Hamburg. Die Fraktionsvorsitzenden sprechen über die Gründe für den Dämpfer bei den Bezirkswahlen und sind klar für die Fortsetzung von Rot-Grün.

Nach ihrem Höhenflug vor fünf Jahren verzeichneten Hamburgs Grüne bei den jüngsten Bezirks- und Europawahlen im Juni zum Teil erhebliche Verluste. Wie sind diese Einbußen zu erklären, was wollen die Grünen künftig besser machen, wie positionieren sie sich gegenüber der SPD, ihrem Koalitionspartner in der Bürgerschaft – und wie beurteilen sie die Regierungsambitionen der Hamburger CDU? Darüber sprachen die Grünen-Fraktionschefs Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen im Sommer-Interview mit dem Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Frau Jasberg, Herr Lorenzen, wir sitzen hier auf dem Dach des Bunkers Feldstraße, der nach mehrjähriger Verzögerung als Grüner Bunker Anfang Juli offiziell eröffnet worden ist. Sind damit grüne Großstadtträume wahr geworden? 

Dominik Lorenzen: Der Bunker ist ein Schritt in moderne Urbanität, wegen der Dachbegrünung und des öffentlichen Zugangs für alle. Und der Bunker ist ein echter neuer Ankermagnet für den Hamburger Tourismus, von dem mit einer irren Reichweite Social-Media-Bilder aus Hamburg in die Welt geschickt werden. Das ist wirklich beeindruckend.

Jennifer Jasberg: Der Bunker ist ein wichtiges Aushängeschild, löst aber natürlich nicht die vielen Probleme, die wir gerade im Bereich von Wohnen haben.   

Kann oder muss der Grüne Bunker Vorbild für andere Gebäude in der Stadt sein oder ist er einmalig und in diesem Sinn „nur“ ein touristisches Highlight?

Jasberg: Der Bunker kann Vorbild sein für Gebäude, bei denen man mit Dachbegrünung arbeiten kann. In Hamburg ist aber ein viel zentraleres Thema, dass wir bei der Nutzung von Photovoltaik vorankommen müssen. Sie müssen sich ja nur einmal von hier oben umsehen. Viele Dächer eignen sich nicht für eine Dachbegrünung, aber sehr wohl für die Installation einer Photovoltaikanlage.

Lorenzen: Wir sind beim Thema Photovoltaik und Dachbegrünung noch nicht ansatzweise da, wo wir sein müssten. Das ermahnt uns, in der nächsten Legislaturperiode deutlich Fahrt aufzunehmen.

Grüner Bunker auf St. Pauli: Geduld mit der Gedenkstätte

Der Garten, die Bar, das Restaurant, die Konzerthalle – alles hier ist fertig und in Betrieb. Nur die geplante Gedenkstätte zur Erinnerung an die Nazi-Herrschaft lässt auf sich warten. In dem erst Anfang Mai vom Investor unterzeichneten Vertrag mit der Stadt fehlt ein verbindliches Fertigstellungsdatum. Wie kann das sein? Machen die Grünen jetzt Druck?

Jasberg: Unsere Kollegen im zuständigen Bezirk Hamburg-Mitte haben das bereits gemacht. 

Lorenzen: Angesichts der momentanen Lage – Baukostensteigerung, Energiekrise – sind viele Bauprojekte aus dem Zeitlot geraten. Da kann man ruhig noch ein bisschen Geduld haben, aber es darf keine Option sein, dass die vereinbarte Gedenkstätte nicht kommt.  

In der Ferne ist der Kleine Grasbrook zu sehen, wo genau jetzt die Olympischen Spiele hätten stattfinden können - statt in Paris. Bürgermeister Peter Tschentscher kann sich eine Bewerbung Hamburgs für die Olympischen Spiele 2036 oder 2040 gemeinsam mit Berlin vorstellen. Sind Sie auch dafür?

Lorenzen: Wir haben eine sehr gute und einfache Position dazu: Wir befragen die Hamburgerinnen und Hamburger. Wenn sie sich Olympia wünschen, dann werden wir uns bewerben als Stadt. 

Das ist ja 2015 schon einmal schiefgegangen, als die Hamburger Olympia 2024 knapp ablehnten. Aber Sie werden ja trotzdem eine eigene Meinung haben. 

Jasberg: Bei uns Grünen gibt es sehr unterschiedliche Positionen dazu, wie vermutlich in der Bevölkerung insgesamt auch. Ich gehöre eher zu den Kritikerinnen. Das, was wir aus Paris gerade sehen, weckt meine Begeisterungsfähigkeit eher nicht. 

