Hamburg. Fast 800 Schüler in Hamburg müssen nach der 6. Klasse auf die Stadtteilschule wechseln. Warum das ein großes Problem ist.
Ist das Kind kein Senkrechtstarter, kein Schwamm, der allen Schulstoff gierig aufsaugt, so schwelt diese eine Sorge bei vielen Familien von Kindern, die in der Beobachtungsstufe eines Hamburger Gymnasiums sind, mit: Abschulung. Der „Schulformwechsel nach Klasse 6“, wie es auf Behördensprache in Hamburg heißt. Gerade an der Wunschschule nach der Grundschule angenommen, kann es auch vorzeitig zu Ende gehen.
Denn wenn die Noten nicht stimmen, können die Schüler nicht in ihren Klassen und auf ihren gewählten Schulen verbleiben, sondern müssen auf eine Stadtteilschule gehen. 780 Kinder betraf es im vergangenen Schuljahr 2023/24, für dieses liegen der Schulbehörde noch keine Zahlen vor.
Die Betroffenen sind allerdings längst informiert, denn eine solche Veränderung kommt nicht plötzlich daher. Solch ein Umbruch kündige sich an: „Lehrkräfte beraten schon in der Grundschule, aber auch in der Beobachtungsstufe Eltern, Schülerinnen und Schüler entsprechend in sogenannten Lernentwicklungsgesprächen“, erklärt Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde. „Wichtig ist, dass beide Schulen gleichberechtigt, aber jeweils unterschiedlich in der Ausprägung sind. Auch alle Stadtteilschulen haben gymnasiale Oberstufen und führen bis zum Abitur.“
Schule Hamburg: „Zu dumm“ – Gymnasialkinder empfinden Abschulung als Niederlage
Eine krasse Niederlage. So empfindet Karl (12) die Abschulung. Karl ist nicht sein richtiger Name, er möchte nicht, dass jeder sofort weiß, dass er „zu dumm“ für das Gymnasium war. Zu dumm, vielleicht sogar richtig blöd! Denn genauso fühlt er sich. Irgendwie als Versager.
Ihren Sohn so zu sehen, das ist am schlimmsten für Karls Mutter. Ihr persönlich ist es egal, ob ihr Kind eine Stadtteilschule oder ein Gymnasium besucht, den Mittleren Schulabschluss oder Abitur macht. Aber dass Karl so leidet, das macht sie traurig – und auch ein bisschen wütend, wie sie sagt.
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„Die Gymnasien machen es sich mit den Abschulungen zu einfach: Sie sieben gnadenlos die Kinder aus, die nicht mitkommen. Das ist natürlich leichter, als sie zu unterstützen und zu fördern.“ Ein Manko der Gymnasien sei, dass die Lehrer zwar fachlich geschult, aber zu wenig pädagogisch ausgebildet seien.
Die Folge: „Die Lehrer gehen zu wenig individuell auf die Kinder ein, die Hilfe brauchen.“ Es hatte fast den Eindruck, dass es der Schule gleichgültig ist, ob Karl auf der Schule bleibt oder sie verlassen muss.
Zwangswechsel: Schüler leiden darunter, wenn sie abgeschult werden
Bereits im Herbst vergangenen Jahres sind sie das erste Mal von der Schule informiert worden, dass Karl Schwierigkeiten habe und es vielleicht nicht dauerhaft auf dem Gymnasium schaffen werde. Die Schule riet den Eltern damals, sich bereits im Januar beim Tag der offenen Tür die umliegenden Stadtteilschulen anzuschauen und nach einer Alternative zu suchen.
„Wir haben das zwar getan, aber gleichzeitig alles erdenklich Mögliche unternommen, um Karl zu helfen und zu unterstützen“, erinnert sich die Mutter und erzählt, dass sie einen Nachhilfelehrer engagiert und mit ihm zusammen für Arbeiten gelernt hätten.
Schule Hamburg: zu schlecht fürs Gymnasium? Dann werden Kinder abgeschult
Besonders bitter: Bis Ende der 5. Klasse machte sich Karl in der Schule super. Doch dann kam in der 6. Klasse die zweite Fremdsprache hinzu, und „das war einfach zu viel für ihn“, so seine Mutter. Der Anfang eines Teufelskreises aus schlechten Noten, Überforderung, Versagensangst.
Obwohl sie wussten, worauf das hinauslaufen wird, hat sie der Brief der Schule doch getroffen. „Aufgrund mangelnder Leistungen“ werde das Kind auf der Schule nicht versetzt, heißt es da. Mangelnde Leistungen, das bedeutet zwei Fünfen in Hauptfächern.
Mangelnde Leistung: Mit zwei Fünfen in Hauptfächern ist Endstation auf dem Gymnasium
Am schlimmsten findet sie, dass Karl gerade erst in seiner Schule und der Klasse richtig angekommen sei – und sie jetzt schon wieder verlassen muss.
