Hamburg. Nach dem Pisa-Debakel: Anderer Unterricht – was Schulsenator Ties Rabe und die Kieler Bildungsministerin Karin Prien verändern wollen.

Am Rande seines Neujahrsempfangs im Hotel Vier Jahreszeiten lud das Abendblatt SchulsenatorTies Rabe (SPD) und die schleswig-holsteinische BildungsministerinKarin Prien (CDU) zum gemeinsamen Interview. Nach dem dramatisch schlechten Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten Pisa-Studie gab es einiges zu besprechen.

Es ging um die veränderte Schülerschaft, neue Formen des Unterrichts und die Stärkung der grundlegenden Kompetenzen Lesen, Schreiben, Verstehen und Rechnen. Was machen die Pisa-Gewinnerländer anders, und welche Konsequenzen muss das deutsche Bildungssystem daraus ziehen? Einig waren sich Prien und Rabe unter anderem darin, dass Schüler in Deutschland mehr Zeit zum Lernen brauchen.

Schule im Norden: Pisa-Schock ist nicht nur der Pandemie geschuldet

Historischer Tiefstand bei Lesen und Mathe in der jüngsten Pisa-Erhebung. Sogar noch mal schlechter als die Ergebnisse 2000, als Pisa einen regelrechten Schock im deutschen Schulwesen ausgelöst hatte und einige Anstrengungen Erfolg hatten. Wie kann das sein?

Ties Rabe: Man muss die Ergebnisse erst einmal einordnen, um Schlüsse aus ihnen zu ziehen. 2000 lagen wir zehn Punkte hinter dem Durchschnitt der OECD-Länder, jetzt liegen wir zehn Punkte vor dem OECD-Durchschnitt. Alle Länder haben dramatische Leistungseinbußen – insbesondere die westeuropäischen Staaten. Das heißt nicht, dass man nichts tun muss – aber es zeigt, dass dies keine allein deutsche Bildungskatastrophe ist, sondern es gibt große Schwierigkeiten in vielen westeuropäischen Ländern. Da sind wir nicht anders dran als Norwegen oder Schweden.

Karin Prien: Ohne Zweifel sind die Ergebnisse nicht hinnehmbar. Aber auch vermeintliche Vorzeigeländer wie Finnland oder die Niederlande haben vergleichbare Einbrüche. Wir müssen die Ursachen genau analysieren und unsere Konzepte erweitern.

Was machen die Pisa-Gewinner die ostasiatischen Staaten, aber auch Estland besser?

Rabe: Zunächst einmal haben die Schulschließungen in der Corona-Zeit große Lücken gerissen. Sie waren in Deutschland verhältnismäßig lang im Vergleich zu anderen, auch im Verhältnis zu einigen südostasiatischen Ländern, und Deutschland war bei der Digitalisierung Schlusslicht, sodass sich die Schulschließungen in Deutschland auch wesentlich dramatischer ausgewirkt haben. Deutsche Schülerinnen und Schüler beklagen viel stärker als in anderen Ländern, dass ihnen in der Corona-Pandemie zu Hause von den Eltern sehr wenig geholfen wurde.

Aber die Pandemie ist nicht die einzige Ursache.

Rabe: Richtig. Der zweite Grund für die Schwierigkeiten liegt darin, dass sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft erheblich geändert hat. Vor zehn Jahren waren ungefähr 25 Prozent Kinder aus bildungsfernen Familien, die es in der Schule schwer haben. Jetzt sind es in Deutschland mehr als 40 Prozent. Das ist in den Gewinnerländern Estland oder Singapur anders.

Prien: Es ist zudem absurd, Estland mit Deutschland zu vergleichen. Dennoch kann man sowohl in Estland als auch in Finnland als auch in Kanada, wo ich besonders gern hinschaue, natürlich Dinge lernen, die wir in Deutschland besser machen können.

Schule im Norden: Basiskompetenzen müssen im Unterricht eine größere Rolle spielen

Nämlich?

