Hamburg. Bei der Kollision mit einem Lkw starb im vergangenen Jahr ein 76-jähriger Radfahrer. Wäre der Unfall vermeidbar gewesen?
„O Gott, O Gott, O Gott!“ Der Fahrer des Müllwagens stammelte immer wieder diese Worte und wirkte vollkommen erschüttert. Dann rannte fassungslos im Kreis. Rastlos und entsetzt: So hat ein Kollege des Lkw-Fahrers den Zustand des Mannes wahrgenommen. Dem Fahrer muss in diesem Moment klar gewesen sein, dass er einen Menschen getötet hat. Tonnenschweres Müllfahrzeug gegen Radfahrer: Bei einer Kollision mit so einem ungleichen Kräfteverhältnis hat der Mensch keine Chance.
Der schicksalsschwere Unfall vom 13. Januar 2020 an der Rüterstraße in Wandsbek ist einer von jenen tragischen Verkehrsunglücken, wie sie in den vergangenen Jahren in Hamburg und bundesweit immer wieder geschehen sind. Ein Lkw steht an einer Kreuzung und will rechts abbiegen und übersieht dabei einen Radfahrer, der rechts von seinem Fahrzeug fährt und gleichzeitig geradeaus unterwegs ist — mit tödlichen Folgen. So soll es jetzt auch im Prozess vor dem Amtsgericht beim Fahrer des Müllfahrzeugs, Sebastian D., gewesen sein.
Prozessbeginn: Lkw überfährt Radfahrer in Wandsbek
Und die objektiven Umstände werden von dem 24-Jährigen, dem die Staatsanwaltschaft fahrlässige Tötung vorwirft, auch gar nicht bestritten. Er war da, er hat mit dem Abbiegevorgang begonnen. Und ein 76 Jahre alter Radfahrer kam bei der Kollision mit dem Müllfahrzeug um. Doch zu dem Vorwurf aus der Anklage, der Lkw-Fahrer hätte bei besserer Aufmerksamkeit und aufgrund der eingebauten Assistenzsysteme und Spiegel den Unfall vermeiden können, gibt es im Prozess unterschiedliche Ansichten.
„Es ist wohl einer Verkettung von außerordentlich unglücklichen Umständen geschuldet, dass es zum Unfall kam“, sagt die Verteidigerin von Sebastian D. Ihr Mandant, der damals mit dem Müllfahrzeug ausrangierte Tannenbäume hatte aufnehmen sollen, habe auf den Verkehr geachtet, den Radfahrer, der sich in gleicher Fahrtrichtung von rechts hinten näherte, aber nicht wahrgenommen. Der 24-Jährige sei durch das damalige Geschehen „sehr belastet“ und „vollkommen entsetzt“, erklärt die Anwältin.
Lkw-Fahrer: „Den Radfahrer habe ich nicht gesehen.“
Sebastian D. selber schildert, er habe vor dem Abbiegen sorgfältig in die Fahrzeugspiegel geblickt und sei langsam in die Kurve hineingefahren. „Den Radfahrer habe ich nicht gesehen.“ Dann habe er eine Kollision bemerkt. „Ich habe nachgeschaut, was passiert ist und unter den Zwillingsreifen ein Fahrrad gesehen, aber nicht, wo der Radfahrer ist.“ Den habe er dann unter dem Lkw gefunden.
Ein früherer Kollege des Angeklagten, der an jenem schicksalhaften Tag mit ihm unterwegs war, erzählt, er habe „mit einemmal gemerkt, dass wir über etwas hinweggefahren sind. Ich hatte keine Ahnung, was das war.“ Als er unter den Lkw schaute, „habe ich da das schreckliche Bild gesehen. Es war eine riesige Blutlache. Ich habe gemerkt, da kann ich nichts mehr tun.“ Der Fahrer habe beim Abbiegen eine angemessene Geschwindigkeit gehabt, meint der Kollege. Ein weiterer Mitarbeiter spricht von Schrittgeschwindigkeit. Er habe mitbekommen, dass es zu einer Kollision gekommen ist, als er ein „metallisches Quietschen“ hörte. Er habe unter das Müllfahrzeug gesehen und versucht, den Verunglückten anzusprechen. Es kam keine Reaktion. Der Tod des 76-Jährigen wurde noch am Kollisionsort festgestellt.
Wäre der Unfall vermeidbar gewesen?
Ein 62-Jähriger, der mit seinem Auto direkt hinter dem Müllfahrzeug an der Ampel stand, hat das Unglück offenbar kommen sehen. „Ich dachte für mich: Der Lkw-Fahrer sieht den Radfahrer nicht“, schildert der Zeuge. Der Radfahrer habe nicht gebremst, sondern nach seinem Eindruck „unbedingt vor dem Lkw rübergewollt. Er schrie zweimal ,hey’, hob die Hand. Er wollte sein Recht auf Vorfahrt durchsetzen.“ Der Angeklagte hätte den Mann auf dem Rad „nie sehen können“, ist der 62-Jährige überzeugt.
Das sieht ein Unfallanalytiker jedenfalls teilweise anders. Aus dem Fahrtenbuch des Müllfahrzeugs könne abgeleitet werden, dass der Lkw-Fahrer jedenfalls deutlich über Schrittgeschwindigkeit drauf hatte und, während er abzubiegen begann, auch nicht gebremst habe.
Die Geschwindigkeit des Radfahrers könne indes nicht genau festgestellt werden, habe aber sehr wahrscheinlich zwischen Tempo 15 und 20 gelegen. Es gibt laut Experten drei denkbare Varianten, wie sich der Unfall genau abgespielt haben kann. Bei der für den Angeklagten günstigsten hätte der Lkw-Fahrer den Radler nicht sehen können. Bei den beiden anderen Varianten hätte der Radfahrer zumindest kurz im Seitenspiegel zu sehen sein müssen. „Dann wäre der Unfall vermeidbar gewesen.“ Der Prozess wird fortgesetzt.