Vor vier Jahren taten sich Einzelkämpfer aus der Film- und TV-Branche in einem Haus zusammen. Einblick in ein einmaliges Kunst-Projekt.

Sie verbindet die unbedingte Leidenschaft für den Film, die Liebe zu gut erzählten Geschichten und die Neugier auf wunderbare Projekte. Sie lesen und schreiben Drehbücher, führen Regie und suchen nach Schauspielern, produzieren Kinofilme und TV-Serien, kümmern sich um Finanzierung und Förderung, besorgen geeignete Drehorte und den passenden Sound eines Films. Sie sind allesamt Einzelkämpfer und proben seit vier Jahren den Zusammenschluss. Um sich auszutauschen und Synergien zu nutzen. Um Miete zu sparen und kurze Wege zu nutzen. Neun kleine Firmen teilen sich mittlerweile an der Behringstraße eine komplette Etage in einem Bürokomplex.

Ein langer Flur, von dem elf lichtdurchflutete Zimmer abgehen, die Wände behängt mit Filmplakaten. Dazu noch zwei Schnittkabinen sowie Küche und Toiletten auf rund 450 Quadratmetern, von denen einer rund 13 Euro Miete kostet. Ein Balkon garantiert den Weitblick aus dem vierten Stock über Ottensen, und im Sommer ab und an eine gemeinsame Grillparty. Die Mitbewohner der Hamburger Film-WG verfolgen ein gemeinsames Ziel: „Wir wollen die Fahne für die Filmkunst am Standort Hamburg hochhalten.“

Mit erstem Film mehr als 20 Preise abgeräumt

„Es gibt so viele tolle Geschichten, die erzählt werden können“, sagt Verena Gräfe-Höft. Vor zehn Jahren hat die frühere Journalistin ihre eigene Produktionsfirma Junafilm gegründet. Mit ihrem ersten Spielfilm „Tore tanzt“ von Katrin Gebbe war sie 2013 gleich in Cannes vertreten. Der Film gewann national und international mehr als 20 Preise.

Julius Feldmeier als Tore in einer Szene des Kinofilms „Tore tanzt“. Das Drama kam 2013 in die Kinos.
Julius Feldmeier als Tore in einer Szene des Kinofilms „Tore tanzt“. Das Drama kam 2013 in die Kinos. © dpa

Die Film-WG, sagt sie, sei ein bisschen auch aus der Not heraus entstanden. Ihr voriges Gebäude in Ottensen wurde abgerissen. „Bei einem Küchengespräch“ haben zunächst drei Firmen beschlossen zusammenzuziehen. Sie wollten unbedingt in ihrem Kiez bleiben, in dem es immer schwieriger wird, günstige Mieträume zu bekommen. „Wir unterstützen uns gegenseitig, wo wir nur können“, sagt Verena Gräfe-Höft. Dabei gehe es um Fragen zu Fördermitteln oder zu Schauspielern, zu Regisseuren oder zu Drehbüchern. Konkurrenz-Gedanken sind ihr völlig fremd. „Jeder, der im Independent-Kinobereich tätig ist, weiß, wie schwer das Geschäft ist. Hier freut sich jeder für den anderen, wenn ein Projekt erfolgreich ist.“ Sie sagt auch: „Man könnte uns Produzenten den gleichen Stoff geben und es würden am Ende völlig unterschiedliche Filme dabei herauskommen.“ Verena Gräfe-Höft ist auch international sehr gut vernetzt und wurde vor zwei Jahren von German Films als „Producer on the Move“ ausgewählt, um Deutschland in Cannes bei einem Programm zu vertreten, das junge Produzenten aus Europa unterstützt, die sich durch kreatives und visionäres Filmemachen hervorgetan haben.

