Hamburg. Ein Spezialteam der Polizei versucht, den Verkehr mit kleinen Mitteln im Fluss zu halten. Mancherorts eine unmögliche Mission.
Wer wissen will, was es mit „Verkehrsflussoptimierung“ auf sich hat, sollte eine Runde mit dem gleichnamigen neuen Autobahn-Team der Polizei drehen. Während einer Kontrollfahrt durch ihr Einsatzgebiet, die Tunnelstrecke der Autobahn 7 zwischen Schnelsen und Heimfeld, liefern die Hauptkommissare Carsten Heinrichs und Holger Winkler reihenweise Beispiele dafür, was sie und ihre Kollegen von der zentralen Straßenverkehrsbehörde unternehmen, damit die Räder auf der kilometerlangen Dauerbaustelle zuverlässig rollen: Bei Waltershof haben sie eine Auffahrt verlängert, im Stellinger Tunnel haben sie dafür gesorgt, dass Laster überholen dürfen und die Fahrspuren im gesamten Baustellenbereich der A 7 mit 3,25 Metern extrabreit sind. Zwischendurch klopfen sie Bauträgern auf die Finger, wenn die sich mit dem Rückbau einer Baustelle mal wieder zu viel Zeit lassen.
Es sind Maßnahmen, die man nicht auf Anhieb sieht, aber von denen alle profitieren, denn sie dienen primär einem Zweck: den Verkehr im Fluss zu halten. Hat man den Verkehrsverantwortlichen bisher zugehört, klang es wie ein Mantra: Die marode Infrastruktur, die kaputten Straßen also, müsse um jeden Preis „ertüchtigt“ werden. Daran hat sich nichts geändert.
Tschentschers Klage gab den Anstoß
Doch seit Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) öffentlich klagte, die ganze Situation gehe ihm auf die Nerven, ist auch dem letzten Funktionär klar geworden, dass es ein „Weiter so“ nicht geben wird. Allein 80 Großbaustellen zur Sanierung des Straßennetzes bringen den Verkehr regelmäßig aus dem Takt. Im Dezember, zwei Monate nach Tschentschers Diktum, beschloss der Senat, die Koordinierung der Baustellen und den Verkehrsfluss in der Stadt zu verbessern. Von den vereinbarten 24 Maßnahmen sind bisher 13 umgesetzt. Und zu diesem „Paket“ gehört auch der erste „Verkehrsflusskoordinator“ in der Geschichte der Hamburger Polizei.
Polizei steht vor Herausforderungen
Polizeipräsidium, erster Stock. Hauptkommissar Thorsten Keller (51) sitzt an einem Donnerstagmorgen Anfang Juni in seinem Büro und brütet über den ausgedruckten Meldungen des Tages. Bis vor drei Monaten hat er in der Grundsatzabteilung unter anderem parlamentarische Anfragen bearbeitet. Jetzt soll er sich als „Verkehrsflusskoordinator“ in enger Kooperation mit der Verkehrsbehörde und dem Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) darum kümmern, dass es flutscht auf den Straßen der Stadt.
Fließender Verkehr und ein kluges Baustellenmanagement sind die Vision, Stillstand und Chaos viel zu oft die Realität. „Uns ist sehr bewusst, dass wir auf dem bisherigen Stand nicht stehen bleiben können, sondern uns weiterentwickeln müssen, um mit den Herausforderungen einer wachsenden Stadt erfolgreich umzugehen“, sagt Polizeisprecher Timo Zill.
Drei Konferenzen in vier Stunden
Um 8.30 Uhr liegt vor Keller das, was ihm potenziell Stress bereiten könnte, ein DIN-A4-Zettel mit allen Sonderlagen. Darauf steht: zehn Kilometer Stau auf der A 7 vor dem Elbtunnel Richtung Norden; sechs Kilometer bei Schnelsen Richtung Süden; zwei Kilometer stockender Verkehr auf der Veddel. Und so weiter. Ein ruhiger, ein normaler Tag auf Hamburgs Straßen – relativ gesehen.
