Hamburg. Schule in Altona hat mehr Kinder mit Demenz als jede andere. Daria, 14 Jahre, ist eines davon. Wie viel Leid kann eine Familie ertragen?
Darias Stuhl im Klassenzimmer der 8b ist an diesem Morgen leer. So wie die ganze Woche, den ganzen Monat schon. In diesem Jahr konnte sie noch kein einziges Mal am Schulunterricht teilnehmen. An ihrem Platz im Gruppenraum, wo die Klasse zusammen frühstückt, löst sich langsam ihr Namensschild vom Tisch. Hier hat sie schon seit Monaten nicht mehr gesessen und mit den anderen gegessen.
Daria kann nicht mehr aufrecht sitzen, nicht mehr essen und trinken, kaum noch alleine schlucken. Wenn die anderen Schüler gemeinsam am Tisch sitzen und ihre mitgebrachten Brote essen, liegt Daria in ihrer Reha-Karre und bekommt Nahrung über eine Magensonde. Manchmal muss ihr der Speichel abgesaugt werden. Für die anderen ist das normal.
Kinder-Demenz: Wenn Kinder alle ihre Fähigkeiten verlieren
Auch wenn Daria kaum noch am Unterricht teilnehmen kann, ist sie Teil der Klasse. Sie gehört einfach dazu. Die anderen Schüler vermissen sie. Immer wieder fragen sie ihre Klassenlehrerin, wann Daria wiederkommt. Dann sagt Theda de Wall (57) das, was sie von Darias Mutter gehört hat. „Wenn es ihr dann besser geht. Nach den Märzferien. Vielleicht.“ Manchmal hat Theda de Wall Angst, dass Daria gar nicht wiederkommt.
Sie hat schon einige Schüler unterrichtet, die irgendwann nicht mehr wiedergekommen sind. Die gestorben sind. Nicht in der Schule, um Gottes willen, sagt Theda de Wall. Sie ist seit fast 30 Jahren Sonderschullehrerin und hat viele schwer kranke und behinderte Kinder unterrichtet. Kinder mit Schlaganfällen und Hirnschäden, mit ALS und Muskeldystrophie. „Progredienz“ nennen Fachleute das Fortschreiten einer Krankheit. Brutal, nennt es Theda de Wall, seit sie Daria kennt.
Daria hat NCL, Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, umgangssprachlich auch Kinderdemenz genannt. Dabei handelt es sich um eine Stoffwechselerkrankung, bei der sich der wachsartige Stoff Ceroid-Lipofuszin in den Nervenzellen ansammelt. Durch einen genetischen Fehler können die Nervenzellen ihn nicht abbauen und sterben ab. Die Kinder verlieren nach und nach die Kontrolle über ihre Körperfunktionen, bis sie künstlich ernährt werden müssen und rund um die Uhr pflegebedürftig sind.
Seltene Krankheit: In Deutschland gibt es etwa 700 Fälle. Familie Aleksander hat drei kranke Kinder
Die Krankheit ist selten. Etwa eines von 30.000 Kindern ist betroffen. Schätzungen zufolge gibt es etwa 700 Fälle in Deutschland. An der Schule Hirtenweg haben zwölf Kinder NCL. Das sind vermutlich so viele wie auf keiner anderen Schule in Europa, vielleicht sogar in der Welt. Der Grund: Für eine internationale Studie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf wurden ab 2013 zahlreiche Familien aus der ganzen Welt nach Hamburg geholt, um daran teilzunehmen. Darias Familie war eine von ihnen.
Ortswechsel: Sechs Kilometer entfernt, in einer Erdgeschosswohnung in Lurup, liegt Daria im Bett ihres Kinderzimmers. Sie ist mit einer Decke mit Gewichten zugedeckt, die vier Kilogramm wiegt. Das Gewicht der Therapiedecke soll sie beruhigen und entspannen. Daria ist unruhig, ihre Augen sind aufgerissen, ihre Muskeln zucken unkontrollierbar. Aus ihrem Mund dringen gurgelnde Geräusche, die wie ein Wimmern klingen. „Es geht ihr sehr schlecht“, sagt Katarzyna Aleksander. Sie braucht keinen Monitor, um das zu sehen. Sie kennt ihr Kind, kennt jedes Anzeichen von Schmerz, Angst und Panik.
