte eine ganz behutsame Aufwachphase ein. Sechs lange Wochen dauert es, bis aus dem Komapatienten wieder Heiko Dirks wird. „Die lange Bewusstlosigkeit hatte mich völlig umgehauen“, sagt er, „erst nach Wochen habe ich meine Leute wiedererkannt. Dafür hatte ich ständig Halluzinationen und Wahnvorstellungen.“ So habe er unter anderem eine Zeit lang fest daran geglaubt, zwei Bordelle zu besitzen.

Was er aus jener Zeit aufgehoben hat, ist ein Foto der Quittung des Pizza-Lieferdienstes auf seinem Smartphone. „Eine Pizza ,Bombay‘ esse ich nie wieder“, sagt Heiko Dirks und lächelt etwas dünn, „zu schlechte Erinnerungen!“

Seine neue Wirklichkeit besteht jetzt aus einer schwarzen Tasche, die er ständig mitführen muss. Darin befindet sich ein mechanisches Herzunterstützungssystem. Seine neue Lebensversicherung. Er nennt sie „Wilson“, nach dem vermenschlichten Volleyball mit dem aufgemalten Gesicht, der im Spielfilm „Verschollen“ verhindert, dass der auf einer einsamen Pazifikinsel gestrandete Chuck Noland (gespielt von Tom Hanks) vor Einsamkeit durchdreht, weil er sich jetzt mit jemandem unterhalten kann. Dank „Wilson“ verliert Heiko Dirks aber auch seinen „HU-Status“ auf der Transplantationswarteliste.

Als er aus einer Kur kam

Am meisten setzen ihm die Spätfolgen seiner Komaphase zu, vor allem die Lähmungserscheinungen in den Beinen. „Eines Tages stand ein Rollstuhl neben meinem Bett. Da sollte ich mich zur Gewöhnung einfach mal für eine Viertelstunde reinsetzen – aber nach nicht mal drei Minuten hat mir mein Hintern dermaßen wehgetan …“

Darüber hinaus ist auch seine Psyche angeknackst: Heiko Dirks kann und will seine neue Lebenssituation nicht akzeptieren. Er wird immer ungeduldiger, manchmal bricht Jähzorn aus ihm heraus. Der trifft zumeist diejenigen, die ihm nahestehen und ihm doch bloß helfen wollen. „Nein, ich war sicherlich zu vielen nicht fair. Aber zu jenem Zeitpunkt ist bei mir einfach alles zusammengebrochen. Ich hatte mich immer so gern bewegt, ich hatte ein sorgenfreies Leben, und jetzt konnte ich mir nicht mal mehr allein Socken anziehen.“

Nach einer sechswöchigen Kur darf Heiko Dirks zurück nach Hause, wo seine Lebenspartnerin jedoch nicht mehr auf ihn wartet. „Das hatte sich abgezeichnet. Aber wir haben uns im Guten getrennt“, sagt Heiko Dirks, „nach 14 Jahren. Ich werde ihr immer unendlich dankbar dafür sein, was sie alles für mich getan hat.“ Er zieht in die barrierefreie Luruper Wohnung seiner Mutter, die wenige Wochen zuvor gestorben ist.

Am 4. Juli 2012, dem Geburtstag seiner Ziehtochter, geht Heiko Dirks zum ersten Mal nach langer Zeit wieder spazieren. „Ich wollte sie überraschen, bin mit dem Taxi zu ihr hingefahren und hab dann die letzten Meter mit dem Rollator geschafft“, erzählt er. Für ihn bedeutet das einen ersten kleinen Fortschritt auf dem Weg zurück zu mehr Selbstständigkeit.

Alle vier Wochen muss er nun zur Kontrolle und zum Blutabnehmen in die Kieler Uniklinik. Sein Leben mit „Wilson“ und das Warten auf ein Spenderherz werden langsam zur Routine, und es gelingt ihm ganz allmählich, seine Krankheit und die damit verbundenen Einschränkungen zu akzeptieren. Bis dann, nach drei Jahren, sein Defibrillator kurz vor Silvester 2015 auf einmal verrücktspielt: Heiko Dirks liegt gemütlich im Bett, als es in seiner Brust zehnmal „knallt“, so häufig wie noch nie. „Mit vereinzelten elektrischen Impulsen hatte ich bis dahin ganz gut leben können“, sagt er, „aber als es dann durchschnittlich drei Schläge wurden, überkam mich erstmals Todesangst.“

Ins UKE verlegt

Die zehn Anschubhilfen für sein Herz hintereinander sind endgültig zu viel für ihn. Den Sanitätern, die ihn an diesem Tag ins Albertinen-Krankenhaus transportieren, sagt er: „Entweder ihr bringt mich jetzt um, oder ihr haut mich weg ins Koma!“ Nach einer erneuten Reha und weiteren Klinikaufenthalten in Kiel und Lübeck wird Heiko Dirks schließlich auf eigenen Wunsch nach Hamburg ins UKE verlegt.

