Hamburg. Anna Gallina sieht den liberalen Rechtsstaat bedroht und macht ungewöhnliches Fairness-Angebot. Gegen die AfD gebe es nur ein Mittel.
Die in Teilen rechtsextreme AfD ist bundesweit auf dem Vormarsch: Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen lag die Partei mit 16 Prozent und 18,4 Prozent auf Platz zwei. Laut der jüngsten Umfrage in Hamburg könnte die AfD ihren Stimmanteil mit 13 Prozent gegenüber der Bürgerschaftswahl 2020 mehr als verdoppeln. Schon bekleiden AfD-Politiker politische Ämter auf kommunaler Ebene. Für Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) ist die Demokratie in Gefahr.
„Demokratien sterben leise und langsam. Sie sterben, wenn es Extremisten und Autokraten gelingt, mit den Mitteln der Demokratie in verantwortliche Positionen zu kommen“, sagt Anna Gallina im Gespräch mit dem Abendblatt. Die NSDAP habe während der Weimarer Republik nie eine eigene Mehrheit gehabt und sei trotzdem an die Macht gelangt. „Die AfD ist demokratisch gewählt, aber sie ist keine demokratische Partei. Ich finde, eine Partei, die mit dem Ziel durch die demokratischen Institutionen geht, sie abzuschaffen, ist eine Gefahr. Deswegen ist die harte Ausgrenzung das einzige Mittel der Wahl“, sagt die Grünen-Politikerin.
Grüne in Hamburg: Gallina setzt auf Schulterschluss demokratischer Parteien gegen AfD
So hält es Gallina für gerechtfertigt und richtig, dass die AfD von sensiblen parlamentarischen Gremien ausgeschlossen bleibt. Seit Jahren etwa scheitert die AfD-Fraktion mit ihren Vorschlägen zur Wahl eines Mitglieds für die Härtefallkommission der Bürgerschaft, weil SPD, Grüne, CDU und Linke sie ablehnen. Dass die CDU parlamentarische Mehrheiten für eigene Anträge aus der Opposition heraus mit Unterstützung der AfD erreicht, wie zuletzt in Thüringen geschehen, lehnt die Grünen-Politikerin selbstverständlich auch ab.
In den kommenden Monaten werden die politischen Weichen neu gestellt: 2024 werden die Bezirksversammlungen und das Europaparlament neu gewählt, 2025 die Bürgerschaft und der Bundestag. Gallina setzt auf einen klaren Schulterschluss gegen die AfD bereits vor den Urnengängen. „Wir werden gemeinsam in den nächsten Wahlkämpfen die Demokratie verteidigen müssen. Ich schlage vor, dass sich die demokratischen Parteien auf ein Wahlkampfabkommen für Fairness und Wahrheit verständigen“, sagt die Justizsenatorin. Nach ihrer Ansicht hat das in Umfragen messbar gesunkene Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit „der“ Politik, wichtige Probleme zu lösen, auch damit zu tun, dass falschen Behauptungen, Fake News oder Desinformation nicht konsequent widersprochen wird.
Falschinformation: Diskussion über Heizungsgesetz als abschreckendes Beispiel
„Das Heizungsgesetz ist ein super Beispiel dafür, was nicht gut ist für den demokratischen Diskurs. Irgendwann geisterte durch den öffentlichen Raum, dass angeblich jeder und jede die eigene Heizung rausreißen muss, um eine Wärmepumpe einzubauen. Jeder im politischen Spektrum wusste, dass das Quatsch ist. Das stand in keinem Gesetzentwurf“, empört sich Gallina. „Wenn man selbst die grüne Klimapolitik nicht so prickelnd findet, kann man natürlich zugucken, wenn mit falschen Zahlen operiert wird. Das halte ich aber für grundfalsch.“
Gallina hält eine konkrete Vereinbarung der demokratischen Parteien für erforderlich. „Sie sollten am besten schriftlich klare Regeln fixieren. Erst mal miteinander: aufhören damit, mit Halbwahrheiten oder Fehlinformationen Politik zu machen“, sagt Gallina und fügt hinzu: „Dazu gehört, dass man sich nicht heimlich freut, dass es für die anderen gerade blöd läuft, auch wenn man weiß, dass die Geschichte nicht stimmt.“
„Die Leitplanken des öffentlichen Diskurses“ seien aufgeweicht
Die Grünen-Politikerin fordert auch mehr Respekt der Parteien voreinander. „Der Satz, die Grünen sind der Hauptgegner, ist falsch. Wir sind vielleicht ein schwieriger Mitbewerber für die Union, aber der gemeinsame Hauptgegner ist doch die AfD“, sagt Gallina.
„Dass wir über ein Wahlkampfabkommen reden müssen, hat damit zu tun, dass die Leitplanken des öffentlichen Diskurses, die ungeschriebenen Regeln, so aufgeweicht sind. Dazu hat die CDU etwas beigetragen und trägt auch weiterhin dazu bei“, sagt die Senatorin. CDU-Parteichef Friedrich Merz habe für seine Partei die Strategie vorgegeben, „Angebote an den rechten Rand“ zu machen. „Nach dem Motto: Dann können die Leute statt der AfD gleich uns wählen. Diese Strategie ist gescheitert. Die aktuellen Wahlergebnisse belegen das Gegenteil“, sagt Gallina.