Seit Daria im Dezember eine Helicobacter-Infektion hatte und Antibiotika nehmen musste, geht es ihr so schlecht, dass sie das Bett nicht mehr verlassen kann. Ihre Mutter Katarzyna Aleksander streichelt ihre Hand, murmelt leise Worte auf Polnisch. Worte aus ihrer Kindheit, aus einer anderen Zeit. Als Daria noch gesund war und die Familie in Polen lebte, in einem neuen Haus, das sie gerade gebaut hatten. Heute steht das Haus leer.
14 Jahre alt und dement: Daria kann nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen und kaum noch schlucken
Am Fußende des Bettes, auf einer Kommode in der Zimmerecke, steht ein Tablet. Es laufen Youtube-Videos mit der Fantasiefigur Makka Pakka. Es ist eine Sendung für kleine Kinder, Daria hat sie früher immer angeschaut, als sie zwei oder drei Jahre alt war. Als sie noch sehen konnte.
Seit ein paar Jahren ist Daria blind. Niemand weiß genau, wie lange schon. Sie selbst hat nie gesagt, dass sie ihre Spielsachen nicht mehr sieht, die Bilder im Fernsehen, die Wolken am Himmel, die Gesichter ihrer Eltern. Sie hat es einfach hingenommen. So, wie sie alles immer hingenommen hat. Dass sie irgendwann immer stolperte und beim Stehen plötzlich umkippte. Dass sie von Polen nach Deutschland umziehen musste – ohne ihre Großeltern Babcia Teresa und Dziadek Kazimierz, um hier behandelt werden zu können. Dass ihr eine Kapsel mit einem dünnen Schlauch unter die Kopfhaut implantiert wurde, damit die Ärzte ihr die Medikamente direkt ins Gehirn spritzen können. Dass sie keinen Stift mehr halten und malen kann. Nicht mehr laufen, sprechen und essen kann.
„Daria hat nie gefragt, warum das alles passiert“, sagt ihre Mutter Katarzyna Aleksander. Sie hat es einfach ausgehalten. „Anders als Oliwia“, sagt die Mutter und macht eine Pause. Der Rest des Satzes hängt in der Luft wie der Geruch des Desinfektionsmittels. Oliwia liegt im Zimmer nebenan. Sie ist Darias Schwester und hat auch NCL. „Als Oliwia gemerkt hat, dass sie plötzlich weniger konnte als ihre Freundinnen, und die anderen über sie gelacht haben, ist sie immer trauriger geworden“, erinnert sich Katarzyna Aleksander. „Irgendwann war es so schlimm, dass sie nicht mehr aus dem Haus gehen wollte.“ Oliwia ist zehn Jahre alt.
Ein Leben im Zeitraffer: Nach und nach versagen bei den Kindern die primären Lebensfunktionen
Eigentlich wäre sie jetzt in der 5. Klasse. Auch am Hirtenweg. Doch Oliwia geht nicht mehr zur Schule, ihre Eltern haben sie abgemeldet. Zwei Tage in der Woche ist sie im Hospiz. Seit sie vor einem Jahr Corona sowie eine Lungenentzündung hatte und zwei Monate lang auf der Intensivstation lag, geht nichts mehr. „Bis dahin konnte sie noch sprechen, essen und schlucken“, sagt Katarzyna Aleksander. Jetzt sitzt eine Krankenschwester neben ihrem Bett und saugt ihr einmal in der Stunde den Speichel ab.
Es ist ein Leben im Zeitraffer, grausam programmiert. Ihre Eltern wissen, was als Nächstes passieren wird. Dass nach und nach die primären Lebensfunktionen versagen. Bis irgendwann ihr Herz aufhört zu schlagen, oder sie erstickt. Sie haben das schon einmal mitgemacht – mit Pawel, ihrem Ältesten. Er hatte auch NCL. Vor einem Jahr ist er gestorben, mit 14 Jahren und zwei Monaten.
NCL ist eine Erbkrankheit, bei der die Eltern in der Regel nicht erkrankt sind, aber neben der gesunden Erbanlage auch eine fehlerhafte Erbanlage in sich tragen – und an das Kind weitervererben können. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elternpaar mit fehlerhaften Anlagen die Krankheit vererbt und ihr Kind betroffen ist, liegt bei eins zu 4. So die Statistik.
Für eine Studie am UKE holte das Pharmaunternehmen Familien aus der ganzen Welt nach Hamburg
Doch das Schicksal lässt sich nicht in Zahlen pressen. Familie Aleksander hat drei kranke Kinder bekommen. Pawel, Daria und Oliwia. Drei Namen, ein Schicksal. Denn NCL ist nicht heilbar.