Prien: Wir müssen die veränderte soziale Struktur bei Kindern und Jugendlichen sehr ernst nehmen. Da geht es nicht nur, aber auch um Migration. Deshalb müssen wir Schule und die Hilfesysteme rund um Schule näher zusammenbringen. In Deutschland gibt es im Moment noch auf der einen Seite die Schule mit ihren pädagogischen Kräften und auf der anderen Seite Systeme wie die Eingliederungshilfe oder Jugendhilfe, die nicht in dem Umfang zusammenarbeiten wie nötig. Wir haben einzelne Klassen, wo inzwischen mehr als 70 Prozent der Kinder besondere Unterstützung und Förderung benötigen; und das ist in Hamburg nicht anders.

Rabe: Wir müssen mehr Zeit und Konzentration darauf verwenden, dass die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Verstehen und die mathematischen Grundlagen im Unterricht eine größere Rolle spielen. Bei uns sprechen 35 Prozent der Kinder zu Hause kein Deutsch. Wenn zu Hause kein Deutsch gesprochen oder gelesen wird, dann kann das nicht geübt werden. Wir müssen erkennen, dass Kinder insgesamt zu Hause kaum noch üben, deshalb müssen wir die Übungsprozesse in die Schule verlagern. Das bedeutet eine andere Gewichtung zwischen den Fächern, aber auch eine andere Art des Lehrens und Unterrichtens.

Das könnte bei einigen Lehrkräften auf Widerstand stoßen, die an ihren pädagogischen Methoden festhalten möchten. Wie wollen sie das durchsetzen?

Rabe: Lehrkräfte lassen sich überzeugen. Wir haben in Hamburg Erfolg damit gehabt, Wissenschaftler in Vorträgen vor Schulleitern erläutern zu lassen, wie wichtig Übungsprozesse sind, und das führte schon zu einer Umkehr. In der Hälfte der Hamburger Grundschulen muss jeden Tag 20 Minuten gelesen werden. Das ist eher durch Einsicht gelungen, das zu vermitteln, als durch Anordnung. Lehrerinnen und Lehrer wollen auch, dass die Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind.

Prien: Wir machen das auch. Einsicht und mehr Unterstützung sind wichtig. Aber ich glaube, es geht auch um mehr Verbindlichkeit. Wir haben ja sehr lange in Deutschland darauf vertraut, dass schon jeder Lehrer und jede Schule weiß, was richtig ist. Neben einer Stärkung der Grundkompetenzen der Schüler setzen wir auf eine mehr datengestützte Schulentwicklung. Wir müssen regelmäßig in der Lerngruppe und auf Schulebene überprüfen, was wirklich funktioniert, und müssen dann an den entscheidenden Stellschrauben drehen. Anhand von Lernstandsuntersuchungen kann die Lehrkraft auf ihre Lerngruppe schauen und für jedes einzelne Kind geeignete Fördermaßnahmen anwenden.

Rabe: Hamburg ist unter allen Bundesländern hier Vorreiter, weil wir alle zwei Jahre bei allen Kindern den Lernstand erheben. In den meisten Bundesländern findet das zwischen Klasse eins und zehn nur zweimal statt. Wir haben das ausgebaut, weil man so erkennen kann, in welchen Klassen der Unterricht erfolgreich läuft und wo auch noch Handlungsbedarf ist.

Prien: Wir werden in Schleswig-Holstein eine Lernstandserhebung zu Beginn des ersten Jahrgangs einführen, um zu sehen, wie die Ausgangslage bei den einzelnen Kindern ist. Diese weichen teilweise sehr stark voneinander ab. Und wir haben einen Lernstand fünf eingeführt. Das heißt: Wir schauen uns zu Beginn der fünften Klasse an, wo die Schülerinnen und Schüler stehen, um sie dann bis zur siebten Klasse gezielt fördern zu können. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Teil der Lösung.

Schule im Norden: Hamburg steht im Bundesdurchschnitt noch gut dar

Trotzdem ist die Erkenntnis nicht neu, dass ein erheblicher Teil der Schüler die Basiskompetenzen zum Beispiel am Ende der Klasse vier nicht erfüllt. All die Maßnahmen, die Hamburg bislang ergriffen hat, haben nicht dazu geführt, dass es an der Stelle einen durchgreifenden Wandel gab. Ist Bildungspolitik ein Stück weit hilflos?

