Die Alzheimer Gesellschaft Hamburg e. V. kümmert sich um Menschen mit Demenz im Anfangsstadium. Doch das Angebot ist gefährdet.
Hamburg. Susanne vergisst viele Termine. Morgens weiß sie nicht, welcher Wochentag gerade ist. Sie kann sich ein Datum nicht merken. Und was sie an diesem Tag unternehmen wollte, erinnert sie erst, wenn sie auf den Kalender blickt. Es gibt gute Tage. Dann funktioniert der Kopf. Und Susanne K. stellt jede Frage nur ein einziges Mal. Und es gibt schlechte Tage. Dann hängen die Gedanken zäh wie Kleister im Gehirn. Und so sehr sich die 65-Jährige auch bemüht, sie lassen sich einfach nicht hinaustragen. Susanne K. hat Demenz. Sie steht noch am Anfang. Sie hat eine Ahnung davon, wie ihr Weg aussehen könnte. Schon jetzt kann sie sich auf ihr Gedächtnis nicht mehr verlassen. Sie vergisst vieles. Nur das Vergessen kann sie nicht vergessen.
Also fährt ihr Mann sie jeden zweiten Dienstag zur Gesprächsgruppe in die Litzowstraße nach Wandsbek. Hier, im Schatten des Wandsbek Quarree, hat die Alzheimer Gesellschaft Hamburg ihren Sitz. Zwei Räume gibt es, eine kleine Teeküche, eine Toilette. Und es gibt Menschen hier, die helfen. Viele tun das ehrenamtlich. Sie nehmen sich Zeit, hören zu, geben Ratschläge. Sie trösten und machen Mut. Zweimal in der Woche organisieren sie neben den Gesprächsgruppen einen Tagestreff von 10 bis 16 Uhr. Dort wird gekocht, gemalt und gesungen. Die Alzheimer Gesellschaft bringt Menschen zusammen, die in den Strudel des Vergessens geraten sind. Und jene, die noch ganz am Anfang dieser Krankheit stehen.
Beginnende Demenz nennt Soziologin Maren Niebuhr-Rose das. Es sind Menschen im Frühstadium der Krankheit. Die Diagnose liegt bei manchen erst ein paar Monate zurück. So wie bei Ingrid L., die im Sommer von ihrer Erkrankung erfuhr. So richtig begreifen kann sie es manchmal noch nicht. Dass ihr Gedächtnis sie im Stich lassen wird. Dass ihre kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten Stück für Stück verloren gehen werden. Dass sich Sprache und Motorik verändern werden - und auch die Persönlichkeit nicht bleibt, wie sie ist. "Es ist ein langer, schmerzhafter Prozess, diese Krankheit zu akzeptieren", sagt Maren Niebuhr-Rose. "Es bedarf vieler Gespräche. Und doch gibt es immer wieder Betroffene, die akzeptieren ihre Demenz nie." Für die Menschen ist der Tagestreff ein Fixpunkt in ihrem Leben. Er ist jedoch gefährdet, da die Finanzierung durch eine Stiftung überraschend weggebrochen ist. "Wenn es uns nicht gelingt, die Gesundheitsbehörde oder Stiftungen für die Fortführung unseres Projektes zu gewinnen, müssen wir es einstellen", sagt Tobias Götting, Vorstandsmitglied der Alzheimer Gesellschaft Hamburg. Es fehlen 80.000 Euro im Jahr.
Im Treffpunkt sitzen derweil Ingrid L. und Susanne K. mit ihrer Gesprächsgruppe. Sie schauen auf einen Haufen weißer Kärtchen, auf denen Begriffe rund um das Thema Winter und Jahreswechsel stehen. Die Gruppenleiterin hat mit ihrer Kollegin Sabine Bruhnke Wörter wie Champagner, Laune, Luft oder Schlange auf einzelne Zettel gedruckt. Die Teilnehmer sollen versuchen, die Begriffe zusammenzufügen.