„Als man uns in Polen die Diagnose mitteilte, hieß es, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gebe. Keine Hoffnung. Nur Palliativversorgung“, sagt Katarzyna Aleksander und erzählt, dass sie damals zu Hause noch nicht mal Internet hatten, um recherchieren zu können. Ihre Schwester sei es gewesen, die von der neuen Studie in Hamburg erfuhr und Kontakt zu den Ärzten aufnahm.
In der Erzählung werden Monate zu Minuten. Ein Lebensabschnitt zusammengefasst in wenigen Sätzen. Der Abschied von der Familie, der Umzug nach Hamburg. Das Pharmaunternehmen, das alles für sie organisierte und bezahlte. Der erste Termin im UKE. So viel Hoffnung, so viel Enttäuschung. Denn bei Pawel ist die Krankheit damals bereits zu weit fortgeschritten. „Er musste für die Studie laufen können, ist aber immer über seine Füße gestolpert“, erinnert sich Katarzyna Aleksander und erzählt, wie sehr sie gehofft hatten, dass das an der Reise liegt, dass er nur einen schlechten Tag hat, dass er einfach müde ist. Vergebens.
Pawel durfte nicht an der Studie teilnehmen, Daria schon. Damals wussten sie nicht, dass auch Oliwia NCL hat, sie wurde erst einen Monat nach ihrer Ankunft in Hamburg getestet. Als man die Krankheit schließlich bei ihr feststellte, kämpfte das UKE dafür, dass auch Kinder unter drei Jahren an der Studie teilnehmen durften. Mit Erfolg: Oliwia war erst 2,5 Jahre alt, als die Therapie begann.
Aus Kinderzimmern sind Krankenzimmer geworden: medizinisches Zubehör statt Spielsachen
Manchmal fragt sie sich ... Katarzyna Aleksander setzt zu diesem Satz an, spricht ihn aber nicht zu Ende. Sie hat aufgehört, sich Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt. Fragen, ob Pawel mit der Studie länger gelebt hätte. Ob es Oliwia besser gehen würde, wenn sie die Medikamente noch früher bekommen hätte. Warum sie, warum ihre Kinder. Warum dieses Leid.
Aus Kinderzimmern sind Krankenzimmer geworden, statt Spielsachen gibt es medizinisches Zubehör. Künstliche Nahrung, Spritzen, Salben, Verbände, Rollstühle, Lagerungshilfen. Pakete mit Windeln für einen Teenager, der laut Musik hören und tanzen sollte. Streiten und lachen sollte. Leben. An den Wänden hängen Fotos von Daria, Oliwia und Pawel, als es ihnen noch gut ging.
In der Erinnerung verschwimmen die Jahre, die Zeit. Katarzyna Aleksander fällt es schwer, sich an Jahreszahlen zu erinnern, die Abläufe chronologisch zu ordnen. Es ist, als ob die letzten zehn Jahre, die Zeit in Deutschland, in zwei Hälften geteilt ist. Die ersten Jahre, vier oder fünf müssen es gewesen sein, in denen die Familie an der Studie teilnahm und sich das Pharmaunternehmen um alles kümmerte, alles bezahlte. Die Reisen, die Unterbringung in einem Appartement-Hotel, gemeinsam mit anderen betroffenen Familien aus der ganzen Welt. Verbündete in der Fremde.
Schule Hirtenweg: Nirgendwo sonst gibt es eine Schule mit so vielen NCL-Kindern
„Wir hatten alle das gleiche Schicksal. Wir waren wie eine Familie“, sagt Katarzyna Aleksander. Eine Familie, die füreinander da war, in der man zusammen lachte und zusammen litt. „Zuerst hat uns das Kraft gegeben. Doch dann ist es zu viel geworden“, sagt Katarzyna Aleksander und meint: zu viel Nähe, zu viel Leid. „Irgendwann leidet man nicht mehr nur mit den eigenen Kindern, sondern auch mit denen der anderen Familien. Das ist mehr, als man ertragen kann.“
Das Hotel, ihr Zuhause auf Zeit, liegt damals im Stadtteil Hamburg-Neustadt, im Einzugsgebiet der Schule Hirtenweg. Da die betroffenen Kinder und ihre Geschwister schulpflichtig sind, besuchen sie in den nächsten Jahren die Schule Hirtenweg.