Lorenzen: Worauf wir alle keinen Bock haben, ist, dass das IOC so bleibt, wie es gerade ist. Deutschland sollte im Falle einer Bewerbung das Selbstbewusstsein haben, das Konzept der Spiele modernisieren zu wollen, Stichwort Nachhaltigkeit zum Beispiel. Ein anderes Thema ist der Umgang mit Dopingfällen. Von mir gibt es ein klares Ja zu diesem tollen Sportereignis, aber dann mit einem selbstbewussten Gastgeberland, das sich nicht alle Bedingungen vom IOC diktieren lässt. 

Jasberg: Von mir gibt es ein klares Nein. Großereignisse mitten in der Stadt bedeuten eine hohe Belastung für die Bürgerinnen und Bürger. Die Infrastruktur wird dann für Wochen nicht oder nur eingeschränkt nutzbar sein. 

Lorenzen: Unter dem Gesichtspunkt Nachhaltigkeit haben Hamburg und Berlin den Vorteil, dass wir praktisch alle Sportstätten und die passende Infrastruktur schon haben. Ich kann mich dafür sehr begeistern.   

Sehen Sie die Gefahr, dass Hamburg nur ein Anhängsel wäre, während sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Bundeshauptstadt Berlin konzentriert?

Lorenzen: Da würde ich die Chancen vor den Risiken sehen. Hamburg und Berlin wären ein Superteam. Berlin ist eine Stadt von Weltrang, Hamburg dagegen eine kleine Nummer. In dieser Kombi würde Hamburg schon sehr profitieren, auch wenn es nicht die gleiche Reichweite und Relevanz wie Berlin hat.

Blaue Moschee an der Alster: Nach Verbot des Islamischen Zentrums muss Hamburg Verantwortung übernehmen

Bundesweite Schlagzeilen hat das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg an der Außenalster gemacht. Was soll mit der Blauen Moschee geschehen?

Jasberg: Aus unserer Sicht sollte die Moschee auch weiterhin für Gläubige und gerade auch für schiitische Gläubige zur Verfügung stehen. Es muss sehr klar sein, dass alle Akteure in diesem Umfeld die Moschee nutzen können. In Norddeutschland gibt es nicht sehr viele angemessene Gebäude für die praktische Glaubensausübung der Muslime. Die Moschee ist von hier lebenden Iranern in den 60er-Jahren gebaut worden, und sie ist für Gläubige ein wichtiger Ort. Nicht alle Schiiten sind Islamisten, es gibt sehr unterschiedliche Richtungen. Wichtig ist, dass alle nicht-extremistischen Gruppen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Der Staat, die Politik sollten das auf keinen Fall allein entscheiden. 

Ist für Sie vorstellbar, dass die Stadt das Gebäude übernimmt?

Jasberg: Für mich ist im Moment sehr vieles vorstellbar. Erst mal muss die Stadt Verantwortung dafür tragen, dass das Gebäude gesichert ist. Auf keinen Fall sollte die Entscheidung überstürzt getroffen werden. 

Die Europa- und Bezirkswahlen haben den Grünen einen Dämpfer beschert. In den Bezirken sind sie auf die Stadt hochgerechnet zwar zweitstärkste Kraft, aber mit den größten Verlusten von allen – fast acht Prozentpunkte. Woran hat es gelegen?

Jasberg: Viele schieben das auf die Ampel. Ein bisschen Bundestrend ist immer bei Wahlen in den Ländern und Kommunen. In Hamburg ist der aber vergleichsweise gering ausgefallen, weil wir Grüne in den Bezirken Verantwortung tragen. Bei der Europawahl haben wir das beste Ergebnis unter allen Bundesländern geholt. Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen der neuen Partei Volt ... 

... die aus dem Stand 3,9 Prozent hamburgweit geholt hat und in fünf der sieben Bezirksversammlungen vertreten ist. 

Jasberg: Ja. Wir haben vor allem bei den jungen Progressiven an Volt verloren. Das sieht man auch in anderen Metropolen. Wir müssen selbstkritisch in der Analyse sagen: Wir sind in unserer Kampagne wenig progressiv aufgetreten. Volt konnte sich erlauben, mit eigentlich grünen Themen zugespitzt zu werben – eine große programmatische Differenz besteht ja nicht. „Sei kein Arschloch“, stand auf den Wahlplakaten von Volt gegen Rechts, während bei uns der Opa mit seinem Enkelkind spielte. Das war eher eine glattgebügelte Kampagne der Grünen. 