Sie tun das mit kindlicher Begeisterung. Susanne und Jens, Hannelore, Ingrid und Wolfgang, Menschen zwischen 65 und 75 Jahren, die nur ihren Vornamen nennen möchten, weil sie Angst haben vor Stigmatisierung, davor, dass sich Freunde distanzieren, Nachbarn befangen reagieren. Die Scham ist oft riesig. Das Outing jedoch meist eine große Befreiung. Susanne K. brauchte drei Jahre, bis sie ihren Freunden von ihrer Krankheit erzählen konnte. Das war an ihrem 65. Geburtstag. Ihr Mann Holger stand ihr zur Seite. Er half mit Worten, wenn sie fehlten. Er ist es auch, der ihre Gedächtnislücken auffängt, sie zu Terminen bringt, den Koffer packt, wenn sie in den Urlaub fahren. Er ist an ihrer Seite. Am Dienstag aber lässt er sie allein. Die Gesprächsgruppe ist ihre Sache. Hier kann sie Dinge thematisieren, die ihr auf dem Herzen liegen. Fragen stellen, die sie zu Hause lieber verschweigen möchte. Und erfahren, dass sie nicht allein ist mit ihren Ängsten und Problemen. Dass sie keine Exotin ist, sondern eine von vielen. In Deutschland leiden etwa 1,2 Millionen Menschen an Demenz. Zwei Drittel davon sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Rund 300.000 neue Demenzerkrankungen werden jährlich diagnostiziert. Tendenz steigend.
Umso wichtiger sind Institutionen wie die Alzheimer Gesellschaft Hamburg. Gegründet wurde sie im Februar 1994 als Selbsthilfeorganisation von Angehörigen und Fachleuten. "Wir wollen Mut machen, sich mit der Krankheit und ihren Einschränkungen auseinanderzusetzen und Wege zu finden, so selbstbestimmt wie möglich zu leben", sagt Maren Niebuhr-Rose. "Und wir bringen Menschen in ähnlichen Lebenslagen zusammen, die sich bei uns austauschen können und dabei die Möglichkeit haben, Leichtigkeit und Freude zu erleben."
Es sind ungezwungene Stunden, die die Teilnehmer jeden zweiten und vierten Dienstag im Monat zusammen verbringen. Stunden, in denen nicht nur geredet wird, sondern auch gespielt. Sachen werden unter einem Tuch versteckt, gemeinsam versuchen die Teilnehmer sich zu erinnern, was darunter sein mag. Einer hilft dem anderen. Der Erfolg fühlt sich gut an. Es gibt Wortspiele und Bingo, Kaffee und Kuchen. Und am Ende ein Lied. Die Teilnahme ist kostenfrei. Voraussetzung ist, dass eine qualifizierte Demenz-Diagnose vorliegt.
Ingrid L. ist seit fünf Monaten in der Dienstagsgruppe dabei. Sie kam drei Wochen nachdem ihr Arzt die Krankheit diagnostiziert hatte. Wenige Monate zuvor war ihre Mutter gestorben. Sie hatte Alzheimer. "Im Endstadium war ihr Verhalten kaum noch zu ertragen", sagt Ingrid. Entsetzlich sei das gewesen. Und dennoch habe sie keine Angst vor Demenz. Weil ja niemand wisse, in welche Richtung sich die Krankheit entwickle. Manchmal verliert Ingrid den Faden, wenn sie erzählt. Keiner korrigiert. Zu Hause ist das anders. Ingrid lebt in einer WG. Ihrer Mitbewohnerin fiel auf, dass Ingrid Dinge durcheinanderbrachte. Nun sitzt sie in der Gruppe. Das Treffen ist wichtig für sie. Hier geht es ihr gut. Am Ende der zwei Stunden darf jeder einen Wunsch für 2013 äußern. "Gesundheit", sagt Wolfgang. "Muße im Beruf", sagt Ingrid, die längst im Ruhestand ist. "Dass alles so bleibt, wie es ist", sagt Susanne. Das allein wäre schon ein Gewinn.