Nach Ansicht der Grünen-Politikerin kommt der CDU eine wichtige Rolle zu
„Aber wir können die AfD nur mithilfe der CDU kleinkriegen. Vielleicht ist es ein Wagnis, die CDU zur Teilnahme an einem Wahlkampfbündnis aufzufordern. Letztlich glaube ich aber, dass es auch in der CDU viele Mitglieder gibt, denen an einer gesellschaftlich stabilen Situation gelegen ist“, sagt Gallina.
Die Grünen-Politikerin betont die „Wächterfunktion“, die die demokratischen Parteien auch mit Blick auf ihre eigene Lage haben: „Sie sollten keine Autokraten aufstellen und ihnen keinen Raum geben.“ Wichtig sei außerdem, dass Wert und Bedeutung der Demokratie in einem Rechtsstaat deutlich gemacht werden. „Die demokratischen Parteien müssen zusammenkommen im Hinblick auf die Frage, was jetzt notwendig ist, um den demokratischen Diskurs neu zu beleben. Wir brauchen ein gemeinsames identitätsstiftendes Angebot“, sagt die Grünen-Politikerin.
In Thüringen wurde ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt
Wie ernst Gallinas Sorge um die Demokratie ist, zeigt auch dieser Vorstoß: Zusammen mit Thüringen und Sachsen legt Hamburg einen Beschlussvorschlag für die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und –minister am 9. November in Berlin vor. Titel: „Wehrhafter Rechtsstaat – Wie lassen sich die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Institutionen gegen Verfassungsfeinde verteidigen?“
Die Ministerinnen Katja Meier (Sachsen), Doreen Denstädt (Thüringen) und Gallina (alle Grüne) stellen in dem Papier fest, dass „autoritär-populistische Parteien zunehmend in Mitgliedstaaten der Europäischen Union Regierungsverantwortung tragen“. Gleichzeitig bestehe die Sorge, „dass angesichts der aktuellen bundes- und landesweiten Wahlumfragen die Beteiligung verfassungsfeindlich gesinnter Personen an (Landes-) Regierungen auch in Deutschland nicht mehr undenkbar erscheint“. Und: „Zweifel an der Verfassungstreue einzelner Amtsträger sind bereits Realität.“ Im August war ein Politiker des als rechtsextremistisch eingestuften AfD-Landesverbandes Thüringen zum Landrat des Kreises Sonneberg gewählt worden.
Der „Pakt für den Rechtsstaat“ soll nach dem Willen der Grünen verlängert werden
Den drei Grünen-Politikerinnen geht es darum, „eine mögliche Aushöhlung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu verhindern“. Ansatzpunkte seien besonders die Regelungen zur Wahl von Richterinnen und Richtern. Bezogen auf Hamburg kann sich Gallina vorstellen, die Wahlen im Richterwahlausschuss und die Wahlen der Bürgerschaft zur Härtefallkommission in die Verfassung zu schreiben, statt sie wie bislang nur einfach-gesetzlich zu regeln.
„Die Justiz ist der Einstieg für Autokraten. Wie gefährlich die Entwicklung rechtsextremer, rechtsnationaler und autokratischer Kräfte für den liberalen Rechtsstaat ist, zeigen Beispiele wie Polen oder Ungarn“, sagt Gallina und fügt hinzu: „Wir brauchen immer noch und vielleicht verstärkt einen Pakt für den Rechtsstaat.“ Die Bundesregierung müsse in den Rechtsstaat investieren und dürfe das Thema nicht für selbstverständlich nehmen. „Eine leistungsfähige Justiz ist für den Erhalt und die Stärkung des gesellschaftlichen Vertrauens in den Rechtsstaat und seine Institutionen unerlässlich“, heißt es in dem Beschlussvorschlag der drei Länder.
Auch die Beamtengesetze des Bundes und der Länder sollen überprüft werden
„Lange Verfahrensdauern zum Beispiel können Vertrauen in den Rechtsstaat kosten. Aber auch die Justiz selbst muss noch viel mehr tun, damit sie in ihrer Rolle verstanden wird“, sagt die Justizsenatorin. „Zu Beginn meiner Amtszeit hieß es häufig von Richterseite: Wir sind doch resilient. Aber jetzt hat sich der Blick gewandelt. Viele sind nachdenklich geworden und fragen mittlerweile: Wie können wir noch wehrhafter werden?“, so Gallina.
Mit den Vorschlägen „allein rettet man den liberalen Rechtsstaat nicht, aber man sollte Sicherungen einbauen“, sagt die Grünen-Politikerin. Das betreffe auch das Verfassungsschutz- und die Beamtengesetze des Bundes und der Länder. „Wir dürfen den Zeitpunkt nicht verpassen. Schon einmal ist ein Richter in Sachsen für die AfD in den Bundestag eingezogen“, warnt Gallina und ergänzt: „Jetzt ist der Moment der Umkehr, sonst ist es irgendwann zu spät. Demokratien schaffen sich schleichend ab.“