Hamburg. Stefan Hensel strebt eine zweite Amtszeit an – doch die Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg ist dagegen. Um welche Vorwürfe es geht.
Hass und Hetze gegen Juden gab es schon vor dem 7. Oktober 2023, auch in Hamburg. Seit vielen Jahren stehen Synagogen unter Polizeischutz. Doch der Überfall der Terrorgruppe Hamas auf Israel und die Gegenangriffe des jüdischen Staates haben die Feindseligkeit befeuert: In der Hansestadt stieg zuletzt wie berichtet die Zahl der antisemitischen Straftaten, analog zur bundesweiten Zunahme solcher Vorfälle, über die Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sagte, der Nahostkonflikt habe „wie ein Brandbeschleuniger für den Antisemitismus“ gewirkt.
Wie sich dieser Entwicklung in Hamburg entgegenwirken ließe und was passieren müsste, damit Jüdinnen und Juden offen zu ihrem Glauben stehen können, darüber würde Stefan Hensel eigentlich gerade jetzt am liebsten sprechen. Der 43-jährige Pädagoge, hauptberuflich Geschäftsführer eines Kita-Trägers, engagiert sich seit 2021 ehrenamtlich als erster Antisemitismusbeauftragter der Hansestadt. Am 30. Juni läuft seine Amtszeit ab – doch Hensel möchte weitermachen und dazu beitragen, „die Welt besser zu machen“, wie er sagt.
Jüdisches Leben in Hamburgs Liberaler Gemeinde gegen zweite Amtszeit von Stefan Hensel
Besser nicht, heißt es allerdings aus der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hamburg, die sich Israelitischer Tempelverband nennt. Ihr Vorstand wirft Stefan Hensel vor, parteiisch zu sein – und verschärft den Ton in einer Auseinandersetzung, die offenbar schon länger schwelt.
Zum Verständnis des Konflikts muss man wissen: Es gibt in Hamburg zum einen die Jüdische Gemeinde, der etwa 2300 Menschen angehören, unter ihnen Stefan Hensel. Sie versteht sich als Einheitsgemeinde, will Strömungen des orthodoxen und liberalen Judentums zusammenbringen. Für ihre liberalen Mitglieder wurde 2016 die sogenannte Reformsynagoge gegründet. Zum anderen gibt es die Liberale Jüdische Gemeinde mit etwa 340 Mitgliedern.
Verhältnis zwischen jüdischen Gemeinden in Hamburg ist angespannnt
Das Verhältnis zwischen den beiden Gemeinden ist seit Jahren angespannt – unter anderem, weil die kleinere der beiden sich als Verein für benachteiligt hält. Die größere Jüdische Gemeinde, die eine Kita und eine Schule trägt, erhielt den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts; mit ihr schloss Hamburg 2007 einen Staatsvertrag.
Allein den Anliegen der größeren Gemeinde fühle sich Hamburgs Antisemitismusbeauftragter verpflichtet, kritisierte der Zweite Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde, Eike Steinig, vor Kurzem gegenüber der „taz“. Er mutmaßte, Stefan Hensel scheine dem Israelitischen Tempelverband sogar „feindlich gesinnt zu sein“. Auf Abendblatt-Nachfrage erklärt Steinig nun seine Vorwürfe: Dass der Antisemitismusbeauftragte „einseitig befangen“ sei – zu Ungunsten des Israelitischen Tempelverbands –, zeige sich etwa darin, dass Hensel öffentlich nicht über die Anliegen und das Engagement der kleineren Gemeinde spreche.
Gemeindevorstand spricht von „passiver Diskriminierung“
Zu Beginn seiner Amtszeit habe Hensel den Israelitischen Tempelverband noch zu Veranstaltungen eingeladen – zuletzt sei das allerdings nicht mehr geschehen. Selbst bei dem neuen Format „Wir müssen reden“, das der Antisemitismusbeauftragte ins Leben gerufen hatte, sei die Liberale Jüdische Gemeinde offenbar nicht erwünscht gewesen. „Man marginalisiert uns“, sagt Steinig. Er spricht von einer „passiven Diskriminierung“.
Steinig und die Erste Vorsitzende des Tempelverbands, Galina Jarkova, kritisieren allerdings auch die für jüdisches Leben in Hamburg zuständige Wissenschaftsbehörde und den Senat. Es gebe keine „Dienstbeschreibung“ für das Amt des Antisemitismusbeauftragten; das Wahlverfahren sei intransparent. Geht es nach Jarkova und Steinig, sollten der Kampf gegen Antisemitismus und der Einsatz für das jüdische Leben in Hamburg von zwei Ämtern vertreten werden.
Jüdische Einheitsgemeinde: Hensel stärkt den Zusammenhalt
Für die Besetzung des Amts haben beide Gemeinden ein Vorschlagsrecht. Die Jüdische Einheitsgemeinde hatte schon vor längerer Zeit Stefan Hensel für eine zweite Amtszeit vorgeschlagen. Sie nehme Hensels Engagement für das jüdische Leben in Hamburg als „sehr fruchtbar“ wahr, so die Gemeinde. „Er ist selbst praktizierender liberaler Jude und hat es in seinem Amt geschafft, Positionen verschiedener jüdischer Glaubensströmungen aktiv zu moderieren.“ Hensel sei eine „integre Persönlichkeit, die den Zusammenhalt der jüdischen Community stärkt und zugleich unsere Erinnerungskultur fördert“.
