Hamburg. Halbleiterhersteller NXP stellt Prototyp eines neuartigen Rechners vor. Bund investiert 208 Millionen Euro. Tschentscher schwärmt.
Früher hieß das Hamburger Unternehmen Valvo Radioröhrenfabrik, es stellte Technik für den Rundfunk her; heute ist NXP ein weltweit bedeutender Zulieferer von Halbleitern für die Auto- und Elektronikindustrie, mit einem Jahresumsatz von mehr als 13 Milliarden US-Dollar. Am Donnerstag feierten die Chip-Spezialisten das Jubiläum des 100-jährigen Bestehens in Lokstedt. Dabei begrüßten sie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – und stellten eines ihrer wichtigsten Zukunftsprojekte vor: den nach eigenen Angaben ersten vollständig in Deutschland entwickelten Quantencomputer.
Das Entwicklerkonsortium, zu dem auch das Start-up Eleqtron und die Firma ParityQC gehören, spricht von einem „Demonstrator“: Dabei handele es sich um einen Rechner, mit dem Wissenschaftler die Grundlagen des Quantencomputings erproben könnten, um sie besser zu verstehen und Anwendungen dafür zu entwickeln. Einen klassischen Supercomputer überflügeln könne das System namens QSea I allerdings noch nicht.
Scholz: Quantencomputing hilfreich für Chemie, Biowissenschaft, Finanzen und Mobilität
„Wir in Deutschland können uns mit unseren Anstrengungen im internationalen Vergleich sehen lassen“, sagte Scholz, bevor er mit NXP-Entwicklungsvorstand Lars Reger und weiteren Projektbeteiligten auf einen symbolischen Startknopf drückte, um das System einzuweihen. Scholz zitierte eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, wonach Quantencomputing besonders den Sektoren Chemie, Biowissenschaft, Finanzen und Mobilität helfen könnte. „Das heißt: Gerade diejenigen Branchen, die bei uns in Deutschland besonders stark vertreten sind, werden besonders stark profitieren – schon deshalb müssen wir größtes Interesse an der Entwicklung und Anwendung von Quantencomputing haben“, sagte Scholz.
„Entscheidend wird sein, dass der Transfer von der Forschung in die Anwendung und Geschäftsmodelle zügig gelingt – und zwar nicht irgendwo auf der Welt, sondern hier bei uns in Deutschland“, so der Bundeskanzler. Das Hamburger Quantencomputer-Projekt trage dazu bei, „dass in Deutschland Zukunft und Zuversicht zusammengehören“. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sprach von einem „Meilenstein“ in der Forschung und würdigte NXP als eines der „innovativsten und erfolgreichsten Unternehmen, die je in Hamburg gegründet wurden“.
Quantencomputer sollen etwa die Entwicklung von Medikamenten beschleunigen
Mit den neuartigen Maschinen sind große Erwartungen verbunden: Sie könnten wohl beispielsweise Wettervorhersagen schneller berechnen, Klimamodelle verbessern, die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigen (dabei wird das Verhalten vieler Wirkstoffmoleküle simuliert).
Zudem könnten sie die Logistik optimieren, wenn es darum geht, Lieferketten mit vielen Zwischenstationen zu verbessern, also etwa ideale Routen für Schiffe, Lkw und Transporter zu finden, um Treibstoff und Zeit zu sparen. Während ein klassischer Rechner viele mögliche Varianten nacheinander berechnen muss, etwa Längen verschiedener Routen und Fahrtzeiten, um am Ende zur besten Lösung zu kommen, soll ein Quantencomputer viele oder alle nötigen Berechnungen gleichzeitig durchführen können.
Hamburger Quantencomputer soll etliche Probleme lösen
NXP zeigte sich am Donnerstag überzeugt, dass Quantencomputer mit ihrer „außergewöhnlichen Rechenleistung“ komplexe Probleme lösen werden, „die für den gesellschaftlichen Fortschritt von entscheidender Bedeutung sind“. Dass der präsentierte QSea I in Hamburg stehe, stärke „die Rolle der Stadt als wichtiger Technologie- und Forschungsstandort in Deutschland“, so das Unternehmen. Allerdings bleibe trotz der rasanten Entwicklung des Quantencomputings in den vergangenen Jahren „der Weg zur industriellen Nutzung schwierig, da es der Industrie an entsprechenden Kompetenzen mangelt“.
Auftraggeber ist das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR): Es fördert in Hamburg insgesamt fünf Projekte zur Entwicklung von Quantencomputern mit 208,5 Millionen Euro. Das Geld kommt vom Bundeswirtschaftsministerium. Die Institute des DLR sollen die neuartigen Rechner für Forschung und Entwicklung nutzen – beginnend voraussichtlich im Spätsommer mit dem nun vorgestellten QSea I des Konsortiums um NXP.