Drehbücher für Serie mit schwarzem Humor

Von Anfang an dabei sind auch Ilona Schultz und Ulrike Grote mit ihrer 2006 gegründeten Firma Fortune Cookie. Sie kennen sich schon seit ihrem gemeinsamen Studium an der Hamburger Filmhochschule. „Die gegenseitige Unterstützung ist der größte Vorteil. Wir sind alles unabhängige, kleinere Produktionsfirmen und gehen mit sehr ähnlichen Anforderungen um“, sagt Ilona Schultz. Viele Filmfans lieben „Die Kirche bleibt im Dorf“. In Anlehnung an den gleichnamigen Kinofilm erzählt die Serie mit viel schwarzem Humor von den Häberles aus Oberrieslingen und den Rossbauers aus Unterrieslingen. Im Mai beginnen die Dreharbeiten zu der neuen SWR-Serie „Der letzte Wille“. Ulrike Grote hat wieder die Bücher geschrieben und wird Regie führen. Zu ihrem Team gehört seit 2012 außerdem Mina Avramova, die früher in Sofia ein Kurzfilmfestival organisierte und auch Drehbücher aus dem Bulgarischen ins Deutsche (und umgekehrt) übersetzt.

Ebenfalls in die Produzentenriege gehört Nikola Bock. Sie ist im Oktober 2015 an die Behringstraße gezogen, als sie sich selbstständig gemacht hat. „Früher habe ich ab und zu selbst Drehbücher geschrieben, jetzt konzentriere ich mich mehr auf die Produzententätigkeit.“ Ihr Schwerpunkt ist die Stoffentwicklung. „Ideen finden, eine Dramaturgie erarbeiten und mit Autoren arbeiten, um den Stoff irgendwann anzubieten.“ Manchmal liest sie eine kleine Notiz in der Zeitung, oft kommen die Schreiber mit ihren Geschichten zu ihr. Eines ihrer erfolgreichen Projekte ist die ZDF-Serie „Tonio und Julia“. Ein weiteres Projekt für den ZDF-Montags-Sendeplatz ist gerade abgedreht: „Totgeschwiegen“ ist eine Geschichte über drei Jugendliche, die einen Obdachlosen getötet haben.

Auch "Schrotten!" hat Wurzeln in Ottensen

Zu den Gründungsmitgliedern gehören Andrea Schütte und Dirk Decker mit ihrer Firma Tamtam Film. Sie haben sich mit Kurzfilmen etabliert und 2016 mit „Schrotten!“ ihren ersten Kinofilm produziert. Für Aufsehen sorgte auch ihre für den Grimmepreis nominierte ZDF-Serie „Komm schon!“ Aktuell stellen sie die Kinodebüts „Tagundnachtgleiche“ von Lena Knauss und „Garagenvolk“ von Natalija Yefilmkina fertig.

Frederick Lau im Kinofilm „Schrotten!“, der 2016 lief.
Frederick Lau im Kinofilm „Schrotten!“, der 2016 lief. © Port au Prince Pictures GmbH

Neben Kinofilmen entwickeln sie auch Serien-Stoffe. „Durch die neuen Plattformen gibt es ganz andere Verwertungsmöglichkeiten“, sagt Decker, „und das längere Erzählen ermöglicht zudem eine andere Auseinandersetzung mit Themen.“ Durch die kurzen Wege gebe es hier immer wieder Schnittmengen, aktuell bei gemeinsamen Projekten mit Nikola Bock und Mina Avramova. „Filmarbeit ist Teamarbeit, und für jeden Film müssen neue Teams zusammengestellt werden, da kann man hier schnell viele Infos bekommen.“ Im Grunde, sagt Decker, säßen sie alle in einem Boot. „Wir wollen gute Filme machen, und davon kann es nicht genug geben.“

Anette (Marlene Morreis, r.) und Teilnehmer der Körpertherapie-Fortbildung in „Komm schon“.
Anette (Marlene Morreis, r.) und Teilnehmer der Körpertherapie-Fortbildung in „Komm schon“. © P. Drittenpreis

Kinderfilm mit Catterfeld und Striesow

„Ich kannte die meisten schon, aber ich wusste nicht, dass die wirklich alle auf einer Etage sitzen“, sagt Dorothe Beinemeier. Sie ist mit ihrer Firma „Red Balloon“ seit zwei Jahren dabei. Einer ihrer Schwerpunkte sind Kinderfilme. Eines ihrer ersten Projekte war 2013 der Kinofilm „Sputnik“ über den Fall der Berliner Mauer mit Devid Striesow und Yvonne Catterfeld, den sie mitproduziert hat. Drei Kinder bauen eine Maschine, die Menschen hin und her beamen soll. Mit ungeahnten Folgen für sie, das Land und die Welt. Ihr momentanes Projekt ist die Verfilmung des Meermädchenabenteuers Alea Aquarius.

