Hamburg. Lastwagen-Fahrer rast in Stauende und rammt das Auto nahe der Ausfahrt Öjendorf. Vater, Mutter und beide Kinder sind sofort tot.
Eine Hamburger Familie, ausgelöscht im Bruchteil einer Sekunde. Wolfgang B., ein 57 Jahre alter Lehrer aus Neuallermöhe, seine Frau (56), die Tochter (13) und der Sohn (17) – sie alle kamen am Montagabend auf der A 1, auf Höhe der Ausfahrt Öjendorf, nach der Kollision mit einem Laster ums Leben. Allein der Anblick ihrer bis zur Unkenntlichkeit verformten Großraumlimousine ließ nur einen Schluss zu: Die vier Insassen des Citroën Xsara Picasso hatten nicht den Hauch einer Chance.
Die Familie von Wolfgang B. war gegen 23 Uhr auf dem Rückweg von einem Konzert. Nahe der Ausfahrt Öjendorf staute sich der Verkehr in südlicher Richtung. Ein Lasterfahrer (37) bremste wegen des Stauendes, kam zum Stehen, auch Wolfgang B. ging vom Gas. Plötzlich raste ein zwölf Tonnen schwerer Gemüselaster von hinten in den Van und drückte ihn unter den Auflieger des vor ihm stehenden Lasters. Die eigentlich stattliche Limousine – 4,30 Meter lang – wurde auf eine Länge von 1,50 Metern zusammengestaucht.
Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Tötung
Wenig später wimmelte es am Unfallort vor Polizisten und Feuerwehrleuten. Nach kurzer Sichtung durch den Notarzt stand fest, dass es bei dem Einsatz nicht um eine Rettung, sondern nur noch um eine Bergung ging – am Unfallort erklärte er die Insassen für tot. „Der Unfall und der Zustand des Pkw“, heißt es in dem Lagebericht der Feuerwehr, „waren nicht mit dem Leben zu vereinbaren.“ Die beiden beteiligten Lasterfahrer erlitten einen Schock. Gegen den Unfallverursacher (46) ermittelt die Polizei wegen fahrlässiger Tötung.
Noch ist unklar, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Sah der Lasterfahrer das Stauende nicht? Versuchte er zu bremsen? Oder überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf Höhe der Unfallstelle?
Der Aufprall jedenfalls muss brachial gewesen sein. Die Karosserie des Citroëns war derart verzogen, dass die Leichen nicht am Unfallort geborgen werden konnten. Die Feuerwehr musste das Wrack zur Feuerwehrakademie in Billbrook transportieren und dort mit schwerem Gerät auseinanderziehen. Der Schreck hätte kaum größer sein können, als die Beamten im Fußraum der Limousine eine vierte Leiche entdeckten – zunächst war von drei Todesopfern die Rede. Sie kamen zur Identifizierung ins Institut für Rechtsmedizin.
An der Stadtteilschule Neuallermöhe herrschte Entsetzen
Glück hatte offenbar die Austauschschülerin der Familie, die in einem dreigeschossigen Reihenhaus am Fanny-Lewald-Ring lebte. Die 20 Jahre alte Engländerin sollte ursprünglich zu dem Konzert mitfahren, hatte dann aber keine Lust. Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams des Roten Kreuzes überbrachten die vierfache Todesnachricht am Dienstagmorgen und kümmerten sich anschließend um die junge Frau.
Nachbarn des Lehrers reagierten schockiert, auch wenn viele ihn, seine Frau und die Kinder nur vom Sehen kannten. An der Stadtteilschule Neuallermöhe, wo der 57-Jährige Lehrer war, herrschte Entsetzen. Zwei Tage vor den Sommerferien erfuhren die Schüler seiner achten Klasse und das Kollegium, dass der Lehrer und seine ganze Familie tot sind. „Mit großer Bestürzung und noch viel größerer Trauer haben wir heute vom Tod unseres geschätzten und beliebten Kollegen erfahren. Wir sind fassungslos und unendlich traurig“, teilte die Schule mit.
Der Unfall ist eine Tragödie, wie sie Hamburg lange nicht erlebt hat und selbst erfahrene Feuerwehrleute bis ins Mark erschüttert. „Eine ganze Familie ist gestorben, das steckst du nicht leicht weg“, sagte ein Feuerwehrmann dem Abendblatt. Zudem sei der Anblick der Leichen kaum zu ertragen gewesen.
23 Prozent der tödlichen Unfälle 2015 von Lkw verursacht
Zur Feuerwehrakademie waren auch zwei Mitarbeiter der Spezialeinsatzgruppe „Gesprächsnachsorge“ und eine Notfallseelsorgerin geeilt. Nicht wenige der 30 zur Bergung der Leichen eingesetzten Feuerwehrleute nutzten die Möglichkeit, mit ihnen über das Geschehene und Gesehene zu sprechen. Die Einheit unter Leitung von Peter Moh hilft seit Mitte der 90er-Jahre Feuerwehrleuten, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. „Wir erklären ihnen beispielsweise, zu welchen Stressreaktionen es auch lange nach dem Ereignis noch kommen kann“, sagt Moh. Er ist seit 1988 Feuerwehrmann. „Einen vergleichbaren Einsatz“, sagt Moh, „habe ich in all den Jahren nicht erlebt.“
Zwar steht noch nicht fest, wie hoch die Geschwindigkeit beim Aufprall des Zwölftonners am Montag war. Um einen derart brachialen Schaden zu verursachen, müsse ein Laster aber weder besonders schwer noch besonders schnell sein, sagt Christian Hieff, Sprecher des ADAC Hansa. Er verweist auf einen ADAC-Crashtest, bei dem ein nur 5,5 Tonnen schwerer und 70 km/h schneller Lkw mit zwei Pkw kollidierte. „Beide Pkw waren danach nicht mehr zu erkennen“, sagt Hieff. „Jeder Insasse wäre bei einem solchen Unfall zweifelsohne tödlich verletzt worden.“
23 Prozent der tödlichen Unfälle in Deutschland wurden 2015 von Lkw mit mehr als 3,5 Tonnen verursacht – das entspricht dem prozentualen Anteil des Schwerlastverkehrs. Um die meist erheblichen Schäden zu reduzieren, ist seit November 2015 ein Notbremsassistent für neue Laster verpflichtend. Das System misst fortlaufend den Abstand zum vorderen Fahrzeug, verringert er sich zu schnell, warnt eine Kaskade von optischen und akustischen Signalen vor einer drohenden Kollision. Reagiert der Fahrer nicht, greift die Technik ein: Das Fahrzeug wird automatisch abgebremst. „Dieses System ist ein Riesensicherheitsgewinn“, sagt Hieff. Insgesamt gab es nach Angaben des Statistikamts Nord 2015 auf den Autobahnen in Hamburg 120 Auffahrunfälle mit Personenschaden – viele ereigneten sich am Stauende. „Bei diesen Unfällen“, sagt Hieff, „besteht ein deutlich erhöhtes Todesrisiko.“ Der ADAC rät Autofahrern daher, in solchen Situationen besonders wachsam zu sein, die Warnblinkanlage einzuschalten, den rückwärtigen Verkehr im Auge zu behalten – viel mehr könne man aber auch nicht tun: Der Autofahrer sei der Situation eher „hilflos ausgeliefert“.