Europawahl 2024: Erfolg von Volt schwächt die Grünen

Lorenzen: Wir sind vielleicht zu sehr aus dem Gedanken, Regierungspartei, Volkspartei zu sein, mit der Kampagne in die Breite gegangen. Wir haben aus der Regierungsverantwortung im Bund, im Land und in etlichen Bezirken heraus zu viel erklärt und zu wenig zugespitzt auf unseren Markenkern und unsere Identität. Und wir haben es vielleicht versäumt, uns stärker vom Bundestrend loszukoppeln. 

Insbesondere die grüne Verkehrspolitik, die Parkräume reduziert und Autofahrern weniger Fahrspuren auf einigen Hauptstraßen einräumt, ist umstritten. Sind Sie übers Ziel hinausgeschossen?

Lorenzen: Nein, das glaube ich nicht. Beispiel Reventlowstraße im Bezirk Altona, die zur Veloroute umgebaut wird: Da haben wir sogar Stimmen dazugewonnen. Da, wo wir die Verkehrswende machen, sind unsere absoluten Hochburgen mit einer stabilen Grünen-Wählerschaft. Unser Problem ist eher der rot-schwarze äußere Ring der Stadt. Da haben wir ein Kommunikations- und Imageproblem und kommen nicht mehr zu den Leuten durch, weil sich negative Bilder durchgesetzt haben. 

Jasberg: Wir sind mit vielen Themen nicht durchgedrungen. Die Grünen wurden vor allem als Partei gegen Rechts wahrgenommen, aber nicht, wofür wir stehen. Das Thema Verkehr war schon im Wahlkampf extrem präsent. Da ist es uns nicht gelungen, Themen von uns wegzuweisen, die mit uns gar nichts zu tun haben. Dazu zählt der Vorwurf, dass es so viele Staus gibt, weil die Grünen die Verkehrswende machen. Bei den meisten Baustellen, die Staus verursachen können, geht es um Maßnahmen zur Infrastruktur. 

Kritisiert werden aber nicht nur die vielen Staus in der Stadt – auch die von den Grünen betriebene Reduzierung von Parkplätzen ist umstritten.

Lorenzen: Die Neuverteilung von öffentlichem Raum zugunsten des Fuß- und Radverkehrs findet vor allem im inneren Stadtbereich statt. Mein Eindruck ist, dass solche Maßnahmen sehr breit positiv kommentiert werden, wenn sie erst einmal fertig sind. Ich habe lange an der Osterstraße gewohnt. Ich kenne niemanden, der nicht sagt, dass der Umbau dort rundum gelungen und die Situation viel besser als vorher ist. Veränderungsprozesse sind schmerzhaft. Aber es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die eine hohe Veränderungsunwilligkeit hat und sehr laut dagegen mobilisiert. Und es gibt eine leise große Gruppe, die sehr zufrieden ist mit der Neuverteilung von öffentlichem Raum. Nur so bekommt man die Lebensqualität in der Stadt nach oben. 

Bürgerschaftswahl 2025: Fegebank muss entscheiden, ob sie Spitzenkandidatin werden will

Sind Sie dafür, dass Katharina Fegebank erneut Spitzenkandidatin der Grünen bei der Bürgerschaftswahl wird? 

Lorenzen: Katharina Fegebank war 2015 und 2020 die richtige Spitzenkandidatin und sie wäre es auch 2025. Von uns hat sie die maximale Unterstützung. Wir hoffen natürlich, dass sie wieder zur Verfügung steht und gehen davon aus, dass ein Landesparteitag der Grünen sie nominieren würde. Aber zu einem fairen politischen Prozess gehört, dass sie sich zunächst final entscheiden muss, ob sie ihren Hut in den Ring wirft.

Sind Sie für eine Fortsetzung des rot-grünen Bündnisses? 

Lorenzen: Ja. Die SPD ist für uns der nahe liegende, favorisierte Koalitionspartner. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren sehr erfolgreich gearbeitet; es gibt sehr viel Vertrauen in dieser Koalition. Im Gegensatz zu Berlin haben wir gelernt, dass wir überwiegend erst einmal miteinander hinter verschlossenen Türen streiten und dann gemeinsam unsere Ziele vertreten. Wir streiten zwar auch manchmal öffentlich, aber das ist die Ausnahme. Von daher ist Rot-Grün in Hamburg ein Erfolgsmodell. Wir wollen das fortsetzen. Die CDU präsentiert sich im Augenblick in einem eher desolaten …

Jasberg: … und nicht überzeugendem Zustand.