Vor Keller liegen vier Stunden mit drei Konferenzen. Die erste bringt ihn mit den zentralen Akteuren der Verkehrsbehörde zusammen, mit Verkehrskoordinator Christian Merl und dem Leiter der Koordinierungsstelle für alle Baumaßnahmen in der Stadt (KOST), Jeff Marengwa. Üblicherweise tauschen sie sich bei einer Videokonferenz aus, sie ist das „Herzstück“ der neuen Zusammenarbeit.
Revolutionäre Art der Vernetzung
Doch weil das Internet nicht funktioniert, müssen die zentralen Fragen heute am Telefon geklärt werden: Wo haben sich große Unfälle ereignet, welche Baustellen könnten Probleme bereiten? Wie gelingt es, Störungen durch Baustellen zu beseitigen oder, besser noch: zu vermeiden? Erst wenn man versteht, wie Behörden arbeiten – gefangen in einem Korsett eigener Regeln und Zuständigkeiten –, ahnt man, dass sich mit dieser neuen Art der Vernetzung eine kleine Revolution anbahnt. „Bis vor Kurzem hieß es, ich habe noch keine Akte! Heute kommen wir auf dem kleinen Dienstweg zu guten Lösungen“, sagt Keller. Per Mail und Telefon stehe er mit den Behörden permanent im Austausch.
Entescheidungen auf dem kleinen Dienstweg
In der Konferenz hat Keller das Telefon auf laut gestellt, damit das Abendblatt mithören kann. Auf der Querung der B 5 über die A 1 sei der Asphalt an einer Stelle aufgeplatzt, berichtet Merl. Weil dort zwei Brücken abgerissen und neu gebaut werden, hat die Polizei auf der B 5 einen verkehrslageabhängigen Wechselverkehr installiert. Um die Schadstelle zu reparieren, muss der Verkehr für rund 24 Stunden in beide Richtungen über je eine Spur laufen.
„Dann lassen Sie es uns nach der Pfingst-Reisewelle machen“, schlägt Keller vor. Merl stimmt zu. Es klingt banal, aber so geht kleiner Dienstweg. Oder auch so: Neulich war die Müllabfuhr während der Rushhour auf einer Magistrale unterwegs und blockierte den Verkehr. Da habe er Marengwa angerufen, und der habe den Fall an die Stadtreinigung weitergegeben – die Tour wurde kurzfristig geändert, der Verkehr konnte wieder fließen.
Ein Zusammenspiel wie im Orchester
Keller vergleicht die neuen Abläufe gern mit dem Zusammenspiel in einem Orchester. Jeder muss wissen, wann er wie was spielt, nur so entstehe Harmonie, sprich: mehr Effizienz bei der Beseitigung baustellenbedingter Störungen. Dazu muss er aber auch die Parts aller Akteure kennen und vor allem wissen, was auf der Straße los ist. Um 9.15 Uhr eilt Keller deshalb gleich in die nächste Konferenz, die sogenannte Morgenlage.
An einem großen Tisch hat Ulf Schröder, Leiter der Verkehrsdirektion (VD) und Chef von 400 Beamten, seinen Stab versammelt, ein Raum, vollgestopft mit Monitoren, auf denen die Kamerabilder der Verkehrsüberwachung einlaufen. Die Kontrollgruppe Autoposer meldet die Festnahme eines Intensivtäters; der Hofweg ist durch die Sperrung der Krugkoppelbrücke wieder gerammelt voll, der Hafen dicht. Es ist wie so oft: nicht gut. Könnte aber auch schlimmer sein.
Das Übel mit zugefahrenen Kreuzungen
Nicht so schlimm sieht für den Laien aber auch nicht gut aus. In einer Hamburg-Karte, die eine riesige Bildschirmwand ausfüllt, leuchten eine Vielzahl gelber und roter Straßen auf. Gelb steht für stockenden Verkehr, rot für Stau, schwarz bedeutet: Sperrung. Wenn ab Freitag die A 1 zwischen dem Dreieck Süd und dem Kreuz Ost für Abrissarbeiten 55 Stunden lang voll gesperrt wird, wird die Karte rot-gelb glühen wie die Oberfläche der Sonne. So viel ist sicher.