In Quantencomputern sollen Atome zu Rechenkünstlern werden
Herkömmliche Computerchips funktionieren verkürzt dargestellt so: Unter dem Einfluss einer elektrischen Spannung werden Elektronen dazu gebracht, winzige Chip-Bausteine zu laden oder zu entladen. Eine Einstellung steht für Null, die andere für Eins, die beiden Zeichen des digitalen Alphabets – Bits. Kombinationen aus extrem vielen Einsen und Nullen bilden Informationen, mit denen ein Computer arbeitet, die er in Texte, Bilder oder Videos übersetzt. Supercomputer mit solchen Chips arbeiten zwar schon rasend schnell – doch mit der Zunahme der Datenmengen in Forschung und Industrie ist der Bedarf an noch mehr Rechenleistung gewachsen.
Quantencomputer basieren nicht auf elektrischen Zuständen, sondern auf Phänomenen in der Welt der Quanten. Mit diesem Begriff gemeint ist der kleinstmögliche, nicht teilbare Wert einer physikalischen Größe, vereinfacht auch: ein bestimmter Zustand etwa von Atomen, die angeregt werden, zum Beispiel von Laserstrahlen. In dieser Form können Quanten zu Qubits werden, angelehnt an die Bits in herkömmlichen Computern.
Wie die von NXP genutzte Ionenfallen-Technik funktioniert
Ein Qubit kann nicht nur im Zustand 0 oder 1 sein, sondern gleichzeitig in beiden Zuständen – oder theoretisch sogar unendlich viele Zustände dazwischen einnehmen. Mit Rechenanweisungen, die auf diese Fähigkeiten zugeschnitten sind, lassen sich mit Qubits in einem Schritt parallel viel mehr Berechnungen durchführen als mit herkömmlichen Bits – zumindest erwarten das viele Forschende und Firmen.
Der von NXP vorgestellte Quantencomputer basiert auf der Ionenfallen-Technik: Statt winzige Chip-Bausteine zu laden oder entladen, werden in einer Vakuumkammer von der Größe eines Schuhkartons winzige Teilchen fixiert: Ionen, elektrisch geladene Atome. Das Vakuum ist nötig, damit die winzigen Teilchen nicht mit ihrer Umgebung reagieren. Nun werden in der Kammer Mikrowellen erzeugt, mit deren Hilfe sich die Ionen kontrollieren und dazu bringen lassen, ihren Zustand zu verändern. So werden aus ihnen Qubits, in denen Informationen gespeichert werden und mit denen man dann Berechnungen durchführen kann.
Noch füllt das gesamte Quantencomputersystem ein kleines Labor
Ionenfallen werden an anderer Stelle schon genutzt, etwa für die Spektroskopie. Doch erst die Kontrolle und Steuerung der Teilchen – im Fall des QSea I durch Mikrowellen – machten eine Gruppe von Ionen zu einem Rechner, erläutert das DLR. Das gesamte System rund um die Vakuumkammer mit zur Kühlung eingesetzten Lasern, einer Klimaanlage, Kontrollrechnern und weiterer Elektronik füllt ein kleines Labor. Derzeit kann QSea I erst auf einzelnen Qubits Berechnungen ausführen, bald soll der Demonstrator mit zehn Qubits arbeiten.
- Neues Großprojekt: Hamburger Physiker bauen Quantencomputer
- Hamburg will beim Quantencomputing an die Weltspitze
- Fraunhofer-Institute wollen Hamburgs Wirtschaft helfen, Quantencomputer zu nutzen
Um klassische Computer bei bestimmten Anwendungen zu übertrumpfen, sind laut DLR aber deutlich mehr Qubits nötig – einige hundert gelten als Untergrenze. Mittelfristig sollen der QSea I und weitere Systeme stabil mit 50 bis 100 Qubits laufen, hoffen das Konsortium um NXP und das DLR Die Zukunftsvision sind sehr kleine Ionenfallen bzw. Quantencomputingchips, die von Unternehmen wie NXP massenhaft hergestellt werden.
Noch führen die USA und China das Rennen um die besten Quantencomputer an
Der erste Quantencomputer hierzulande ging 2021 am Deutschlandsitz des US-Konzern IBM in Ehningen bei Stuttgart in Betrieb. Entwickelt und hergestellt wurde der Rechner mit 27 Qubits in den USA. Auch Google investiert massiv in die Entwicklung von Quantencomputern. China gilt als zweiter Tempomacher. Deutschland soll nicht den Anschluss verlieren: Vor einem Jahr erklärte die Bundesregierung, sie werde bis 2026 für Quantentechnologien 2,18 Milliarden Euro bereitstellen.