Hamburg. Der Sozialdemokrat fordert eine konsequentere Asylpolitik und warnt davor, dass sich der Rechtsstaat nicht „austricksen“ lassen darf.

Das Messerattentat, bei dem vor einer Woche in Solingen drei Menschen getötet wurden, hat Deutschland erschüttert. Seitdem wird intensiv über Verschärfungen des Asylrechts und Messerverbote, aber auch die Defizite bei der Umsetzung bestehender Gesetze diskutiert. Im Gespräch mit dem Abendblatt äußert sich Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) exklusiv zu den Konsequenzen aus der furchtbaren Tat. Der Sozialdemokrat fordert im ersten Teil des großen Sommerinterviews eine Ausweitung des Waffenverbots auf den Bereich des öffentlichen Nahverkehrs sowie Abschiebungen auch nach Afghanistan.

Ein Asylbewerber aus Syrien hat in Solingen mutmaßlich drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere zum Teil schwer verletzt. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat” (IS) reklamiert die Tat für sich. Was muss nach dieser schrecklichen Tat geschehen?

Peter Tschentscher: Wir müssen das Mitführen von Waffen im öffentlichen Raum untersagen – und dazu gehören auch gefährliche Messer. Eine entsprechende Initiative hatte Hamburg, teils gegen den Widerstand CDU-regierter Bundesländer, bereits vor der Tat ergriffen. Das schreckliche Ereignis von Solingen zeigt erneut, wie wichtig es ist, dass solche Waffen weder in Bussen und Bahnen noch sonst im öffentlichen Raum mitgeführt werden.

Kritiker, beispielsweise aus der Polizeigewerkschaft, glauben nicht, dass dies ein wirkungsvoller Hebel ist gegen Terroristen, die ihre Anschläge – wenn sie zu ihnen entschlossen sind – auch mit anderen Waffen begehen.

Ein Messerverbot schafft keine absolute Sicherheit, aber es erhöht die Sicherheit. Bei der Bluttat von Brokstedt, die auch mit einem Messer begangen wurde, konnten die Opfer im Zug noch nicht einmal fliehen. Vor allem aber ist es mit einem Waffenverbot leichter möglich, verdächtige Personen schon im Vorfeld zu kontrollieren und sie so davon abzuhalten, ihre Mitmenschen mit Messern zu attackieren. Ohne diese rechtliche Grundlage hat die Polizei nicht einmal die Möglichkeit, solche Kontrollen durchzuführen. Mit einem Waffenverbot, wie es in Hamburg am Hauptbahnhof, auf der Reeperbahn und am Hansaplatz besteht, haben wir gute Wirkungen erzielt.

Messerattentat von Solingen: Hamburg fordert Waffenverbot im Nahverkehr

Das ist aber ein Gesetz, das auch Bundesebene verabschiedet werden muss.

Richtig. Deshalb kritisieren wir auch die FDP und die CDU-geführten Landesregierungen, die ein solches Messerverbot bisher blockiert haben.

Hamburg könnte auf andere Weise tätig werden und selbst mehr Waffenverbotszonen ausweisen.

Ja, aber wir müssen jede einzelne Waffenverbotszone mit den lokalen Gegebenheiten genau begründen. Das haben wir am Hamburger Hauptbahnhof getan. Generell sollten gefährliche Messer im öffentlichen Nahverkehr, in Zügen der Deutschen Bahn und auch sonst im öffentlichen Raum nicht mehr mitgeführt werden.

Der mutmaßliche Täter von Solingen soll sich seiner Abschiebung entzogen haben, indem er untergetaucht ist. Lässt sich der Rechtsstaat zu leicht vorführen?

Die Gefahr besteht. Deshalb muss konsequent gehandelt werden. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass Polizei, Ausländerbehörden und Staatsanwaltschaft Hand in Hand arbeiten. Es gibt in Hamburg zum Beispiel eine gemeinsame Ermittlungsgruppe zur Ausweisung straffälliger Asylbewerber. Dieses System wirkt. Wir haben im ersten Halbjahr 2024 schon mehr als 100 straffällige Asylbewerber ausgewiesen. Das gelingt, wenn man sich eben nicht austricksen lässt, sondern Polizei, Ausländerbehörde und Staatsanwaltschaften unmittelbar miteinander kooperieren.