Bis 2018 läuft die Studie. Das Ende ist ein Einschnitt im Leben der Familie Aleksander. Sie müssen sich danach selbst eine Wohnung suchen, eine Arbeit. Alles selbst organisieren. Katarzyna Aleksander fängt mit einem Job an, 25 Stunden pro Woche arbeitet sie als Pflegeassistentin. Vormittags hilft und pflegt sie alte Menschen, nachmittags ihre eigenen Kinder.
„Weltweit erste Therapiemöglichkeit für Kinderdemenz CLN2 entwickelt. Erfolgreiche internationale Studie unter UKE-Leitung“, schreibt das UKE am 25. April 2018 in einer Pressemitteilung. Darin heißt es, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen neuen Behandlungsansatz für die spätinfantile Neuronale Ceroid Lipofuszinose (CLN2) – einer Form der sogenannten Kinderdemenz – gefunden haben.
Demnach könne eine Enzymersatztherapie mit Cerliponase alfa den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen. Bei rund zwei Drittel der Patientinnen und Patienten konnte der Krankheitsverlauf signifikant verlangsamt werden, heißt es. 24 Kinder haben an der Studie teilgenommen, zwölf davon in Hamburg. Fast alle dieser zwölf von ihnen waren auf der Schule Hirtenweg.
Medikamente verlangsamen Krankheitsverlauf – Aber: „Wir verlängern damit auch das Leiden“
CLN2 ist die Variante, die Oliwia und Daria haben. Um das Medikament bekommen zu können, wurde den Kindern eine kleine Kapsel unter die Kopfhaut implantiert, von der ein dünner Schlauch direkt ins Gehirn führt. Alle zwei Wochen haben sie dadurch den flüssigen Wirkstoff als Infusion erhalten, vier Stunden lang hingen sie am Tropf. Alle zwei Wochen mussten sie über Nacht im Krankenhaus bleiben, zweimal im Jahr wurde unter Vollnarkose ein MRT gemacht, um den Verlauf zu dokumentieren. „Trotzdem sind sie immer mit einem Lächeln ins Krankenhaus gegangen“, sagt ihre Mutter.
Manchmal, wenn sie bei Daria oder Oliwia am Bett sitzt, tastet sie mir ihren Fingern nach der Kapsel unter der Kopfhaut. Sie befindet sich noch immer dort. Aber eigentlich brauchen sie diese nicht mehr. Sie haben die Behandlung vor drei Jahren abgebrochen. „Es ging einfach nicht mehr“, sagt Katarzyna Aleksander und meint: während Corona mit den ganzen Tests und Vorsichtsmaßnahmen. Während ihr Mann bei dem schwer kranken Pawel zu Hause bleiben musste und sie mit den Mädchen alleine im Krankenhaus war. „Solange Oliwia noch einigermaßen gehen konnte, habe ich das noch geschafft. Aber nicht mehr, als beide Mädchen im Rollstuhl saßen und ich mit ihnen alleine im Krankenhaus war.“ Als Pawel gestorben ist, konnte sie nicht bei ihm sein, sich nicht verabschieden. Sie war mit Oliwia im Krankenhaus.
Sie fragt sich, ob das egoistisch klingt. So soll es auf keinen Fall wirken. Im Gegenteil. Ihr ging es immer nur um die Kinder. „Irgendwann hatten wir das Gefühl, dass wir die Krankheit nicht aufhalten, sondern ihr Leiden nur verlängern.“
Früher wurden Kinder mit CLN2 zehn, vielleicht elf oder zwölf Jahre. Heute erreichen viele von ihnen das Teenageralter. „Dank der Therapie wird die Lebenserwartung der betroffenen Kinder verlängert“, sagt Dr. Angela Schulz, Leiterin der internationalen Studie sowie der Sprechstunde für Degenerative Gehirnkrankheiten mit dem Schwerpunkt „Kinderdemenz NCL“ der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKE. Sie hofft, dass am UKE demnächst ein Pilotprojekt starten kann, in dem Kinder auf Wunsch der Eltern im Rahmen eines Neugeborenenscreenings auf CLN2 getestet werden, um so einen frühen Therapiebeginn zu ermöglichen und das Auftreten von Krankheitsproblemen zu vermeiden.
Schule Hirtenweg: Vor jedem Klassenzimmer stehen mehrere Rollstühle
Zurück an der Schule Hirtenweg. Die Schule ist eine von vier Sonderschulen für körperlich-motorische Entwicklung in Hamburg. Fast die Hälfte der 182 Schüler hat neben einer körperlichen Behinderung auch einen sogenannten „Förderbedarf geistige Entwicklung“ oder „Förderbedarf Lernen“. Vor jedem Klassenzimmer stehen mehrere Rollstühle.
