Hamburg. 2013 war letzte Volksabstimmung. SPD und Grüne verhinderten weitere, kritisiert Verein „Mehr Demokratie“ – und fordert radikale Reform.
Lange galt Hamburg als deutsche Hochburg der direkten Demokratie: Hier konnten Bürgerinnen und Bürger über Volksinitiativen so viel Einfluss auf die Politik nehmen wie in keinem anderen Bundesland. Mittlerweile allerdings scheint sich das geändert zu haben – jedenfalls in der Praxis.
Seit dem erfolgreichen Volksentscheid über den Rückkauf der Energienetze von 2013 hat es trotz immer neuer Initiativen keine weitere Volksabstimmung gegeben – und selbst die nach der Volksinitiative zweite Stufe der Volksgesetzgebung, das Volksbegehren, wurde nur ein einziges Mal erreicht. Nach Ansicht des Vereins „Mehr Demokratie“,“der maßgeblich für den Ausbau der Volksgesetzgebung in Hamburg gesorgt hat, liegen die Gründe auf der Hand.
Volksinitiativen Hamburg: Senat bremst Initiatoren mithilfe des Verfassungsgerichts aus
„Senat und Bürgerschaft hebeln die direkte Demokratie aus“, sagt der Hamburger „Mehr Demokratie“-Vorstand Bernd Kroll. Dazu werde immer wieder das Hamburger Verfassungsgericht angerufen, um erfolgreiche Volksinitiativen als verfassungswidrig einstufen zu lassen und damit auszubremsen. Hintergrund ist eine Änderung des Hamburger Volksabstimmungsgesetzes aus dem Jahr 2012.
Seither muss der Senat das Verfassungsgericht immer dann anrufen, wenn er „erhebliche Zweifel“ hat, dass die Initiative mit Artikel 50 der Hamburgischen Verfassung vereinbar ist. Dort heißt es u. a.: „Bundesratsinitiativen, Haushaltspläne, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unternehmen sowie Dienst- und Versorgungsbezüge können nicht Gegenstand einer Volksinitiative sein.“
Hamburg ist Hochburg der direkten Demokratie: Bei Volksbegehren ist aber Schluss
Laut „Mehr Demokratie“ hätte auch der erfolgreiche Volksentscheid zu den Energienetzen nicht stattfinden können, wenn die 2012 beschlossene Gesetzesänderung bei der Initiative „Unser Hamburg – Unser Netz“ schon gegriffen hätte. Denn der Rückkauf der Energienetze hat satte zwei Milliarden Euro gekostet – und damit massive Auswirkungen auf den Haushalt der Stadt.
„Seit die Bürgerschaft das Gesetz 2012 geändert hat, klappt das mit der direkten Demokratie in Hamburg nicht mehr“, sagt Bernd Kroll von „Mehr Demokratie“. Es „werden zwar viele neue Volksinitiativen angemeldet – Hamburg ist damit die Hochburg der direkten Demokratie in Deutschland – aber sobald eine Volksinitiative ein Volksbegehren anmeldet, ist Schluss mit lustig. Denn der rot-grüne Senat ist der Meinung, dass er bei allen Volksbegehren erhebliche Bedenken hat und deshalb immer das Hamburgische Verfassungsgericht anruft.“
Verfassungsgericht stoppte Initiativen zu Grundeinkommen, Rüstungstransporten und Pflegenotstand
Eine Folge seien „erhebliche Verzögerungen bei der Durchführung der Volksinitiativen, verbunden mit viel Frust und vor allem mit hohen Kosten bei den Initiatoren und ihren Unterstützern“, so Kroll. „Aber es führt auch zu einer Überlastung beim Hamburgischen Verfassungsgericht.“
Zuletzt hatte das Gericht auf Antrag etwa Volksinitiativen gegen Rüstungstransporte durch den Hafen oder für die Einführung eines Grundeinkommens kassiert. Auch Initiativen für verbindliche Bürgerentscheide auf Bezirksebene, für die Streichung der Schuldenbremse oder gegen den „Pflegenotstand in Krankenhäusern“ wurden untersagt.
Initiativen müssen jetzt fehlerfreie Gesetzestexte schreiben, was nicht einmal Regierungen schaffen
Dabei verwende der Senat in seinen Schriftsätzen fast immer die gleichen Argumente und Textbausteine gegen alle Volksinitiativen, „frei nach dem Motto: Irgendwas wird schon zutreffen“, sagt Kroll. „Die Hürden für Volksinitiativen werden dadurch immer höher.“ Denn inzwischen seien nahezu alle Volksinitiativen gezwungen, für ihre Forderungen ein fehlerfreies Gesetz zu schreiben, was erfahrungsgemäß nicht einmal Regierungen mit ihren riesigen Expertenstäben immer im ersten Anlauf hinbekämen. So habe es das Verfassungsgericht aber mittlerweile festgelegt.