Lorenzen: Natürlich ist die CDU grundsätzlich für die Grünen ein möglicher Koalitionspartner – aber im Moment stehen alle Zeichen klar auf die Fortsetzung von Rot-Grün. 

Ist die CDU Ihrer Einschätzung nach in Hamburg derzeit regierungsfähig? 

Jasberg: Das muss sich zeigen. Ich würde keinem demokratischen Mitbewerber die Regierungsfähigkeit aberkennen. Derzeit bin ich allerdings von der CDU enttäuscht. Nehmen wir etwa die weiterlaufende CDU-Unterstützung für die seltsame Hamburger Gender-Initiative: Es gibt in Hamburg wirklich wichtigere Themen. Die Positionierung der CDU gegen den geplanten neuen Stadtteil Oberbillwerder halte ich für absolut unseriös, denn niemand in dieser Stadt, der politisch aktiv ist, wird abstreiten, wie wichtig es ist für Hamburg, dass wir neuen Wohnraum schaffen. Hier könnte die CDU zeigen, dass sie bereit ist, Verantwortung zu übernehmen – stattdessen präsentiert sie eine Opposition-Hau-drauf-Show. In der Bürgerschaft gab sich die CDU zuletzt oft populistisch und heizte unangemessen die Debatte über Kriminalität in Hamburg auf.

Lorenzen: Auch die Art und Weise, wie die CDU und im Übrigen auch die Linke mit Blick auf den Einstieg der Schweizer Reederei MSC bei der Hamburger Hafen und Logistik AG parlamentarisch agiert haben, nämlich zulasten der Stadt und unserer Wirtschaft, finde ich fragwürdig.

Hamburgs Grüne bekämpfen die AfD – unter anderem bei TikTok

Sehen Sie denn bei allen Differenzen auch inhaltliche Übereinstimmungen? 

Jasberg: Durchaus, etwa bei einigen Wirtschaftsthemen.

Lorenzen: Für die CDU ging es seit Ole von Beust nur bergab. Sie ist in einer tiefen Krise, will aber unbedingt mitregieren. Ich vermute deshalb, dass die CDU in jeder Konstellation sehr kompromissbereit wäre. Öffentlich schlägt sie mitunter einen scharfen Ton an – im persönlichen Dialog hingegen ist sie oft sachorientiert und friedlich.

Ist die AfD in Hamburg Ihrer Einschätzung nach eine rechtsextremistische Partei? 

Jasberg: Ja – und sie ist eine gefährliche Partei.

Lorenzen: Die Hamburger AfD-Fraktion hat in dieser Legislatur einen deutlichen Schritt nach rechts gemacht im Vergleich zur AfD-Fraktion der vorherigen Legislatur – und damals war es schon schlimm. Das nun im Parlament alle zwei Wochen zu ertragen, ist äußerst schmerzhaft.

Jasberg: Die AfD sitzt ganz offensichtlich nicht in der Bürgerschaft, um in einen echten Dialog mit den anderen Parteien zu treten, sondern eher, um Videos zu produzieren, die dann in rechte Netzwerke einfließen. AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann wurde nicht müde zu betonen, dass die Hamburger AfD schon seit 2019 nicht mehr mit der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative kooperiert, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Der Kandidat der Hamburger AfD für die Europawahl, Michael Schumann …

… der bei der AfD-Europawahlversammlung im vergangenen Jahr erklärte, Firmen wie Airbus sollten doch Pläne „für die dringend notwendige Remigrationsflotte vorstellen“ …

Jasberg: … ist Vorstand der Jungen Alternative Hamburg. Ihn wählte die Hamburger AfD vor Kurzem auf Platz zwölf ihrer Landesliste zur Bürgerschaftswahl 2025. Da kann Dirk Nockemann noch so oft erklären, die Hamburger AfD sei moderat – wenn Schumann so hofiert wird, ist die behauptete Distanz nicht ernst zu nehmen.

Lorenzen: Seit Jahren sind alle Reden der AfD-Abgeordneten durchwoben von einem latenten Rassismus – immer so kaschiert, dass sie so gerade noch die Geschäftsordnung nicht verletzen.

Mit welcher Strategie wollen Sie verhindern, dass die AfD noch stärker wird und möglicherweise ein zweistelliges Ergebnis bei der Bürgerschaft erreichen wird?