Doch jetzt, im Alltagsgeschäft, beschäftigen Schröder andere Dinge, etwa die Kreuzung Wandsbeker Marktstraße/ Ring 2. Wegen einer Baustelle und einer provisorischen Ampelschaltung geht es dort nur schleichend voran. Viele Autofahrer versuchen kurz vor Rotlicht auf die Kreuzung zu huschen und verstopfen sie nur. „Zugefahrene Kreuzungen sind eine der Hauptursachen für Stau in der Stadt“, sagt Schröder. „Irgendwie irrational“ sei das, denn solche (verbotenen) Manöver bringen keinen zeitlichen Gewinn. Sie bringen nur Ärger.
Baustellen und Fehlverhalten ergänzen sich
Für Keller geht es gleich weiter – in der Telefonschalte mit den Regional-Kommissariaten gibt er zum dritten Mal an diesem Tag Infos weiter und bekommt Infos zurück. Die Kollegen haben nicht viel zu berichten: stockender Verkehr in einem Baustellenbereich auf der Kieler Straße, ähnlich sieht es im teilgesperrten Osdorfer Weg aus.
Keller lässt die zugefahrene Kreuzung keine Ruhe. „Könnt ihr da noch mal schauen?“, bittet er seinen Kollegen in Wandsbek. Das Szenario ist ein griffiges Beispiel: Es verdeutlicht, in welch fataler Weise sich eine Baustelle als Störfaktor und das Fehlverhalten mancher Autofahrer ergänzen können.
Jede Entscheidung hat Folgen
Um auf Belastungsspitzen zu reagieren, gibt es die Verkehrsleitzentrale, kurz VLZ. Keller arbeitet eng mit ihr zusammen. Die 2013 modernisierte Schaltstelle im Präsidium ist ein Panoptikum des Hamburger Verkehrs. In einem klimatisierten Raum mit einem riesigen Bildschirm laufen alle Infos zusammen, rund 50.000 Verkehrsmeldungen gehen pro Jahr an die Radiosender raus. Die VLZ kann auf 84 schwenk- und zoombare Verkehrskameras zugreifen, einige Dutzend übertragen ihre Bilder zeitgleich ins Polizeipräsidium.
Die Polizisten können von hier aus in die Steuerung der fast 1800 Ampeln in der Stadt eingreifen, wenn es die Verkehrslage erfordert – jährlich geschieht das rund 90.000-mal. Bei Staulagen auf der Autobahn – sie sind die Laufbänder für die täglich rund 400.000 Hamburg-Pendler – werden die Ampeln im nachgeordneten Netz so geschaltet, dass der Verkehr fließen kann. Aber was tun, wenn mehr Akteure im Spiel sind als auf der Autobahn? Wer hat etwa nach einem Unfall in der belebten Innenstadt Vorrang, damit der Verkehr abfließen kann? Die Autofahrer, die Busse, die Fußgänger oder die Radfahrer? Jede Entscheidung habe Folgen - und natürlich profitieren nicht alle Akteure, sagt Jörn Clasen, stellvertretender VLZ-Chef. Ähnlich dem Schmetterlingseffekt können auch die Effekte einer scheinbar marginalen Störung so weitreichend wie unabsehbar sein.
Bizarre Störung durch A-7-Schweller
Was er damit meint, veranschaulichen Carsten Heinrichs und Holger Winkler auf ihrer A-7-Tunnelstrecke. Bei Waltershof, kurz vor der Einfahrt zum Elbtunnel in Richtung Norden, steigen sie aus dem Auto und zeigen auf zwei Stahlplatten, die sich über der Fahrbahn erheben. Dort werden zurzeit Brückenelemente getauscht, die sogenannten Lamellen. Die Stahlplatten decken die Reparaturstellen ab und gestatten tagsüber ein Überfahren. Besser bekannt sind die Platten als „Schweller des Grauens“, wie die „Hamburger Morgenpost“ titelte.
