Hamburg. 420 Polizisten im Einsatz. Mediziner sollen teure Autos und kostenlose Praxisräume erhalten haben. Verdacht auf kriminelles System.

Großrazzia gegen Korruption und Betrug bei Arzneimitteln: Rund 420 Polizisten haben am Dienstagmorgen insgesamt 47 Arztpraxen, Apotheken, eine Klinik und den Geschäftssitz eines Hamburger Pharmaunternehmens durchsucht. Im Raum steht der Verdacht der Bestechung und des Abrechnungsbetruges bei Krebsmedikamenten. Der Schaden soll sich auf einen hohen Millionenbetrag belaufen.

Die Durchsuchungen fanden ab 9 Uhr gleichzeitig an den Objekten in Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen statt. Ziel der Aktion war es, Beweise zu sichern. „Die Ermittlungen richten sich gegen 14 Personen“, sagte Oberstaatsanwältin Nana Frombach dem Abendblatt. Darunter seien zwei Geschäftsführer des Pharmaunternehmens, neun Ärzte und drei Apotheker.

„Es gibt kriminelle Apotheker, und das ist eine absolute Sauerei.“

Nach Abendblatt-Informationen gehen die Ermittler von einem mehrstufigen System krimineller Machenschaften aus. Demnach soll die Pharmafirma einzelne Ärzte mit Zahlungen in Höhe von mehr als 500.000 Euro sowie mit „rückzahlungsfreien Darlehen, der Nutzung luxuriöser Fahrzeuge oder anderen geldwerten Zuwendungen“ bestochen haben. Im Gegenzug soll das Unternehmen über eine konzernnahe Apotheke in Jenfeld lukrative Rezepte für Krebsmedikamente (Zytostatika) erhalten und diese illegal bei den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet haben.

Die Geschäftsführer des verdächtigen Unternehmens ließen eine schriftliche und telefonische Bitte des Abendblattes um eine Stellungnahme unbeantwortet. Einer von ihnen hatte vor mehreren Jahren dem Abendblatt gesagt: „Es gibt kriminelle Apotheker, und das ist eine absolute Sauerei.“

Größte Razzia in der Geschichte der Abteilung für Wirtschaftskriminalität

Es sind kaum 200 Meter zum Ufer der Außenalster – ein moderner Bürokomplex mit Glasfassade. Hier residiert ein Hamburger Konzern, der zu den Marktführern im Bereich der Infusionen für Krebspatienten gehört. Bereits seit Stunden durchkämmen Beamte am Dienstagnachmittag die Büroräume. Sie fordern einen Lastwagen an, um eine enorme Zahl an möglichen Belegen für Betrug und Korruption im Arzneiwesen transportieren zu können.

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Die Durchsuchung von insgesamt 47 Objekten ist die größte Razzia in der Geschichte der Abteilung für Wirtschaftskriminalität bei der Staatsanwaltschaft. Nach Abendblatt-Informationen gingen bereits 2017 zwei anonyme Anzeigen mit schweren Vorwürfen bei der Polizei ein, dass sich der Konzern, Apotheker und Ärzte systematisch bei der Krebstherapie bereicherten. Im Mai 2018 folgte das förmliche Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Die gestrige Aktion wurde über Monate vorbereitet.

Luxus-Autos und kostenlose Praxen für bestochene Ärzte

Die beschuldigte Firma beschäftigt insgesamt rund 500 Mitarbeiter, der Umsatz wird von Insidern auf 500 Millionen Euro pro Jahr geschätzt. Ein großer Teil davon stammt aus dem Verkauf von Krebsmedikamenten. Diese „Zytostatika“ genannten Arzneien werden unter streng dokumentierten Laborbedingungen eigens für Patienten hergestellt und sind sehr teuer. Die gesetzlichen Krankenkassen erstatten die Behandlungskosten. Eine Krebstherapie kann mitunter 100.000 Euro kosten. Die nun verdächtigte Firma belieferte auch mehrere Krankenhäuser mit den Medikamenten.

Mindestens seit Januar 2017 soll das Unternehmen ein illegales Netzwerk betrieben haben. Im Kern des Verfahrens steht der Verdacht, dass Ärzte bestochen worden sein sollen – und diese im Gegenzug ihre Patienten die Infusionen von Apotheken beziehen ließen, die ebenfalls zu dem Firmengeflecht des Konzerns gehören.