Lorenzen: Wir dürfen soziale Medien nicht den Rechten überlassen und werden uns dort mehr engagieren. Seit Kurzem haben die Hamburger Grünen einen eigenen TikTok-Kanal. Wir werden weiter zu Demos gehen und uns gegen Rechts positionieren; wir müssen unsere Kommunikation verbessern. Aber: Wir brauchen auch die konservativen Parteien, die sich klar gegen Rechts abgrenzen und der Versuchung widerstehen, sich nach Rechts anzubiedern. Um die AfD zu entzaubern, ist ein Schulterschluss mit Konservativen und Liberalen ganz wichtig.

Jasberg: Und wir Grüne müssen stärker ins Gespräch kommen mit Menschen außerhalb der grünen „Bubble“, etwa in Vereinen und anderen Einrichtungen, mit denen wir zuletzt nicht so oft im Gespräch waren. Gerade da, wo ein Teil der Gesellschaft entpolitisiert wird, müssen wir viel stärker das Gespräch suchen.

Mehr Abschiebungen? „Für uns keine Option“

Die SPD hat für sich eine andere Konsequenz gezogen, versucht eine andere Migrationspolitik, unter anderem: mehr Abschiebungen.

Jasberg: Das ist für uns keine Option. Die Gesellschaft rückt nach rechts durch den Populismus der AfD. Das geht zulasten von Menschen, die Kriegserfahrungen gemacht haben, die in einem hohen Maße traumatisiert sind. Wir Grüne sollten die Kraft sein, die auf die Rechtsstaatlichkeit setzt, wie wir sie kennen.

Das Sozialgericht hat die Beschränkung der Bargeldzahlung auf 50 Euro pro Monat für Asylbewerber in einem Einzelfall gekippt. Die Grünen sind gegen eine Obergrenze im Zusammenhang mit der Einführung der Bezahlkarte für Asylbewerber. Droht jetzt der nächste Konflikt mit der SPD?

Lorenzen: Zunächst einmal: Natürlich werden in Deutschland Straftäter abgeschoben. Uns stört, dass einige meinen, über einen rechten Diskurs unsere gesellschaftlichen Probleme lösen zu können. Dabei geht es oft um rein symbolische Themen, die keine Bedeutung für eine Steuerung der Einwanderung haben. Dafür ist die Bezahlkarte ein Beispiel: Es sollte um eine Vereinfachung der Verwaltung gehen, um Teilhabe am digitalen Zahlungsverkehr – dann kamen Politiker wie Markus Söder von der CSU, die meinten, man könne Migration steuern, wenn man die Bargeldauszahlung reguliert. Das ist Quatsch. Wir haben die Hoffnung, dass die Gerichtsentscheidung das Aus für die Bargeldbeschränkung ist.

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Der zuletzt 2019 verlängerte Schulfrieden zwischen SPD, Grünen, CDU und FDP läuft Ende 2024 aus. Damit sind bis dahin Veränderungen der Schulstruktur ausgeschlossen. Sollte er verlängert werden? 

Jasberg: Ja, das sollte er. Wir sehen zwar, dass es durch G8 an Gymnasien zu einer hohen Belastung in der Oberstufe kommen kann, wie es die Elterninitiative G9 Hamburg beschreibt. Deshalb kann man über eine Flexibilisierung der Oberstufe und eine Anpassung an Lerngeschwindigkeiten diskutieren. Aber man muss nicht das ganze System aufbrechen. Dass die Wiedereinführung von G9 an Gymnasien die Lösung sein soll, sehen wir nicht. 

Ist Robert Habeck der richtige Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl?

Jasberg: Es ist unangemessen, jetzt schon über eine Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl in über einem Jahr zu spekulieren. Wir Grüne werden im Laufe des Jahres klären: Mit welchem Anspruch treten wir generell an. Und dann gucken wir, welche Personen wir als Partei gut finden.

Lorenzen: Als Parteimitglied kann ich sagen: Robert Habeck wäre ein toller Spitzenkandidat.

Sollten die Grünen mit einem Kanzlerkandidaten oder einer Kanzlerkandidatin ins Rennen gehen?

Lorenzen: Die Sorge ist ja, wenn man sich die aktuellen Umfrage-Ergebnisse für die Grünen anschaut, dass es seltsam erscheinen könnte, wenn wir mit einer Kanzlerkandidatur antreten. Wenn man aber berücksichtigt, dass wir an der Regierung beteiligt sind und aktuell den Vizekanzler stellen, muss man auch das Selbstbewusstsein haben, unabhängig von Umfragen einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.