Hamburg. Zwölf Stunden am Handy, Schule schwänzen – ein typisches Verhalten von Jugendlichen mit Internetsucht. Ausgerechnet eine App hilft ihnen.
Es ist ein warmer und sonniger Tag, aber trotzdem ist es kühl in dem roten Backsteingebäude. Durch die offenen Fenster sind Vögel und die Stimmen Jugendlicher zu hören. Es wird gelacht, Sneaker quietschen auf dem Linoleumboden. Szenen, die auch aus einer Schule stammen könnten. Doch die Jugendlichen sollen hier etwas anderes lernen als Mathematik und Co.: Ihnen wird auf der Jugend-Suchtstation des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) beigebracht, wie sie ihre Abhängigkeit wieder in den Griff bekommen können. Dabei soll in Zukunft eine App helfen, die mit 4,78 Millionen Euro vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert wird. Auch der 15-jährige Luca (Name von der Redaktion geändert) wird hier wegen seiner Mediensucht behandelt.
Bei dem Schüler hat es angefangen wie bei den meisten Jugendlichen, die an einer medienbezogenen Störung (MBS) leiden. In der vierten oder fünften Klasse spielte er zunächst auf dem Handy, erinnert sich der 15-Jährige. Damals habe er „nur“ rund vier Stunden pro Tag damit verbracht, Computerspiele wie Minecraft oder Counter-Strike zu zocken. „Dann wurde es relativ schnell sehr viel mehr“, beschreibt Luca. Irgendwann verbringt der Jugendliche zwölf Stunden vor dem Rechner – und schwänzt dafür auch die Schule. In seiner Familie kommt es deswegen immer wieder zu Streit.
UKE Hamburg: 5-Millionen-Euro-App soll Jugendlichen mit Mediensucht helfen
Lucas Geschichte zeigt einen typischen Verlauf von Mediensucht, erklärt Rainer Thomasius. Er ist seit vielen Jahren Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes und Jugendalters (DZSKJ) am UKE. Was bei zu hohen Nutzungszeiten von Computer und Smartphone oft als Erstes leidet, sind die schulischen Leistungen, Hobbys und die sozialen Kontakte. Wenn der übermäßige Medienkonsum der Jugendlichen über ein Jahr hinweg auf Kosten anderer Lebensbereiche andauert, könne man gegebenenfalls von einer medienbezogenen Störung ausgehen, erklärt Thomasius.
Oftmals litten die betroffenen Kinder und Jugendlichen unter psychischen Belastungen. „Das sind vor allem erhöht stressempfindliche Jugendliche, die Probleme haben in ihrer Emotionsregulation“, erklärt Thomasius. Bei Jungen gehe es vor allem um soziale Schwierigkeiten, bei Mädchen eher um Selbstwertprobleme und depressive Entwicklungen. Auch Traumata können ein Grund dafür sein, dass Jugendliche sich immer mehr in die von ihnen geschaffene Online-Welt zurückziehen.
„Die Jugendlichen haben wenig Möglichkeiten, diese im Hintergrund stehenden psychischen Belastungen aus eigener Kraft heraus zu regulieren“, berichtet der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Während ihrer Zeit vor Computer und Smartphone würden die Jugendlichen dann merken, dass sie ihre psychischen Probleme besser bewältigen können. Online können sich die Jugendlichen eine Art alternative Welt schaffen, so Thomasius, und in sie flüchten. Als Folge verselbstständigt sich das Verhalten und kann suchtartige Züge annehmen.
Flucht ins Internet: Forschergruppe will Mediensucht mit Smartphone-App behandeln
Während der Therapie könnten Jugendliche wie Luca in Zukunft von einer App unterstützt werden. Entwickelt wurde Res@t im Rahmen einer Studie, an der deutschlandweite Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche teilnehmen. Herausgefunden werden soll hier, ob der Therapieprozess durch die Nutzung einer App wie Res@t verbessert werden kann. In der Zeit zwischen wöchentlichen Therapieeinheiten wird je eins von zwölf Modulen zum Durcharbeiten angeboten – sowohl für die betroffenen Jugendlichen als auch für ihre Erziehungsberechtigten.
Denn auch die Familien spielen eine wichtige Rolle bei der Behandlung psychisch kranker Jugendlicher. Laut Thomasius weisen mehrere Studien darauf hin, dass rund 50 Prozent aller Eltern ihren Kindern keinerlei Vorgaben darüber machen, wie viel sie Medien nutzen dürfen. Einem Drittel aller Eltern sei es demnach außerdem egal, welche Art von Inhalten ihre Kinder konsumieren. In der Eltern-Variante der App können Familien lernen, wie sie ihr eigenes Kommunikationsverhalten und Stressmanagement verbessern können, um ihre suchtkranken Kinder in der Heilung zu unterstützen.
Mediensucht mit App Res@t überwinden: Hamburger Therapiekonzept deutschlandweit getestet
Obwohl die Ergebnisse der Studie erst im August 2026 erscheinen sollen, wird die App jetzt schon getestet und benutzt. In jedem neuen Modul wird zuerst erklärt, was das Ziel ist und wieso dies wichtig für die psychische Gesundheit ist. Dabei kann es beispielsweise um ein besseres Schlafverhalten gehen. „Im nächsten Schritt wird ein Vorschlag gemacht wie: ‚Nimm kein Handy mit ins Schlafzimmer‘“, erklärt Thomasius. Auch wird hier empfohlen, nicht direkt vor dem Schlafengehen noch Medien zu nutzen. Der dritte und letzte Schritt ist eine Übung, um das Modul-Ziel zu erreichen. Im Anschluss können die Jugendlichen in der App Feedback eintragen.
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Die Erkenntnisse der Studie könnten mediensüchtigen Jugendlichen wie Luca dabei helfen, wieder in ein suchtfreies Leben zurückzufinden. Noch hat er ein paar Wochen Therapie am UKE vor sich. Doch sein Ziel danach steht bereits fest: „Das Leben wieder in den Griff kriegen“, sagt der 15-Jährige. Und das, ohne Unterricht zu schwänzen und zwölf Stunden online zu sein.
Noch bis Sommer 2025 können neue Patientinnen und Patienten in die Studie, bei der die Res@t App getestet wird, aufgenommen werden. Interessierte Jugendliche und ihre Familien können sich unter resat@uke.de oder per Telefon unter 040/7410-24140 melden. Hilfe und Beratung zum Thema Suchterkrankungen von Kindern und Jugendlichen erhalten Sie bei der Hamburger Drogenberatungsstelle „jugend.drogen.beratung.kö“ unter der 040/42811-2666 oder bei einer von Hamburgs ambulanten Suchtberatungsstellen.