Im Fokus der Ermittlungen steht auch eine Klinik im Hamburger Osten

Nach Abendblatt-Recherchen sind in den Durchsuchungsbeschlüssen eine ganze Reihe von mutmaßlichen Zuwendungen aufgeführt, die die Ärzte erhalten haben sollen: Unter anderem kostenlose Arztsitze und Praxisräume, technisches Gerät, aber auch die „Nutzung luxuriöser Fahrzeuge“. Dies ist jedoch nur eine Ebene des vermuteten kriminellen Netzwerkes. Im Fokus der Ermittlungen stehen auch die Beteiligungen des Konzerns an einer Klinik im Hamburger Osten.

Dieses Krankenhaus soll wiederum mindestens ein medizinisches Versorgungszentrum betreiben, in dem ebenfalls eingeweihte Ärzte gearbeitet haben sollen und ihre Patienten möglicherweise an die „bevorzugten“ Apotheken weiterleiteten. Mit dem Geflecht umging der Konzern demnach offenbar das Verbot, dass die Versorgungszentren nicht von den Apothekern betrieben werden dürfen. Strafrechtlich lautet der Vorwurf auf Bestechung und Bestechlichkeit sowie auf bandenmäßigen Betrug, da die ausgestellten Rezepte letztlich illegal gewesen seien.

Techniker Krankenkasse hat eigene Ermittlungsgruppe

Ärzte, die auch in dem betroffenen Krankenhaus arbeiten, verweigerten ebenso wie die Geschäftsführer des Pharmaunternehmens gegenüber dem Abendblatt einen Kommentar zu den Ermittlungen. Der Schaden allein für die Techniker Krankenkasse (TK) soll sich nach ersten Rechnungen der Ermittler auf mehr als acht Millionen Euro belaufen. Die Techniker Krankenkasse hat die Summe bislang nicht bestätigt.

Die Krankenkasse hat eine eigene Ermittlungsgruppe, die schon vor Jahren einen groß angelegten Betrug mit Krebsmedikamenten aufdeckte. Zuletzt war ein Hamburger Apotheker wegen bandenmäßigen Betrugs zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden, der mit Ärzten ein illegales Konstrukt erdacht hatte, um Krebsmedikamente abzurechnen. Sein Verteidiger wollte Revision einlegen.

Illegal abgerechnete und überteuerte Medikamente?

In diesem Fall hatte der Apotheker faktisch Kontrolle über das Verschreibungsverhalten der Ärzte in einem Medizinischen Versorgungszentrum erlangt. Von den jetzt beschuldigten Managern der Hamburger Pharmafirma hatte einer vor Jahren dem Hamburger Abendblatt angesichts einer Enthüllung über Betrug mit Krebsmedikamenten gesagt: „Es gibt kriminelle Apotheker, und das ist eine absolute Sauerei.“ Die Techniker Krankenkasse hatte damals die Ermittlungen zu gefälschten Zytostatika ins Rollen gebracht. Damals ging es um billige Inhaltsstoffe, die teuer abgerechnet wurden.

Die Behandlung von Krebspatienten war damals und ist auch heute offenbar nicht von den mutmaßlichen Ungereimtheiten betroffen. Es geht „nur“ um das Konstrukt von Rezeptstellung und Abrechnung. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagte, es gebe bislang keine Hinweise darauf, dass etwa die Kon­zentration der Wirkstoffe in den Medikamenten mangelhaft war. Die Ermittlungen seien jedoch in keiner Weise eingeschränkt – das betreffe etwa die Frage, ob die Rezepte nicht nur illegal abgerechnet wurden, sondern auch überteuert gewesen sein könnten.

Auch mehrere Privathäuser wurden durchsucht

Ob die anonymen Anzeigen in dem aktuellen Fall ebenfalls von der Techniker Krankenkasse stammen könnten, ist unklar. Laut Staatsanwaltschaft waren von der Großrazzia auch Privathäuser betroffen. Allein an einem Standort der Durchsuchung wurden rund 100 Umzugskartons mit beschlagnahmten Dokumenten Abrechnungen und Datenträgern gefüllt. „Die Auswertung des beschlagnahmten Materials wird eine längere Zeit in Anspruch nehmen“, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft.