Das Klischee vom Problemstadtteil und vielen gewalttätigen Jugendlichen stimmt schon lange nicht mehr. Probleme gibt es natürlich dennoch. Die Lehrer setzen auf Projektarbeit, fächerübergreifendes Lernen und Praxisnähe. PISA stelle die falschen Fragen, sagt Rektor Helmut Strankmeyer.
Als Eric Herbarth um acht Uhr morgens in der großen Turnhalle die Aufgabenzettel verteilt, ist die Überraschung groß. Die 23 Schüler des Wirtschaftsgymnasiums in Steilshoop hatten sich auf zwei Stunden Laufen, Werfen und Schlagen eingestellt, doch nun müssen sie erst einmal schriftlich ein paar Fragen beantworten: Was ist ein "strike"? Woraus besteht ein "inning"? Was ist ein "pitcher"? Nach zehn Minuten sammelt der 35 Jahre alte Sportlehrer die Zettel wieder ein. Dann werden drei Runden gelaufen, bei einmal Klatschen Liegestütz, bei zweimal Sit-ups, anschließend zwei Sprints und gegenseitiges Ziehen an einem Arm durch die Halle - und dann endlich Baseballspielen.
Wenn der Tag in Steilshoop mit geschwungenen Baseball-Schlägern beginnt, mögen das Außenstehende immer noch für ein passendes Bild halten. Helmut Strankmeyer ist das Thema mittlerweile leid. Der freundliche 64-Jährige ist nunmehr seit 22 Jahren Direktor an der H 20. Und er kennt die Zeit, in der es eine Gewaltproblematik an der Schule gab, noch aus eigener Erfahrung. "Aber das ist 15 Jahre her", ereifert er sich kurz. Nur die Rest-Hamburger, die würden Steilshoop halt immer noch mit Gewalt, Drogen, Getto und sozialem Brennpunkt verbinden.
Schon beim Betreten strahlt die Mammut-Lehrwerkstatt, in der sich jeder Neuling wunderbar verlaufen kann, nichts von alldem aus. Sauberer Teppichboden, viele Bilder in den langen Fluren, viele Computer in den hellen Räumen. Großzügige Mensa, beeindruckender Theatersaal. Kein Krümel auf dem Boden, keine Schmierereien an den gelben Wänden, kein lautes Gepöbel aus den Klassen. Im Lehrerzimmer riecht es nach Kaffee, hier duzen sich fast alle, auf einer Stelltafel steht geschrieben: Mehr als jede zweite Lehrkraft in Hamburg ist älter als 50! "Das ist natürlich ein Problem, wenn im Grunde eine ganze Lehrergeneration fehlt", sagt Olaf Bublay. Der 62-Jährige unterrichtet Sport und Darstellendes Spiel und hat mit seinen Theaterprojekten schon etliche Preise gewonnen. Wenn er mit seinen Schülern Stücke über Liebe, Freundschaft, Gewalt und Flüchtlingsdramen einübt, sagt er gerne: "Ihr lernt durch das Spielen und Zugucken. Von mir vielleicht auch ein wenig, aber das meiste steckt in euch selbst drin."
Das hat mit Schule vordergründig erst einmal scheinbar wenig zu tun, aber es ist der Ansatz und vielleicht auch so etwas wie das Leitmotiv für die 80 Lehrer, die hier in Steilshoop rund 1500 Schüler unterrichten. Die H 20 ist der größte Bildungsanbieter im Stadtteil, unter ihrem gewaltigen Dach tummeln sich Handelsschule (heißt jetzt Berufsfachschule Wirtschaft und Verwaltung, 190 Schüler), höhere Handelsschule (190), Wirtschaftsgymnasium (160) und Berufsschule (rund 960). Sie ist sowohl Auffangbecken für Gescheiterte als auch, da weit mehr als die Hälfte der Schüler aus aller Herren Länder kommen, ein geübter Ort der Integration. Und deshalb kann einer wie Helmut Strankmeyer sehr viel dazu beitragen, wenn es um die richtige Einordnung der neuesten PISA-Zahlen geht. "PISA schafft Transparenz und Verwirrung", sagt er. Und fängt erst einmal mit Letzterem an. "Sachsen und Hamburg kann man einfach nicht miteinander vergleichen. Und solange nicht Metropolen wie München, Stuttgart, Frankfurt, Berlin und Hamburg verglichen werden, bleibt PISA eine Farce." Nein, er hat nichts gegen die Studie an sich. "Die Ergebnisse haben hier und da auch einen notwendigen Schub gegeben." Und wenn eine Konsequenz wäre, dass die engagierten Kollegen durch mehr Assistenten von den immer zahlreicher werdenden bürokratischen Aufgaben entlastet würden, "um sich endlich wieder mehr um die Schüler kümmern zu können", hätte die Studie sogar etwas Gutes. Was ihn stört, ist, dass Kompetenzen von Schülern, die im Beruf unabdingbar sind, nur unzureichend erfasst werden. Dinge wie Organisationstalent, soziale Kontakte oder "das Wissen, wo ich was finde und wie ich knifflige Situationen löse".
In der H 20 geht es - vor allem - darum. Stichworte sind Selbstkompetenz, fächerübergreifendes Lernen, Praxisnähe, Lust am Lernen und schulische Realprojekte, bei denen die Schüler einen zweitägigen Azubi-Kongress oder Sporttage, eine Sport-Hausmesse oder einen "Kiez-Kongress" im Rahmen des Reeperbahn-Festivals organisieren. Es gibt Betriebspraktika, eines sogar in London. "Wir arbeiten mit 500 Betrieben zusammen", sagt Strankmeyer. 80 Prozent äußerten sich bei dem jährlichen Treffen "zufrieden mit dem Leistungsstand der Schüler".
Und es geht um Lernprozessbegleitung, neudeutsch: Coachen. Denn natürlich ist nicht alles Gold. Viele Schüler, so Strankmeyer, seien "sozial isoliert, stecken in kulturellen Zwängen und kriegen zu wenig häusliche Hilfe". Und bei Schülern, die sich nicht konzentrieren können, "hilft auch kein noch so tolles Projekt". Mehr als 50 Prozent bleiben in Steilshoop zwischen Klasse 10 und 13 auf der Strecke. Deswegen ist noch mehr Begleitung nötig, "damit mehr durchhalten".
Lisanne ist erkältet, kann beim Sportunterricht nur zuschauen und braucht eher keine Begleitung. Die 20-Jährige erzählt, dass sie "in der 12. Klasse noch rund 40 Schüler" waren. Jetzt sind es nicht einmal mehr 30. Sie hat vor fünf Jahren in Hannover bei der PISA-Studie mitgemacht und fand den Test damals "sehr einfach". Sie war bis vor anderthalb Jahren in Hannover auf dem Wirtschaftsgymnasium. "In Niedersachsen ist es viel strenger." Dort gibt es drei statt wie hier nur zwei Leistungskurse, bei den Klassenarbeiten hat es nicht gereicht, "nur das gelernte Wissen aufzuschreiben", und es gab sofort Kontrollanrufe, wenn man fehlte. Und hier? Sie grinst ...
Die Klasse des 13. Jahrgangs hat sich mittlerweile aufgeteilt. Zwei Stunden Wirtschaftslehre bei Amrey Depenau. Heller Raum, Computer auf den Tischen, ein Beamer wirft Fachwissen auf die Leinwand. Es geht um "Cash Flow" und "Return-on-Investment". Jeweils zu siebt haben die Schüler die beiden Themen vorbereitet, und jetzt versucht jede Gruppe, der anderen mit möglichst klaren Worten zu erklären, was es mit Jahresüberschuss, Bilanzgewinn, Rückstellungen und Umsatzrentabilität auf sich hat. Die Atmosphäre ist entspannt, die Lautstärke angenehm, die Arbeitsweise konzentriert. Ob jeder wirklich alles verstanden hat, bleibt offen. Und nicht jeder hat auch die Aufgabe aus der letzten Stunde - eine Original-Abiturfrage von 2007 - zu Hause gelöst. Einer hat den Zettel angeblich bei der Verteilung nicht bekommen, ein anderer dachte, man sollte sich das nur angucken und dann würde in der Schule darüber gesprochen. "Das müssen wir bis zum nächsten Mal optimieren, Frau Depenau", sagt Sven. Schmunzeln auf beiden Seiten. Der 21-Jährige ist über einige Umwege auf dem Wirtschaftsgymnasium gelandet und hat zur PISA-Studie seine ganz eigene Meinung. "Für den Test gab es ja keine Noten. Da haben viele vielleicht früher abgegeben, damit sie eher Schluss hatten." Sven will nach dem Abitur ein duales Studium beginnen, er findet die meisten Lehrer auf der H 20 "ganz okay" und bittet am Ende darum, doch mal einen positiven Artikel über die Schule in Steilshoop zu schreiben.Von wegen Baseballschläger und so.