Hamburg. Die Zahl der Gewalttaten steigt in den Bildungseinrichtungen rasant. Woher das kommt und welche Maßnahmen Pädagogen jetzt fordern.

  • Fälle von Körperverletzungen, Rauben und Sexualdelikten steigen an Schulen in Hamburg
  • Die Schulbehörde meldet rund doppelt so viele Fälle wie vor der Pandemie
  • Gymnasien kaum betroffen. Starker Anstieg an Stadtteil- und Grundschulen

Vor einigen Tagen hat ein zwölfjähriger Schüler auf dem Gelände einer Niendorfer Schule einen Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr ausgelöst: Der Junge, der sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden haben soll, hatte eine Bastelschere an einen Besenstiel gebunden und damit einen Mitschüler und einen Lehrer bedroht.

Einem Schulbegleiter gelang es, den Jungen in einem Raum zu isolieren, ehe Polizeibeamte ihn überwältigen konnten. Verletzt wurde niemand. Nicht immer gehen Gewalttaten und Bedrohungslagen an Schulen derart glimpflich aus. Seit dem Ende der Corona-Pandemie ist die Zahl von Körperverletzungen, Rauben und Sexualdelikten deutlich gestiegen – auch gegenüber der Vor-Corona-Zeit.

219 Gewaltvorfälle an Schulen in Hamburg im Schuljahr 2023/24

Im vergangenen Schuljahr 2023/24 wurden 219 Gewaltvorfälle an Schulen registriert, wie die Schulbehörde auf Abendblatt-Anfrage mitteilte. Der größte Teil entfiel mit 136 Fällen auf gefährliche und schwere Körperverletzungen. In 60 Fällen wurde wegen Sexualdelikten ermittelt, in 23 Fällen ging es um Raub oder Erpressung.

Zum Vergleich: Gegenüber dem vorangegangenen Schuljahr 2022/23 (201 Taten) stieg die Gesamtzahl um neun Prozent. Im Schuljahr 2021/22 gab es 173 Gewaltvorfälle. Im Schuljahr davor, als die Schulen während der Pandemie zum Teil geschlossen waren, wurden nur 73 Gewalttaten auf Schulhöfen und in Klassenzimmern aktenkundig. Vor der Pandemie, im Schuljahr 2018/19, meldeten die Schulen 109 Gewaltvorfälle an die Behörde – gerade einmal die Hälfte der aktuellen Zahl.

Schule Hamburg: Von Gewaltvorfällen sind vor allem Stadtteil- und Grundschulen betroffen

Die Gewaltdelikte sind sehr ungleich auf die Schulformen verteilt: Mit 113 Taten entfielen im abgelaufenen Schuljahr auf die Stadtteilschulen mehr als die Hälfte aller Fälle, obwohl dort nur etwas mehr als ein Viertel aller Schüler lernt. Seit Jahren am höchsten ist der Anstieg an den Grundschulen mit 68 Taten, während es im Schuljahr 2021/22 lediglich 48 Fälle waren.

Mit 16 Gewalttaten ist die Belastung der Gymnasien nahezu unverändert. Den proportional größten Anteil an den Gewalttaten mit 8,2 Prozent (18 Fälle) haben die Sonderschulen und Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ), die nur zwei Prozent der gesamten Schülerschaft besuchen.

Auch Anzahl der Angriffe auf Lehrkräfte in Hamburg ist gestiegen

Einen deutlichen Anstieg verzeichnete die Schulbehörde auch bei Angriffen auf Lehrerinnen und Lehrer sowie weitere Mitarbeitende, wenngleich angesichts von rund 25.000 Beschäftigten auf einem niedrigen Niveau. Im Schuljahr 2023/24 richteten sich 25 Gewalttaten von Schülern und auch Eltern gegen die Beschäftigten – in 15 Fällen gegen Männer, in zehn Fällen gegen Frauen.

Im Schuljahr davor wurden 20 Übergriffe auf Beschäftigte registriert. Im Schuljahr 2018/19 vor der Pandemie wurden Beschäftigte lediglich in sieben Fällen Opfer von Gewalt, im Schuljahr 2021/22 waren es elf Fälle. Im Laufe von fünf Jahren hat sich die Gewalt gegen Lehrkräfte mehr als verdreifacht.

Gewalt: Gewerkschaft GEW sieht dringenden Handlungsbedarf vor allem an Grundschulen

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schlägt Alarm. „Erschreckend ist die hohe Zahl der registrierten Gewaltvorfälle bereits an der Grundschule. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die Tatsache, dass die Zahl der Gewaltvorfälle an Schulen insgesamt zugenommen hat, unterstreicht die hohe Bedeutung von Präventions- und Schutzmaßnahmen“, sagt der GEW-Landesvorsitzende Sven Quiring.

