Hamburg. In dem Mordprozess will der Todesraser jeden Bezug zu seiner Tat vermeiden. Doch der Richter will es genau wissen.
Als im Gerichtssaal 237 des Strafjustizgebäudes das Licht erlischt, starrt Ricardas D. (25) auf den Tisch vor der Anklagebank. Der Vorsitzende Richter hat ihm angeboten, dass er seinen Platz verlassen darf, um den Film besser sehen zu können, der hinter ihm auf der Wand eingespielt wird. Doch Ricardas D. lehnt ab. Offenbar will der Litauer weiter jeden Bezug zu seiner Tat vermeiden.
An den Unfall, den er in den Morgenstunden des 4. Mai 2017 mit einem gestohlenen Auto anrichtete. Einen Crash, der einen Menschen das Leben kostete und zwei andere schwer verletzte. Und der nun dazu führt, dass sich Ricardas D. wegen Mordes vor dem Landgericht verantworten muss.
Die Bilder stammen aus einer sogenannten Dashcam, einer Videokamera, die auf dem Armaturenbrett oder an der Windschutzscheibe eines Autos angebracht wird. Sie zeigen die wilde Verfolgungsjagd aus dem Blickwinkel des Streifenwagens, den die Polizeibeamten K. und M. steuerten.
Nur schemenhaft ist das gestohlene Taxi zu entdecken, das gegen 4 Uhr aus Barmbek Richtung Alster raste. Die schlechte Bildqualität ist vor allem der enormen Geschwindigkeit geschuldet, mit der Ricardas D. unterwegs war. „Das Taxi fuhr wahnsinnig schnell“, sagt Polizist K. So schnell, dass die Besatzung des Streifenwagens den Abstand größer werden lassen musste. „Sonst hätten wir uns und andere Verkehrsteilnehmer gefährdet“, sagt K.
Wann hatte der Todesfahrer das Auto nicht mehr unter Kontrolle?
Laut Gutachter war Ricardas D. mit Tempo 145 unterwegs, als sich sein Taxi am Ballindamm in das Taxi von Mehmet Y. bohrte, der gerade zwei Angestellte aus der Bar Ciu als Fahrgäste aufgelesen hatte. Polizist K. hält es sogar für möglich, dass Ricardas D. unmittelbar zuvor auf dem Mundsburger Damm noch schneller gefahren war, womöglich mit Tempo 160. Doch es sind nur Schätzungen. Sein Kollege M. spricht von einem „Tunnelblick“ angesichts der extremen Verfolgungsjagd, er habe nicht mehr auf den eigenen Tacho schauen können.
Der Vorsitzende Richter hakt immer wieder nach, lässt das Video mehrfach stoppen und dann in Zeitlupe laufen. Wie oft hat Ricardas D. das Rotlicht einer Ampel ignoriert? Hatte er das Taxi kurz vor dem Unfall noch unter Kontrolle? Wurden Passanten oder andere Autofahrer gefährdet?
Für das Urteil sind diese Fragen von großer Bedeutung. Für den Mordvorwurf ist entscheidend, ob Ricardas D. den Tod eines anderen „billigend in Kauf genommen hat“, wie es im Juristen-Deutsch heißt. Je rücksichtsloser der Litauer unterwegs war, umso mehr erhärtet sich genau dieser Vorwurf.
„Wir sahen nur noch eine Staubwolke“
Unter diesem Blickwinkel war dieser Verhandlungstag für die Strategie des Verteidigers eine Niederlage. Polizist K. sagt, dass Ricardas D. schon am Schwanenwik fast die Gewalt über sein Fahrzeug verloren hätte. „Bei der Geschwindigkeit war das ein reines Glücksspiel.“ Zudem fuhr der Litauer bei seiner Flucht ohne Licht. Ungebremst habe Ricardas D. das Taxi in den Gegenverkehr am Ballindamm gesteuert: „Wir sahen dann nur noch eine Staubwolke.“
Als die Polizisten Sekunden später am Unfallort eintrafen, habe Ricardas D. noch seine Hand durch das zerborstene Fenster des Taxis gestreckt. „Ihm ging es beim ersten Augenschein deutlich besser als dem Fahrer und seinen Fahrgästen im anderen Taxi.“ Sebastian Z. hat seine lebensbedrohlichen Kopfverletzungen weitgehend auskuriert. Taxifahrer Mehmet Y. ist nach Wirbelbrüchen und weiteren Frakturen noch in der Reha, will aber in Kürze wieder arbeiten.
Geschädigte fordern Schmerzensgeld
Offen bleibt, ob sich Ricardas D. noch einmal äußern wird. Über seinen Anwalt hatte er am ersten Verhandlungstag ausrichten lassen, wie sehr er den Unfall bedauere: „Das lastet schwer auf seinem Gewissen. Es fällt ihm schwer, sich zu entschuldigen, weil ihm die Worte dafür fehlen. Er bedauert außerordentlich, was er getan hat.“ An den Tathergang will sich Ricardas D. nicht mehr erinnern können.
Mit dem Strafprozess allein wird die juristische Akte nicht geschlossen. Es geht auch um die zivilrechtlichen Ansprüche der Geschädigten. Sowohl Taxifahrer Yilmaz D. als auch Barkeeper Sebastian Z. verlangen Schmerzensgeld und Verdienstausfall. Der Mutter des getöteten Barkeepers John B. geht es gesundheitlich sehr schlecht. Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie hat sie nun auch noch ihren Arbeitsplatz verloren. „Sie ist nach wie vor zutiefst erschüttert“, sagt ihr Anwalt Gregor Maihöfer.