Die Schweller, die am Freitagmorgen endlich demontiert werden sollen, sorgen täglich für eine bizarre Störung. Viele Autofahrer bremsen ab und schleichen mit nur 30 km/h über die Schweller – obwohl ein Schild 60 km/h erlaubt. „Das Tempo ist sicher, das haben wir getestet“, sagt Winkler. Die Folge: Bremst der Vordermann, bremst der Hintermann, bremsen bei dichtem Verkehr alle, irgendwann stehen die Fahrzeuge bis tief in den Hafen. Um die Staustelle zu entschärfen, haben die Beamten die Auffahrt bei Waltershof auf 500 Meter bis hinter die Schweller verlängert und so praktisch eine vierte Spur geschaffen. Doch viele Autofahrer scheren zu früh nach links ein, statt die volle Länge der Auffahrt zu nutzen. So gerät aber der Verkehr auf der Hauptspur ins Stocken.
Die Beamten wissen, dass mitunter minimale Eingriffe genügen, um eine Staulage zu entzerren. Heinrichs und Winkler haben gelernt, den Verkehr zu lesen. Wo die Bürger nur den Stau sehen, sehen die Beamten das große Ganze: Abhängigkeiten, vermeidbare Hindernisse, Stellschrauben. Den Verkehrsfluss optimieren, ist kein leichter Job, denn auf der A 7 schlägt der Puls rasant. „Schwachlastphasen gibt es am Tag gar nicht mehr“, sagt Heinrichs.
Im Stellinger Tunnel dürfen Lkw neuerdings überholen
Am Dreieck Nordwest, mit rund 140.000 Fahrzeugen pro Tag der meistbefahrene Autobahnabschnitt Deutschlands, präsentieren sie ihr Lieblingsprojekt. Sie stehen dort, wo sich die A 7 und die A 23 touchieren, wenige Hundert Meter vor dem Stellinger Tunnel. In Deutschland gilt: Im Tunnelbereich dürfen Lkw nicht überholen. Weil die nach rechts drängenden Lkw vor der Tunneleinfahrt immer wieder den Verkehr behinderten, befürworteten die Beamten eine Ausnahmegenehmigung für den dreispurigen Tunnelabschnitt – und deshalb dürfen dort seit Anfang Mai auch Laster überholen. „Dadurch hat sich die Staulage massiv verbessert, die Verkehrsunfallgefahr deutlich reduziert“, sagt Heinrichs.
Seit das Verkehrsmanagement Vorfahrt hat beim Senat, scheint bei der Polizei auch personell alles möglich zu sein: Heinrichs und Winkler erhielten drei neue Kollegen; 16 Mitarbeiter werden bald eingestellt, die sich um die neue Software Roads kümmern. Mit Roads lassen sich sämtliche Bauprogramme in der Stadt frühzeitig und behördenübergreifend abstimmen, Wechselwirkungen mit dem Verkehr besser erkennen. Weitere 20 neue Mitarbeiter sollen demnächst die Beamten bei der Kontrolle des ruhenden Verkehrs unterstützen. Bereits im Januar ist die Polizei angewiesen worden, konsequenter gegen Zweite-Reihe-Parker einzuschreiten, die Straßen nach Unfällen rascher als bisher freizuräumen und die Unfallaufnahme zu straffen.
Die Polizei sehe das Maßnahmenpaket als „echte Chance, zu einer spürbaren Verbesserung im Straßenverkehr zu kommen“, sagt Zill. Allzu große Erwartungen dämpft der Polizeisprecher jedoch, zumal nach Abendblatt-Informationen weitere Riesenbaustellen drohen. So wird etwa vom 27. Juni an die Rentzelbrücke in Fahrtrichtung Messe wegen Kabelarbeiten gesperrt, in der Woche davor und vom 22. Juli bis 5. August wird der Verkehr in beide Richtungen einspurig an der Baustelle vorbeigeleitet. Zill: „Bei allem Optimismus muss man aber auch sagen, dass wir immer wieder stärkere Auswirkungen für den Autofahrer haben werden, weil wir weiterhin auch größere Baustellen benötigen, um unser Straßennetz zukunftsfähig zu machen.“