Ein „normaler Bürger“ könne daher heute ohne zahlreiche Juristen überhaupt keine Volksinitiative mehr in Hamburg starten, kritisiert Kroll. „Damit entsteht eine Zweiklassengesellschaft. Das führt zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Es führt aber auch zu einer Behinderung der direkten Demokratie in Hamburg.“ Eine Folge sei, „dass sich immer mehr Bürger aus Enttäuschung von der Politik ab- oder extremen Parteien zuwenden“, so Kroll.
Volksinitiativen Hamburg: Umweltsenator Kerstan verteidigt Anrufung des Verfassungsgerichts
Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) hingegen verteidigte die Überprüfung von Volksinitiativen durch das Verfassungsgericht kürzlich. Es sei nicht sinnvoll, wenn das Verfassungsgericht möglicherweise Volksabstimmungen etwa auf Klagen von Bürgern hin nachträglich für verfassungswidrig erkläre, daher sei eine vorherige Überprüfung bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit sinnvoll, sagte Kerstan sinngemäß bei einer Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg zum zehnten Jahrestag des Energienetze-Volksentscheids in der Patriotischen Gesellschaft. „Das sind ja auch alles Fragen, die man berücksichtigen muss“, so Kerstan.
Der Umweltsenator verteidigte auch den Ansatz, zuletzt immer häufiger mit Volksinitiativen Kompromisse auszuhandeln, sodass die Bürger über deren Anliegen gar nicht mehr abstimmen können bzw. müssen. Politik sei „nicht immer ja oder nein, schwarz oder weiß“, sondern lebe auch von der Einigung in der Mitte, sagte Kerstan. Insofern sehe er Verhandlungen und Kompromisse mit Volksinitiativen nicht als „Anschlag auf die direkte Demokratie oder Bürgerbeteiligung“.
Bürgerschaft hat häufig Kompromisse mit erfolgreichen Volksinitiativen ausgehandelt
Zuletzt hatte die Bürgerschaft häufig mit erfolgreichen Initiativen Kompromisse ausgehandelt, die dann vom Parlament umgesetzt wurden. Die Volksinitiativen zogen daraufhin jeweils ihre Vorhaben zurück. Das geschah etwa bei den Initiativen „Keine Profite mit Boden & Miete!“, „Radentscheid Hamburg“ oder „Hamburgs Grün erhalten“. Auf diese Weise konnten die Initiativen jeweils größere Teile ihrer Forderungen ohne einen Volksentscheid durchsetzen.
Solche Kompromisslösungen sind für „Mehr Demokratie“ allerdings kein Ersatz für eine direkte Beteiligung der Bürger. Zumal die Initiativen, die mit Rot-Grün einen Kompromiss gefunden hätten, laut Vereinsvorstand Kroll, „nahezu alle kaum Aussicht auf ein erfolgreiches Volksbegehren“ gehabt hätten. Zudem mache die „Regierungsfraktion sich inzwischen bei vielen Volksinitiativen überhaupt nicht mehr die Mühe, mit den Initiatoren einen Kompromiss zu finden“ – weil sie diese ja schon mithilfe des Verfassungsgerichts stoppen könnten.
„Mehr Demokratie“ fordert Veränderung bei Volksabstimmungsgesetz in Hamburg
„Die direkte Demokratie ist eine der beiden starken Säulen der Demokratie in Hamburg“, findet Kroll. „Wer diese Säule zerstört, zerstört die Demokratie in Hamburg.“ Um das zu verhindern, fordere „Mehr Demokratie“ die „ersatzlose Streichung“ des 2012 eingefügten Absatzes 4 in Paragraf 5 des Volksabstimmungsgesetzes, der die Anrufung des Verfassungsgesetzes praktisch zur Pflicht für den Senat macht. Denn nach Paragraf 26 desselben Gesetzes könnten Senat oder die Bürgerschaft mit nur einem Fünftel ihrer Abgeordneten auch so schon das Verfassungsgericht anrufen, wenn sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Volksinitiative hätten.
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Die Gesetzesänderung von 2012 aber habe ihr „Ziel komplett verfehlt“, so Krolls bitteres Fazit. Sie mache die direkte Demokratie in Hamburg kaputt, statt sie zu stärken. „Fehler wie diesen zu machen ist nicht schön“, so der „Mehr Demokratie“-Vorstand. „Aus ihnen nicht zu lernen ist aber unverantwortlich.“
Volksinitiativen: Gerichtspräsidentin informiert, wie eine rechtssichere Vorlage aussehen muss
Zunächst aber will der Verein nun mögliche künftige Volksinitiativen dabei unterstützen, für ihre Vorhaben tatsächlich ein fehlerfreies Gesetz zu erstellen. Wie ein solches Gesetz aussehen muss, darüber informiert „Mehr Demokratie“ bei einer Veranstaltung am 11. Oktober ab 18.00 Uhr in der Zentralbibliothek der Bücherhallen Hamburg am Hühnerposten 1. Mit dabei ist die Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts, Birgit Voßkühler – für den größtmöglichen Sachverstand bei dieser komplexen Materie ist also gesorgt.