Hamburger Hauptbahnhof: Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden als Vorbild

Wäre es sinnvoll, die Ermittlungsgruppen auszuweiten, um noch mehr straffällige Asylbewerber abzuschieben?

Ja, das empfiehlt sich auch für andere Bundesländer. Die Zusammenarbeit von vier Sicherheitsbehörden hat auch bei der Bekämpfung der Kriminalität am Hamburger Hauptbahnhof einen durchgreifenden Erfolg gehabt und gilt jetzt bundesweit als Vorbild.

Das Asylverfahren des mutmaßlichen Täters von Solingen hätte in Bulgarien durchgeführt werden sollen. Dort ist er nie angekommen, weil er untergetaucht war. Was nützt das Dublin-Abkommen, mit dem die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU geregelt werden soll, wenn es kaum Anwendung findet?

Es wirkt nur dann nicht, wenn man sich – wie eben angesprochen – austricksen lässt. Wenn ich richtig informiert bin über den Fall von Solingen, ist man dort nicht konsequent vorgegangen. Es reicht nicht, einen Ausreisepflichtigen einmalig in seiner Flüchtlingsunterbringung aufzusuchen. Das muss dann mindestens ein zweites Mal geschehen, oder der Betreffende muss auf die Liste der untergetauchten Asylbewerber gesetzt werden. Asylbewerber müssen in die Länder, die gemäß Dublin-Abkommen für ihre Asylverfahren zuständig sind, straffällige Personen müssen zurück in ihre Herkunftsländer.

Abschiebungen nach Afghanistan: Hamburg erwartet, dass Bundesregierung handelt

Muss es auch möglich sein, nach Afghanistan abzuschieben?

Ja. Das ist ein Punkt, den wir in Hamburg mit als Erste gefordert haben. Innensenator Andy Grote war da sehr klar. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie sich darum kümmert. Ich gehe davon aus, dass es geschieht – wie die Bundesregierung überhaupt schon vieles auf europäischer und internationaler Ebene erreicht hat, um Asylbewerber zurückzuführen, die hier keine Bleibeperspektive haben.

Wie kann man nach Afghanistan abschieben, wenn die Taliban-Regierung in Kabul nicht von Deutschland anerkannt wird?

Da gibt es Wege, zum Beispiel über Nachbarländer. Das können wir aber nicht von Hamburg aus, das muss der Bund organisieren. Was nicht geht, ist, dass CDU-Chef Friedrich Merz mal so eben einen Aufnahmestopp für Personen aus bestimmten Ländern in den Raum stellt. Das würde vor keinem Gericht Bestand haben.

Stoßen Rechtsstaat und Politik nicht an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit, wenn bekannt wird, dass Asylbewerber, die vor Verfolgung aus Afghanistan flüchten, dorthin zu Besuchen reisen?

Wir sind in der Demokratie auf rechtsstaatliche Abläufe verpflichtet und müssen immer nach Recht und Gesetz vorgehen. Deshalb kommt es darauf an, die Gesetze so zu formulieren, dass sie auch praktisch durchgreifen, und deshalb war es im vergangenen Jahr nötig, die Gesetze so anzupassen, dass nicht aufenthaltsberechtigte Asylbewerber schneller zurückgeführt werden können. Der Rechtstaat ist handlungsfähig, dafür müssen aber die richtigen Gesetze gemacht und konsequent umgesetzt werden.

Am Letzten fehlt es vor allem, hat man den Eindruck. Es gibt viele gesetzliche Handhaben, die aber nicht umgesetzt werden.

Beides ist ein Thema. Wir brauchen die richtigen Gesetze und die nötigen Ressourcen für ihre Durchsetzung, also Ermittlungsbeamte, Polizeikräfte, Staatsanwälte. Eine wehrhafte Demokratie braucht einen wehrhaften Rechtsstaat, und der benötigt die entsprechenden Ressourcen.