Rabe: Wir wollen einmal festhalten: Während im Bundesdurchschnitt die Schülerinnen und Schüler heute im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit einen Lernrückstand von einem halben Jahr haben, konnten wir in Hamburg trotz Schulschließungen den Lernrückstand auf drei bis vier Wochen begrenzen. Das ist angesichts der veränderten Schülerschaft und der Corona-Folgen durchaus ein Erfolg. Man kann also etwas tun. Wenn Schülerinnen und Schüler zu Hause wenig Rückenwind beim Lernen bekommen, dann muss die Schule diese Rolle übernehmen. Dafür braucht die Schule mehr Zeit für Unterricht und gutes Lernen. Wir setzen deshalb auf Ganztag und zusätzliche Fördermaßnahmen am Nachmittag. Hamburg hat deutschlandweit in der Grundschule die höchste Zahl an Unterrichtsstunden und zusätzlich nachmittägliche Ergänzungskurse. Wenn es vielen Familien zu Hause schwerfällt, die Kinder durch die Schule zu begleiten, dann muss die Schule eine größere Rolle übernehmen.

Trotzdem erreicht ein Viertel der Schüler die Basiskompetenzen am Ende der Grundschulzeit nicht. Muss man sich auf Dauer darauf einrichten, dass dies für einen Teil der Kinder zu schwierig ist?

Rabe: Nein, das können wir nicht hinnehmen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Schule mehr Zeit bekommt, das heißt: mehr Lernzeit für die Schülerinnen und Schüler, auch mehr Aufenthaltszeit in der Schule über den Ganztag. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs über diese neue, umfassendere Rolle von Schule, die von allen mitgetragen werden muss. Eine Halbtagsschule mit vier oder fünf Stunden Unterricht am Vormittag reicht nicht aus, um unsere Probleme zu lösen.

Was bedeutet mehr Zeit in der Schule?

Rabe: 100 Prozent der Hamburger Schulen haben kostenlose Ganztagsangebote bis 16 Uhr – allein in den Grundschulen nehmen mittlerweile 89 Prozent der Schülerinnen und Schüler teil. Jetzt müssen wir schauen, ob diese Nachmittagszeit noch effizienter genutzt werden kann – auch fürs Lernen. Das soll nicht in Form von Unterricht in Reih und Glied vor einer Tafel erfolgen. Aber auch ins Spielen lassen sich Lernprozesse integrieren. Da können wir sicherlich noch weiter vorankommen.

Schule im Norden: Müssen Unterrichtskonzepte überdacht werden?

Sie schauen etwas skeptisch, Frau Prien.

Prien: Ja, weil ich glaube, wir müssen noch etwas umfassender das Problem beleuchten. Wenn wir eine derart veränderte Schülerschaft haben, dann brauchen wir andere Unterrichtsmethoden. Aus dem IQB-Bildungstrend sehen wir beispielsweise, dass mehr als 60 Prozent der Schüler den Deutschunterricht stinklangweilig finden. Mit unseren Unterrichtskonzepten erreichen wir viele Schülerinnen und Schüler nicht, anders als in Englisch, wo wir dann auch deutlich bessere Ergebnisse haben. Für neue Unterrichtsmethoden und einen stärkeren Lebensweltbezug müssen wir auch die Hochschulen bei der Lehrerausbildung ins Boot holen. Es geht darum, das Problem gesamtgesellschaftlich anzupacken. Dazu gehören die Eltern und die Kitas, wir müssen Vorläuferfähigkeiten für die Schule in den Kitas fördern. Wir kümmern uns nach wie vor zu wenig um die frühkindliche Bildung.

Jetzt haben Sie gar nichts zum Ganztag gesagt.

Prien: Der hat eine zentrale Rolle. Hamburg ist da viel weiter als wir in Schleswig-Holstein. Wir haben eine viel niedrigere Ganztagsquote. Das liegt auch daran, dass die Menschen im Flächenland zum Teil noch in anderen sozialen Strukturen leben. Aber wir müssen und wollen den Ganztag im Norden ausbauen. Derzeit liegt der Anteil bei rund 40 Prozent. Unser Ziel ist übers Land gesehen eine Beteiligung zunächst zwischen 65 und 70 Prozent. Das wird in den Städten natürlich deutlich mehr sein, aber im ländlichen Raum auch entsprechend weniger. Und dann muss der Ganztag aber auch richtig genutzt werden. Dazu gehört mehr Lernzeit am Nachmittag und eine bessere Verzahnung zwischen Vor- und Nachmittag.