Galina Jarkova und Eike Steinig sagen, die Wissenschaftsbehörde habe ihnen im Januar nur zwei Wochen als Frist für einen Vorschlag eingeräumt – das sei viel zu wenig Zeit gewesen. Vor Kurzem schlug Steinig sich selbst für das Amt des Antisemitismusbeauftragten vor.
Was Hamburgs Antisemitismusbeauftragter Stefan Hensel zu Vorwürfen gegen ihn sagt
Der aktuelle Amtsinhaber weist die Vorwürfe gegen ihn zurück. Er fühle sich zuständig für alle jüdischen Menschen in Hamburg, sagt Stefan Hensel. „Auch der Liberalen Jüdischen Gemeinde habe ich immer wieder Gespräche angeboten.“ Dass unabhängig davon die Jüdische Einheitsgemeinde eine privilegierte Stellung habe, gehe auf den Staatsvertrag mit der Hansestadt zurück, der die Jüdische Gemeinde als ersten Ansprechpartner für alle Fragen des jüdischen Lebens in Hamburg vorsieht.
Was den Vorwurf der „passiven Diskriminierung“ angehe: „Vielleicht liegt hier ein Missverständnis vor“, sagt Hensel. „Es ist nicht meine Aufgabe, Öffentlichkeitsarbeit für eine jüdische Organisation zu machen.“ Die liberale jüdische Gemeinde sei zu einem Runden Tisch und vielen anderen Veranstaltungen und Gesprächen eingeladen worden. „Es gibt aber mehrere jüdische Organisationen in der Stadt, sodass natürlich nicht immer alle an jeder Veranstaltung teilnehmen können, allein schon aus Kapazitätsgründen“, sagt Hensel. „Jeder, der schon einmal ein Fest organisiert hat, steht vor dem gleichen Dilemma.“
Wissenschaftsbehörde will keine zwei Ämter für Kampf gegen Antisemitismus
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin, Katharina Fegebank (Grüne), äußerte sich auf Anfrage nicht zur Kritik der Liberalen Jüdischen Gemeinde. Ihre Behörde teilte allerdings mit: „Änderungen am Aufgabenprofil des Antisemitismusbeauftragten sind Stand jetzt nicht vorgesehen.“ Zwei Posten kommen also nicht infrage.
Fegebanks Behörde koordiniert für den Senat das Verfahren und sagt, sie stehe sowohl mit der Jüdischen Gemeinde als auch dem Israelitischen Tempelverband im Austausch. Wenn der Senat über den Posten entschieden hat, muss noch die Bürgerschaft darüber abstimmen – das dürfte wohl erst nach der Sommerpause passieren.
Hensel: Institutionen in Hamburg sollten sich zur IHRA-Definition bekennen
Unterdessen wird Stefan Hensel sein Amt kommissarisch fortführen. Er will sich weiter für Forderungen starkmachen, die er schon länger vertritt. So drängt Hensel etwa darauf, dass alle Hamburger Schulen, Hochschulen, Vereine und Behörden sich zu einer klaren Begriffsbestimmung von Antisemitismus bekennen und ihr Handeln daran ausrichten. Er plädiert für eine Orientierung an der nicht rechtsverbindlichen Arbeitsdefinition der von 35 Staaten getragenen International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Nur durch einen einheitlichen Standard könnten die verschiedenen Formen des Antisemitismus erkannt, benannt und bekämpft werden. „Dann müssten wir uns nicht mehr von einem hässlichen Einzelfall zum anderen hangeln“, sagt er.
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Schon vor dem 7. Oktober hätten viele jüdische Kinder, die staatliche Schulen in Hamburg besuchen, öffentlich nichts von ihrer Glaubenszugehörigkeit erzählt – aus Angst, Judenhass zu erleben, sagt Hensel. Seitdem sich der Konflikt in Nahost verschärft und israelbezogener Antisemitismus zugenommen habe, sei die Sorge bei jüdischen Eltern gewachsen, dass es an Schulen zu Konflikten kommen könnte, wenn bekannt werden würde, dass ihre Kinder jüdisch sind.
Hensel will sich weiter dafür einsetzen, dass die Stadt ein Jugendwerk Hamburg-Israel gründet, um den Austausch zwischen der Hansestadt und dem jüdischen Staat zu fördern. Das könne dazu beitragen, falsche Vorstellungen zu korrigieren und Antisemitismus zu bekämpfen.
Trotz der neuen Welle des Antisemitismus seit dem 7. Oktober gebe es „eine Menge Menschen, die Hamburg zu einer Stadt für alle machen und Antisemitismus entgegentreten wollen“, sagt Hensel. Das mache ihm Mut.