In den letzten Monaten haben sie sich intensiv mit der Wahl der richtigen Stadtteilschule für Karl beschäftigt. Schulen kontaktiert und Freunde befragt. Konzepte gelesen und Schulwege verglichen. Drei Schulen konnten sie als Wunsch angeben. Eine davon wird ihnen von der Schulbehörde zugewiesen.
Allerdings erst gegen Ende der Sommerferien. „Bis dahin hängen wir total in der Luft“, sagt Karls Mutter und hat nur einen Wunsch: dass ihr Sohn auf der neuen Schule wieder glücklich wird – und sich nicht mehr für dumm hält.
Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch müssen mit mindestens 4- benotet sein
Welchen Weg des Hamburger Zwei-Säulen-Schulsystems die Schüler einschlagen, das liegt nicht durchweg in eigener Hand. „Während bei der Anmeldung für die 5. Klasse das Elternwahlrecht gilt und die Schulen nur beratende Funktion haben, müssen die Schüler bei der Versetzung nach Jahrgang 7 bestimmte Notenkriterien erfüllen“, so schreibt es beispielsweise das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium aus Poppenbüttel auf seiner Homepage.
Die Kriterien sind, dass die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch mit mindestens 4- bewertet sind – eine Note 5 könne nicht ausgeglichen werden. Der Durchschnitt aller übrigen Fächer müsse mindestens die Note 4- betragen. In den übrigen Fächern können maximal zwei Fünfer durch zwei Dreier ausgeglichen werden: Beispielsweise kann eine 5 in Geschichte mit einer 3 in Musik ausgeglichen werden.
Anstieg beim Wechsel der Schulform vom Gymnasium auf die Stadtteilschule
„Die Gesamtzahl der Wechsel vom Gymnasium an die Stadtteilschule ist zum aktuellen Schuljahr leicht angestiegen“, so schreibt es die Schulbehörde und bezieht sich auf das Schuljahr 2023/24. „Die insbesondere ab dem Schuljahr 2020/21 deutlich zurückgegangenen Zahlen sind auf die besonderen Umstände durch die Corona-Pandemie zurückzuführen.“
Zum Schuljahr 2023/24 sind 780 Wechsel vom Gymnasium an die Stadtteilschule am Ende der Jahrgangsstufe 6 erfolgt. Damit wechselten 9,8 Prozent aller Sechstklässler, die im vergangenen Schuljahr ein Gymnasium besucht haben, an die Stadtteilschule. Es betraf also 780 Kinder. Ein Schuljahr zuvor lag die Quote bei 8,8 Prozent mit 697 Schülern. Eine ähnliche Zahl wird für das aktuelle Schuljahr erwartet.
Gymnasium Hamburg: Aus nach Klasse 6. Wie geht es nun weiter?
Kritik an dem System der Abschulungen kommt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hamburg. „Sitzen bleiben ist in Hamburg seit dem Schuljahr 2010/2011 nicht mehr möglich. Eine Klassenwiederholung oder ein Schulformwechsel vom Gymnasium zur Stadtteilschule ist Schülerinnen und Schülern nur noch nach der 6. und 10. Klasse erlaubt“, sagt Yvonne Heimbüchel, stellvertretende Vorsitzende der GEW Hamburg.
„Dieser einseitig ausgelegte Schulformwechsel führt häufig zu einer belastenden Situation für die betroffenen Schülerinnen und Schüler, welche sich in der geringschätzenden Bezeichnung ‚Abschulung‘ besonders manifestiert. Gymnasien sollten nicht ‚abschulen‘ müssen, denn das demotiviert und kann zu Lernversagen führen.“
Kritik: Der Schulformwechsel belastet die Stadtteilschulen stark
Zudem stelle dieser Schulformwechsel die aufnehmenden Schulen vor organisatorische Probleme. Einige Stadtteilschulen richten für die ehemals als ‚Rückläufer‘ bezeichneten Schülerinnen und Schüler eigene Klassen ein, andere verteilten sie auf bestehende Klassen oder organisieren die Verteilung insgesamt neu.
„Durch diese Schülerinnen und Schüler erhalten die Stadtteilschulen immer mehr Kinder, die zwei Jahre lang in der Schule Misserfolge hatten. Um sie wieder aufzubauen, bedarf es einer großen pädagogischen Anstrengung. Die Stadtteilschulen müssen nicht nur fast die gesamte Inklusion und Integration der schulpflichtigen Geflüchteten leisten, sondern auch regelmäßig eine wachsende Gruppe von Schülerinnen und Schüler auffangen, die ‚abgeschult‘ wurden. Diese neuralgische Stelle in der Schullaufbahn einzelner Kinder zeigt einen wesentlichen Konstruktionsfehler des Zwei-Säulen-Modells.“