„Schulsozialarbeit muss dringend, wie von der GEW seit Langem gefordert, flächendeckend vor Ort in den Grundschulen tätig sein, um Gewaltvorfälle präventiv zu verhindern bzw. systematisch pädagogisch aufzuarbeiten.“

Deutlich mehr Schulpsychologinnen und Schulpsychologen im Einsatz

Auch als Reaktion auf die zunehmenden Gewaltvorfälle hat die Schulbehörde die Zahl der Schulpsychologinnen und -psychologen deutlich aufgestockt: Seit dem Schuljahr 2021/22 sind 21 Stellen neu geschaffen worden, sodass es jetzt knapp 70 an den Schulen gibt. Die GEW kritisiert, dass die pädagogisch-therapeutischen Fachkräfte (PTF, Sozialpädagogen, Erzieher und Therapeuten) immer wieder für den Vertretungsunterricht eingesetzt werden und somit ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgehen können.

„Die Fachkräfte dürfen nur als allerletztes Mittel als ‚Vertretungskräfte‘ für den Unterricht fremd eingesetzt werden“, sagt Quiring. Bereits in der vergangenen Woche hatte die Gewerkschaft moniert, dass die Schulbehörde einen Passus aus der Richtlinie für den Einsatz der PTF gestrichen hat, nach dem die Vertretung durch die Fachkräfte als Unterrichtsausfall gilt und entsprechend dokumentiert werden muss.

Schulbehörde erfasst Gewalt gegen Beschäftigte nur, wenn es zur Anzeige kommt

Die GEW befürchtet ein großes Dunkelfeld. Zwar werden laut der Gewerkschaft seit 2006 Gewaltvorfälle an Schulen jährlich erfasst, und seit 2009 gibt es einen umfangreichen Katalog von Schutzmaßnahmen für Beschäftigte. „Die Strategie der Schulbehörde, Gewalt gegen Beschäftigte anders als in anderen Behörden nur dann zu erfassen, wenn es zur Anzeige kommt, verharmlost und vernachlässigt die alltäglich belastenden Beleidigungen, Bedrohungen und tätlichen Angriffe“, sagt Yvonne Heimbüchel, erste stellvertretende GEW-Landesvorsitzende. Es entstehe der Eindruck, dass die Mitarbeiter an den Schulen „Beschäftigte zweiter Klasse“ seien.

Mehr zum Thema

Die GEW fordert eine separate Gefährdungsanalyse, durch die die Belastungssituationen unter anderem mithilfe intensiver Befragungen der Beteiligten in den Blick genommen werden. „Haltung gegen Gewalt und für die Beschäftigten zeigt die Schulbehörde nicht, indem sie die Augen verschließt“, sagt Heimbüchel.

Fachleute sehen die Corona-Pandemie als Ursache für den Anstieg der Jugendgewalt an

Die Schulbehörde weist darauf hin, dass der Zuwachs bei den Gewaltvorfällen bei mehr als 254.000 Schülerinnen und Schülern an staatlichen Schulen auf einem niedrigen Niveau erfolge. „Hintergrund für die Entwicklung ist ein insgesamt deutlicher Anstieg der Kinder- und Jugendgewalt, der seit 2021 auch in den Polizeilichen Kriminalstatistiken dokumentiert ist. Damit geht die Wahrscheinlichkeit einher, dass es auch etwas mehr Übergriffe gegen Beschäftigte geben kann“, sagt Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde.

Laut Albrecht gehen Fachleute für Gewaltprävention davon aus, dass die erhöhten Fallzahlen seit 2021 Nachwirkungen der Corona-Zeit sind – aufgrund besonderer psychosozialer Belastungen sowie Entwöhnung von sozialen Verhaltensweisen. Es habe während der Pandemie neun Monate kein „Präsenzleben“ in der Schule gegeben und damit auch kaum soziales Lernen mit Gleichaltrigen und schulischem Personal, hatte die Beratungsstelle Gewaltprävention der Schulbehörde bereits im März dieses Jahres im Gespräch mit der Deutschen Presseagentur (dpa) erklärt. „Bei der Rückkehr in die Schulen agierten viele Kinder und Jugendliche aufgrund dieser Defizite durch körperliche Auseinandersetzungen und Gewalt“, erklärte die Beratungsstelle.