Trotzdem oder gerade deswegen: Sie wollen nicht, dass man nur die Schicksale sieht. Sondern sie als Schule wahrnimmt, als Ort des Lernens und des Lebens. Eine Schule, in der jedes Kind auf seine Art unterstützt wird, lernt und lacht, Spaß hat und wächst. Eine Schule, in der die Jugendlichen ihren ersten Schulabschluss, den ESA, machen können.
Im Klassenraum der 8b stehen kleine Blumentöpfe mit Pflanzen. Eine Referendarin hat die Setzlinge mit den Schülern vor einem halben Jahr eingepflanzt. Damit die Jungen und Mädchen sehen, wie Pflanzen wachsen, groß werden, sich weiterentwickeln. Die Pflanzen sollen die eigene Entwicklung der Jugendlichen symbolisieren.
Darias Pflanze ist wie die der anderen gewachsen, doch Daria selbst baut immer weiter ab. Manchmal erinnern sich Theda de Wall und ihr Kollege Tom Warnke daran, wie Daria in der 5. Klasse war. Selbstbestimmt und fröhlich, richtig extrovertiert. Lustig und laut, fordernd, voller Lebensfreude. Sie konnte noch ein paar Wörter sprechen und noch selbst stehen, ein bisschen zumindest, wenn sie sich an einem Ständer abgestützt hat. „Auch wenn Darie schon lange nicht mehr den Unterricht mitmachen konnte, wir hatten immer den Eindruck, dass sie gerne in ihrer Klasse war“, sagt Erzieher Tom Warnke.
Seit einigen Monaten haben sie dieses Gefühl nicht mehr. Jetzt fragen sie sich immer öfter, wie lange die Schule eigentlich der richtige Ort für schwer kranke Kinder wie Daria ist. Daria, die inzwischen intensivmedizinisch betreut wird und eine Pflegekraft benötigt, damit sie ihr in der Schule den Speichel absaugt und ihre Sauerstoffsättigung kontrolliert.
Kinderdemenz: Sind die Kinder in der Schule richtig aufgehoben – oder brauchen wir mehr Hospizplätze?
Wie lange kann man in solchen Fällen an der Schulpflicht festhalten? Was kann den betroffenen Kindern, aber auch den Klassenkameraden und Mitarbeitern zugemutet werden? Und sind diese Kinder wirklich in der Schule richtig aufgehoben oder braucht unser System mehr Hospizplätze? Würden dann vielleicht mehr Eltern ihre schwer kranken Kinder von der Schulpflicht befreien lassen, wenn sie ihre Kinder stundenweise in Pflegeeinrichtungen unterbringen könnten, um entlastet zu werden? Fragen wie diese stellt man sich am Hirtenweg. Es ist ein schmaler Grat, eine schwierige Diskussion. Es gibt viele Meinungen, kein „richtig“ oder „falsch“.
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Kinder mit Demenz: Familie Aleksander hat gerade noch ein viertes Kind bekommen. Ist es gesund?
Auf Darias Schreibtisch in ihrem Kinderzimmer liegen schon lange keine Hefte und Stifte mehr. Auf der Arbeitsplatte stehen ein Korb mit Spritzen, eine Flasche Desinfektionsmittel und Schachteln mit Medikamenten. Ihre Eltern hoffen, dass sie hier, unter der Lichterkette mit den Einhörnern und dem Traumfänger an ihrem Bett, irgendwann einfach einschlafen wird. So wie Pawel im vergangenen Jahr.
Sie haben ihn in Polen beerdigen lassen, in ihrer Heimat. Irgendwann wollen Katarzyna und Sebastian Aleksander dorthin zurückkehren, in ihr leeres Haus in den Bergen. Davon träumen sie manchmal. Von einem normalen Leben. Mit einem gesunden Kind.
Vor fünf Monaten haben sie noch ein Baby bekommen: Eliza. Eins zu vier. So groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ebenfalls NCL hat. 25 Prozent. Noch während der Schwangerschaft haben sie den Test gemacht. Das Ergebnis kam, als Katarzyna gerade bei der Arbeit war. Eliza ist gesund. Für sie ist das wie ein Wunder.
Katarzyna und Sebastian hoffen, dass sich Eliza eines Tages, wenn sie größer ist, an ihre Geschwister erinnern wird. An Pawel, Oliwia und Daria.