Flora Li Thiemann als Friederike in
Flora Li Thiemann als Friederike in "Sputnik". Der Abenteuerfilm startete 2013. © MFA+Filmdistribution E.K.

„Die Produktion eines Films, der in der magischen Unterwasserwelt spielt, ist eine ganz besondere Herausforderung“, sagt Beinemeier. Da sei immer wieder „viel Überzeugungsarbeit“ nötig, um Co-Produzenten aus anderen Ländern für die Finanzierung mit ins Boot zu holen. „Das ist aber auch gut, denn nur so kann sich ein Stoff bewähren und bekommt die nötige Relevanz.“

Eine-Frau-Firma spezialisiert sich auf Animation

„Hier findet so viel Austausch aus so vielen unterschiedlichen Bereichen des Films statt, davon kann man nur profitieren“, sagt Maite Woköck. Sie ist mit ihrer „Ein-Frau-Firma“ Ella Film, benannt nach ihrer Oma, vor drei Jahren an die Behringstraße gezogen. Und hat sich auf Animationsfilme spezialisiert. „Ich mag die Art, in der in Trickfilmen die Geschichten erzählt werden.“ Außerdem fasziniert sie die Film-Herstellung mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten. „Am Computer lässt sich jede Fantasie auch umsetzen, da gibt es im Grunde keine Einschränkung.“ Außer vielleicht, wenn es um die Zeit und die Kosten geht.

Für die Fertigstellung eines Kino-Films brauche man knapp zwei Jahre. Denn: „Ein Animator braucht für elf Filmsekunden eine Woche.“ Deshalb sind die Budgets eines Animations-Film auch höher als bei Realfilmen. „Manchmal braucht man ein Jahr, bevor die Finanzierung eines Projekts gesichert ist.“ Acht Millionen Euro beträgt das Budget für ihr jüngstes Projekt. „The Last Whale Singer“ ist eine Geschichte von Reza Memari über einen jungen Wal und seinen Gesang in den Weltmeeren. Kinostart: 2024. Zwei Jahre vorher kommt ihr Projekt „Meine Chaosfee & ich“ auf die Leinwand, gefördert auch von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein. Der Film wird auch in Spanien, Polen und Südkorea laufen. „Für Animationsfilme, die zudem für die ganze Familie geeignet sind, gibt es einen weltweiten Markt“, sagt Maite Woköck.

Pia Hoffmann kümmert sich um die Musik

Ohne Pia Hoffmann können Filme keine Wirkung entfalten. Sie sorgt, wenn man so will, für den guten Ton. Es sind jedesmal sehr entscheidende Fragen, die sie beantworten muss. Pia Hoffmann ist Music Supervisorin und bestimmt quasi die Melodie eines Films. Was darf die Musik, die sich im besten Fall mit fünf Prozent des Film-Budgets begnügen muss? Muss sie diskret sein und sollte am besten nur ein Schattendasein führen? „Der Film muss immer noch atmen können, die Musik darf den Film nicht ersticken“, sagt Pia Hoffmann. Musik und Film seien beides starke, kreative Persönlichkeiten. „Im Idealfall arbeiten Regisseur und Komponist ganz eng zusammen.“

Pia Hoffmann kümmert sich um alles, was im weitesten Sinne mit Musik zu tun. Wo liegen die Rechte für bekannte Titel? Was kostet ein Song? Brauchen wir einen Komponisten? Was für einen Grundsound hat der Film? Großes Orchester oder eher elektronisch? Zu ihren Aufgaben gehört auch Recherche-Arbeit. Was haben die Russen beim Einmarsch in Berlin gesungen? Welches Lied hat RAF-Terroristin Ulrike Meinhof zuletzt in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim gehört? „Idealerweise werde ich bereits während der Entwicklung des Drehbuchs mit ins Boot geholt“, sagt Pia Hoffmann, die etwa bei Fatih Akins „Aus dem Nichts“ und zuletzt beim „Goldenen Handschuh“ für den passenden Sound gesorgt hat. Aktuell ist sie für die Musik bei der 2. Staffel von „Das Boot“ und dem Kinofilm „Der Fall Collini“ zuständig.