Bedeuten die Pisa-Ergebnisse jetzt, dass man den Mathe- und Deutschunterricht noch mal stundenmäßig ausbauen muss – und wenn ja, zu wessen Lasten?

Rabe: Wir haben die Konsequenz schon vor fünf Jahren aus früheren Studien gezogen, indem wir den Anteil der Deutsch- und Mathematik-Stunden erhöht haben – zum Teil auch, indem es jetzt mehr Unterricht gibt. In meiner Amtszeit haben wir den Unterricht beispielsweise an den Stadtteilschulen in fast jeder Klassenstufe um eine zusätzliche Unterrichtsstunde erhöht. Für den weiteren Ausbau der Unterrichtszeit in Deutsch und Mathematik haben wir auch den frei verfügbaren Gestaltungsspielraum der Schulen maßvoll reduziert.

Aber eine weitere Erhöhung der Stundenzahl wird es nicht geben?

Rabe: Es kann immer mehr geben. Aber ich sage mal ganz offen: Ich glaube, in Deutschland brauchen wir eine Diskussion über den Wert und die Bedeutung der Schule. Wenn man genau rechnet, ist nur an jedem zweiten Tag eines Jahres Schule. An den restlichen Tagen sind Ferien, Wochenenden oder Feiertage. Ich habe das fünf Jahre lang genau durchgezählt. Es war fast pari – pari. Das wird immer vergessen, es wird immer gestöhnt und gesagt, es sei so viel Stress und so weiter. Wissenschaftler sagen klar, dass das meistens an anderen Faktoren liegt, möglicherweise ist auch im Privatleben und bei den Hobbys und im Freizeitverhalten sehr viel Stress. Aber tatsächlich hat man nur jeden zweiten Tag Schule. In dieser Zeit steht ein Kind vielleicht um sieben auf und geht um 20 oder 21 Uhr ins Bett, je nach Altersgruppe. Wie hoch ist der Anteil des Lernens an diesen Tagen? Es ist verschwindend gering. Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass Grundschüler in ihrer Lebenszeit nur ein Sechstel aller Stunden gezielt lernen im Unterricht.

Was folgt daraus?

Rabe: Da müssen wir uns auch nicht wundern, wenn die Elternhäuser nach wie vor eine so große Bedeutung haben. Die Schule selber hat einen zu kleinen Stellenwert. Zudem müssen wir auch darüber reden, dass man nicht träumerisch im Liegen lernt. Nein, Lernen ist ein Prozess, der Konzentration, Übung, aber eben auch viel Zeit braucht. Und die haben wir jetzt manchmal nicht.

Ist das ein Plädoyer für kürzere Schulferienzeiten?

Rabe: Nein, es ist einfach nur ein Plädoyer dafür, dass wir uns wirklich mal ehrlich machen müssen über das Lernen. Sie fragten vorhin nach dem Geheimrezept der Pisa-Gewinnerländer. Das ist einfach: Die Schülerinnen und Schüler in den ostasiatischen Ländern investieren sehr, sehr viel Zeit ins Lernen. Sie haben gelernt, sich zu konzentrieren, sich auch einmal anzustrengen und ausdauernd zu lernen. Das ist das angebliche Geheimrezept der Siegerländer: länger, konzentrierter, intensiver und besser lernen. Mit vier bis fünf Schulstunden an jedem zweiten Tag wie in Deutschlands Grundschulen und einer oft verspielten, manchmal sogar laxen Lernkultur können wir die Probleme nicht bewältigen.

Schule im Norden: Höhere Zahl von Stunden in den ersten Klassen

Also doch Japan und Südkorea letztlich als Vorbild?

Rabe: Es ist nicht so, dass ich sage, genauso müssen wir es machen, aber wir müssen mal den Mut haben, uns auch diese Frage zu stellen. Die Kultusministerkonferenz versucht, sich gerade zu einigen auf eine höhere Zahl von Schulstunden im Grundschulbereich. Die liegt jetzt in einigen Ländern bei rund 23 Schulstunden pro Woche und Klassenstufe. Das ist halt sehr, sehr wenig, und das auch nur jeden zweiten Tag. Darüber muss man schon diskutieren.