Am 19. Mai 2016 zieht er ins Transplantationszentrum ein, wo ihm die Ärzte einen neuen Defibrillator einsetzen. Aber die Operationsnarbe entzündet sich, und der „Defi“ muss wieder raus. „Jetzt habe ich nur noch ‚Wilson‘ und meinen Schrittmacher“, sagt Heiko Dirks. Er wirkt erleichtert, dass er ohne Defibrillator weiterleben darf. „Dieses Ding hat mir das Genick gebrochen. Das sind Schmerzen, die sich keiner vorstellen kann, der noch nie am eigenen Leib gespürt hat, wenn es anspringt. Und auch, wenn mein Herz jetzt manchmal 220-mal pro Minute schlägt: Dann ist das halt so.“ Medizinisch betrachtet setze er sich ohne „Defi“ zwar einem höheren Risiko aus, „aber mir gibt dieser Verzicht enorme Sicherheit“.

Mit Vorhofflimmern

Dann wird seine Schwester ebenfalls ins Universitätsklinikum Eppendorf eingeliefert. Mit Vorhofflimmern. Davor hatte sie bereits einen Schlaganfall. Sie liegt zwar auf einer anderen Station, aber sie sehen sich so häufig wie möglich. Diese Zwangsgemeinschaft tut den Geschwistern gut. Doch während ­Gabriele Mengden die Klinik nach dreieinhalb Wochen wieder verlassen kann, bekommt Heiko Dirks erneut den „HU-Status“ und wird von der siebten hinunter in die vierte Etage verlegt. Jetzt weiß er endgültig, dass er nur noch zwei Optionen hat, um das Herzzentrum jemals wieder zu verlassen: entweder mit einem neuen Herzen in seiner Brust – oder tot.

Seit 1963 wurden in Deutschland 124.269 Organe transplantiert (inklusive Lebend- und Dominospenden, letztere sind Transplantationen von mindestens zwei Organen zwischen mehreren Personen). Übertragen wurden 12.218 Herzen, 5243 Lungen und 80.294 Nieren. Außerdem wurden 22.850 Lebern und 3664 Bauchspeicheldrüsen transplantiert. Doch die Entwicklung in Deutschland ist rückläufig: Wurden im Jahr 2010 noch 393 Herzen transplantiert, waren es 2015 nur noch 286. Bei den Nieren sank die Zahl von 2272 auf 1550, bei Lebern von 1182 auf 846. Gleichzeitig sanken im selben Zeitraum auch die Zahlen der postmortalen Spender: 2010 wurden 385 Herzen entnommen, 2015 nur noch 278 (Nieren: 2250/1520, Lebern 1114/730). In Prozenten ausgedrückt wurden in diesem Zeitraum 31 Prozent weniger Organe gespendet. (Quellen: Stiftung Eurotransplant, Deutsche Stiftung Organspende).

Hoffnung auf Herz

Trotz der misslungenen Transplantation in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar dieses Jahres ist Heiko Dirks sicher, dass er schon bald eine neue Chance auf ein Spenderherz erhalten wird. Er steht ganz oben auf der Warteliste, „denn die rechte Herzkammer des Patienten, die bislang nicht unterstützt werden musste, ist mittlerweile in ihrer Funktion ebenfalls stark eingeschränkt“, sagt sein behandelnder Arzt.

Zuversicht und Kraft zieht Heiko Dirks vor allem aus dem Zusammenleben mit seinen Schicksalsgenossen auf der Station. Zurzeit warten im UKE vier Patienten mit HU-Status auf ein Spenderherz. Jeder kennt die gesundheitliche Situation der anderen. Sie müssen sich gegenseitig nichts vormachen, sie können auf Augenhöhe über ihre Ängste und Probleme reden. Häufig kochen und essen sie gemeinsam oder lenken sich mit Gesellschaftsspielen ab. Heiko Dirks hat sogar eine Partnerin gefunden – zum Fußballgucken.