Auch TV-Dokumentationen entstehen hier

„Ich bin hier so ein bisschen der Exot“, sagt Michael Höft. Der Mann von Verena Gräfe-Höft hat sich auf TV-Dokumentationen spezialisiert. Sehr oft geht es um investigative Themen im Ausland, so etwa bei der NDR-Doku über Billig-Steine aus China, die hier für die heimischen Terrassen verbaut werden. Höft hat 1992 beim NDR angefangen und sich dann mit der Firma HTTV-Produktion selbstständig gemacht. Die Auftragsproduktionen der öffentlich-rechtlichen Sender führen ihn und seine wechselnden Teams rund um den Globus. Höft stellt die gesamte Technik, und er beschäftigt Cutter und Toningenieure, die die Filme anschließend in den Räumen in Ottensen bearbeiten. „Manchmal erreicht man mit den Filmen sogar etwas.“ Als er vor acht Jahren eine kritische Doku über die Pangasius-Zuchtbetriebe in Vietnam drehte, sank der Absatz des beliebten Speisefisches drastisch. Und Vietnam verpflichtete sich wenig später, bis 2015 wenigstens 50 Prozent der Fischzucht auf nachhaltige Produktion umzustellen. Gerade sei eine sehr gute Zeit für Dokumentationen, sagt Höft. „Es gibt deutlich mehr Sendeplätze als noch vor zehn Jahren, die Doku erlebt ein regelrechtes Revival.“

„Kalli“ Brunnbauer ist die Agentin

„Für meine junge Firma ist es sehr gut, dass ich in einem solch lebendigen Umfeld arbeiten kann“, sagt Karen „Kalli“ Brunnbauer. Sie ist 1989 in die Filmbranche reingerutscht und hat zwölf Jahre als Regieassistentin gearbeitet. Wollte Sie schon immer Schauspiel-Agentin werden? „Nie im Leben.“ Nach einer Auszeit haben ihr aber Schauspieler „den Floh ins Ohr gesetzt“, eine Agentur zu gründen. 2014 hat sie die Agentur Genuin gegründet und ist mit fünf Schauspielern gestartet. Anfangs hat sie von Zuhause gearbeitet, im Oktober 2015 ist sie in die Film-WG eingezogen. „Ich kann zu Fuß ins Büro gehen und arbeite jetzt Tür an Tür mit Menschen, die ich sehr schätze und mag.“

Heute umfasst ihre Kartei 31 Namen. Junge Leute, die für diesen Beruf brennen und von einer Karriere auf der Bühne oder beim Film träumen. „Wichtig ist, dass es wirklich gute Schauspieler sind – und es müssen auch gute Menschen sein.“ Sie schätzt an der Film-WG den steten Gedankenaustausch und die Möglichkeit, schnell mal ins nächste Zimmer zu gehen und sich Infos zu holen. In diesem Haus sei unheimlich viel Know-how versammelt. Es sei aber nicht so, dass Produzenten ihre Projekte jetzt nur noch mit Schauspielern aus „Kallis“ Kartei besetzen. „Darum geht es auch nicht.“ Ihr geht es darum, den Talenten auf ihrem schwierigen Weg zur Seite zu stehen. „Es ist schade, dass man im Fernsehen so häufig immer nur die gleichen Schauspieler sieht.“ Das möchte sie ändern. Ihr Ziel: „Ich arbeite jeden Tag dafür, dass heute noch völlig unbekannte tolle Schauspieler bundesweit bekannt werden.“