Tschentscher: „Wenn es echte Fluchtgründe gibt, nehmen wir Menschen auf“

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Menschen eine harte Linie des Staates in der Asylpolitik fordern?

Dafür habe ich Verständnis. Ich würde es aber nicht Härte nennen, sondern Konsequenz. Wenn es echte Fluchtgründe gibt, wenn Menschen bedroht sind durch Kriege und Verfolgung, nehmen wir sie auf und schützen sie. Wir müssen aber konsequent sein im Umgang mit irregulärer Migration, also mit Personen, die aus anderen Gründen als denen des Asylrechts zu uns kommen. Das ist schon deshalb nötig, damit wir die Ressourcen haben, denjenigen zu helfen, die diese Hilfe wirklich benötigen.

Rechnen Sie jetzt angesichts der Ereignisse mit einem weiteren Erstarken der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am Wochenende?

Das ist zu befürchten. Ich hoffe, dass die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt am Wochenende und dann später in Brandenburg zur Wahl gehen, sich bewusst machen, welche Werte damit verbunden sind, dass wir im demokratischen Spektrum Politik machen und Koalitionen bilden. Die AfD wird vermutlich in den Wahlen, die jetzt anstehen, höhere Ergebnisse erzielen als zuletzt – hoffentlich aber nicht in dem Umfang, den die Umfragen derzeit anzeigen.

Mehr zum Thema

Im Oktober 2023 schlugen die Senatoren Ties Rabe, Melanie Schlotzhauer und Andy Grote Alarm. „Das hält die Stadt nicht mehr lange durch”, sagten die SPD-Senatoren mit Blick auf die anhaltende Zuwanderung von Flüchtlingen. Hat Hamburg jetzt, fast ein Jahr später, noch Kapazitäten für die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen?

Derzeit stagnieren die Zahlen unterzubringender Flüchtlinge in Hamburg auf einem hohen Niveau. Ein Stadtstaat wie Hamburg hat ein besonderes Problem, weil wir nur begrenzt Raum, Gebäude und Unterbringungsmöglichkeiten haben und weil die Stadtstaaten zusätzlich belastet werden durch das Verteilsystem der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands. Darauf habe ich intern sehr früh hingewiesen. Die Bundesregierung hat auch diverse Maßnahmen ergriffen. Wir haben wieder Kontrollen an den deutschen Grenzen, verstärkte Abschiebeaktivitäten, eine bessere Kooperation zwischen Bund und Ländern und eine schnellere Bearbeitung von Asylverfahren. Das alles hat dazu geführt, dass die Zahl der Flüchtlinge in öffentlicher Unterbringung in Hamburg in einer Größenordnung von 45.000 bis 50.000 stagniert. Es wäre gut, wenn wir dieses Niveau wieder senken könnten.

Aber gibt es Kapazitäten für weitere, neue Flüchtlinge? Es ist ja nicht so, dass in Hamburg viele Flüchtlingsheime leer stünden oder noch viel freien Raum hätten – und zum Herbst könnten eine neue Welle von Migranten kommen.

Das wurde schon im letzten Herbst prognostiziert, ist dann aber aufgrund der genannten Maßnahmen nicht eingetreten. Aber es stimmt: Ich sehe keine Möglichkeit, auf dem qualitativen Niveau, das wir haben, nennenswert zusätzliche Unterbringungskapazitäten aufzubauen. Wir müssen schon jetzt in vielen Unterkünften Plätze abbauen, weil wir dieses in der Vergangenheit mit Bürgerinitiativen vereinbart haben oder weil schlicht die Mietverträge auslaufen. Die Sozialbehörde ist immer wieder auf der Suche nach neuen Flächen, geht auf die Bezirke und die Menschen in den Stadtteilen zu und bittet um Akzeptanz für neue Unterkünfte. Derzeit reicht die Zahl der Plätze, die wir haben, gerade noch aus. Doch es gibt keine Luft nach oben. Deswegen hoffe ich, dass sich die Strategie, die Migration bereits an den europäischen Außengrenzen stärker zu kontrollieren und zu steuern, auch langfristig positiv auswirkt.