Gibt es zu wenig Disziplin bei Schülerinnen und Schülern und in den Schulen, Frau Prien?

Prien: Nein. Ich glaube, erst einmal muss es um die Frage gehen, wie wir die Unterrichtszeit nutzen, die wir jetzt haben. Eine stärkere Konzentration auf die basalen Kompetenzen, auf Lesen, Schreiben und Rechnen ist zwar dringend erforderlich. Aber ich bitte auch zu beachten, dass wir die Kinder in eine soziale und emotionale Situation bringen müssen, in der sie überhaupt lernen können. Es gibt Kinder, die kommen in die Schule und können das nicht. Kinder, die sich nicht wohlfühlen, sich nicht konzentrieren und nicht still sitzen können, können auch nicht lernen.

Mehr zum Thema

Sollte die Zahl der Unterrichtsstunden erhöht werden?

Prien: Mehr Lernzeit schaffen – da bin ich sehr bei Herrn Rabe. Wir haben in Schleswig-Holstein bereits in der vergangenen Legislaturperiode zwei zusätzliche Stunden in die Grundschule gegeben, und wir haben uns als Koalition vorgenommen, zwei weitere hineinzugeben. Und wir haben klar gesagt, nur für Mathematik und Deutsch. Das ist in Zeiten knapper Kassen eine Herausforderung, aber wir haben heute noch immer zu wenig Lernzeit, auch an den Grundschulen. Die vorhandene Lernzeit muss den Schwerpunkt auf den Erwerb der basalen Kompetenzen – also Lesen, Schreiben und Rechnen – legen.

Schule im Norden: Ist Kanada ein Vorbild?

Manche Kommentatoren ziehen aus den Pisa-Ergebnissen den Schluss, dass der Bildungsföderalismus nicht funktioniert, und fordern eine einheitliche bundesweite Steuerung.

Prien: Die Kompetenz für Bildung liegt auf der Landesebene. Ich wüsste gar nicht, wer das im Bund machen sollte. Das ist auch eine etwas naive Vorstellung, als ob dann plötzlich alles besser werden würde. Kanada ist eines der erfolgreichsten Länder im Pisa-Vergleich mit hohen Migrantenzahlen im Schulbereich und ist ausgesprochen föderalistisch organisiert. Dort gibt es noch viel mehr Wettbewerb zwischen den Ländern als bei uns, aber eine gemeinsame strategische Zieldefinition.

Und was machen die Kanadier anders?

Prien: Sie fangen früher an. Sie setzen sich klare strategische Ziele. Und die Kanadier haben eine ganz konsequente, datengestützte Schulentwicklung. Dort ist nur noch die Hälfte des Personals an den Schulen Lehrer. Es gibt regelhaft multiprofessionelle Teams, die wirklich zusammenarbeiten. Die machen einmal die Woche Pflichtfortbildung für alle Lehrkräfte und noch vieles andere mehr.

Rabe: Wenn Schülerinnen und Schüler in Deutsch und Mathematik große Schwierigkeiten haben, dann ist das Dümmste, was wir machen können, Gespensterdiskussionen über den Föderalismus, die Kultusministerkonferenz oder ein ganz neues Schulsystem anzuzetteln. Solche Reformen dauern Jahrzehnte. Denn das Schulsystem ist keine Kleinigkeit, es kostet doppelt so viel wie die Bundeswehr und betrifft mit über zehn Millionen Schülern, 15 Millionen Eltern und rund einer Million Pädagogen fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung. Das alles politisch völlig neu aufzustellen, dauert 20 Jahre, und in diesen 20 Jahren lernen die Schüler weiterhin schlecht. Zudem weiß niemand, ob eine aus Berlin zentral gesteuerte Schulpolitik wirklich dazu führt, dass Schüler in Lurup oder Bergedorf plötzlich besser lesen lernen. Wir sollten besser jetzt die konkreten Dinge tun, die unseren Kindern schnell helfen, und wir sollten unsere wertvolle Zeit nicht mit Gespensterdiskussionen über Riesenreformen vergeuden.