Mobile Patienten

„Die aktuelle Behandlung setzt vor allem auf die Stabilisierung des Halteapparats und den Muskelaufbau“, sagt Dr. Hanno Grahn, Fachärztlicher Bereichsleiter der Heart Failure Unit (Einheit für Herzversagen) im UKE. „Je mobiler ein Patient bleibt, desto früher kann er nach der Transplantation mit der Anschlussbehandlung beginnen.“

Fünfmal in der Woche treffen sich deshalb alle HU-Patienten für eine halbe Stunde im Aufenthaltsraum der Station. Heiko Dirks macht dann Sitz- und Streckübungen, tritt auf der Stelle. „Eigentlich ist das total lächerlich, aber für mich sind solche Übungen mittlerweile knallhart“, sagt er.

„Wenn wir für Herzpatienten den Hochdringlichkeitsstatus beantragen, gehen wir davon aus, dass sie ohne ein Spenderorgan höchstens noch wenige Monate, vielleicht gerade mal noch ein Jahr überleben werden“, sagt Hanno Grahn.

Dirks beklagt die geringe Organspende-Bereitschaft

Als Realist weiß Heiko Dirks, was das bedeutet. „Trotzdem vermute ich mal, dass ich hier aufrecht rausgehe“, sagt er. Er sagt nicht „hoffen“. Es könne aber genauso gut sein, dass er in der Waagerechten rausgetragen werde. Das klinge vielleicht etwas salopp, doch er gehe mit seiner Situation inzwischen nun mal relativ locker um. So etwas nennt man wohl Galgenhumor. „Ab und zu mache ich mir natürlich ernsthafte Gedanken über meinen Zustand, in dem alles passieren kann – sehr schnell, im positiven wie im negativen Sinne. Bloß habe ich darauf keinen Einfluss mehr.“

Seine Ärzte bestätigen ihm jedoch nach wie vor einen erstaunlichen Lebensmut. „Um solch eine Extremsituation auszuhalten, bedarf es schon einer besonderen inneren Einstellung“, sagt Dr. Markus Barten, der Heiko Dirks vielleicht transplantieren wird. Im Inneren erreiche jeder Patient irgendwann ein tiefes Tal, das er dann durchschreiten müsse und in dem die eine oder andere Träne hinzukomme. „Davon kann sich keiner freimachen“, versichert der Chirurg.


Als mögliche Organspender werden Verstorbene bezeichnet, bei denen der Tod nach den Richtlinien der Bundesärztekammer festgestellt worden ist und keine medizinischen Ausschlussgründe zur Organspende vorliegen. Eine bekannte positive Einstellung zur Organspende (Ausweis), eine „Sinngebung“ des plötzlichen Todes des Angehörigen sowie altruistische Motive waren dabei zumeist ausschlaggebend für eine Zustimmung zur Organspende durch Angehörige. Als häufigster Grund für eine fehlende Zustimmung wird die ablehnende Einstellung des Verstorbenen genannt – oder die Einstellung des Verstorbenen war den Angehörigen nicht bekannt.

Dies ist für Heiko Dirks jetzt zu seinem eigenen Problem geworden. Er ist enttäuscht darüber, dass in Deutschland die Bereitschaft, Organe zu spenden, zurzeit allgemein rückläufig ist. „Dabei wäre es so einfach, einen Spenderausweis auszufüllen und darauf anzugeben, welche Organe man im Falle eines Falles spenden möchte“, sagt er. „Eine lebensbedrohende Krankheit kann jeden treffen, aus heiterem Himmel. Und wenn nicht einen selbst, dann vielleicht den Bruder, die Schwester oder den Lebenspartner.“ Er habe dies schließlich gleich dreifach miterleben müssen – bei seiner Mutter, bei seiner Schwester und bei sich selbst.

„Der Knackpunkt ist zunehmende Gleichgültigkeit der Gesunden“, sagt er. Dabei gebe es bereits in vielen anderen Ländern bewährte Modelle: „Wir brauchen auch dringend ein Gesetz, dass jeden Menschen von Geburt an automatisch zum Spender erklärt“, sagt er. „Von dieser Verpflichtung darf dann nur zurücktreten, wer es ausdrücklich wünscht und erklärt.“