Einigen der rund 400.000 Teilnehmer des Schlagermoves waren die Lieder „zu konservativ“. Das Abendblatt begleitete zum „Festival der Liebe“ eine Gruppe aus Eimsbüttel.
St. Pauli. Rüschenhemd und Schlaghose sind frisch gebügelt, große Sonnenbrillen in Grellgelb und Braun liegen ebenso bereit wie Glitzerlidschatten und die unechten Koteletten zum Ankleben. Prosecco und Light-Bier stehen im Kühlschrank. Handys klingeln alle naselang. Die Stimmung in der Altbauküche mit den vier Meter hohen Wänden ist aufgekratzt. Alle Jahre wieder holt Imke Schwarz ihre Verkleidungstüte aus der Kammer, und ihr Mann Björn, 44, und Sohn Kilian, 5, werden Zeuge einer wundersamen Metamorphose. Gerade noch lief die 40-Jährige in Jeans und T-Shirt durch die Wohnung, die blonden langen Haare zu einem braven Pferdeschwanz gebändigt. Doch schon wenige Minuten später könnte Imke glatt als ABBA-Sängerin Agneta durchgehen.
Schon als Kind liebte sie Musik von Udo Jürgens, ABBA und Roland Kaiser
Wenn der Schlagermove ruft und mehr als 400.000 Fans auf den Kiez strömen, verwandelt sich die Ingenieurin aus Eimsbüttel in eine singende und feiernde Hippie-Braut. Sich Pril-Blumen ins Gesicht zu kleben und Blumenketten umzuhängen käme ihr allerdings nicht in den Sinn. „Ich möchte nicht kitschig sein, sondern authentisch aussehen und trage ein Original-Outfit aus den 70ern. Bluse und Hose mit Flowerprint stammen noch von der Mutter meiner besten Schulfreundin“, sagt Imke Schwarz. Schon als Studentin hat sie gern Schlagerpartys gefeiert, zum Schlagermove geht sie bestimmt schon seit zehn Jahren. Sie mag die Musik. „Meine Eltern hatten Platten von Udo Jürgens, ABBA, Howard Carpendale, Costa Cordalis und Roland Kaiser – ich habe deren Musik schon als Kind geliebt. Zum Schlagermove gehe ich aus rein nostalgischen Gründen.“
„Ich leiste meiner Frau eigentlich nur Gesellschaft“, sagt Björn Schwarz. Er hat sich ein Hawaiihemd übergeworfen und eine Sonnenbrille aufgesetzt. „Du musst noch in Stimmung kommen“, muntert ihn seine Frau auf. „Trink erst mal ein Glas Prosecco!“
Bevor es zum Mitschunkeln auf die Reeperbahn geht, haben Freunde noch zum Brunch nach Winterhude eingeladen. Zum Einstimmen gibt es Aperol Spritz und fröhliche Schlager. Bevor die Clique zur U-Bahn zieht, ein letzter Blick in den Spiegel. Bei den Männern schießt Frank den Vogel ab: zum grün-gelben Retrohemd trägt er eine schwarze Lockenperücke und eine Sonnenbrille mit weißem Rahmen.
Beschwingt zieht der Trupp zum Bahnhof. Von überall her strömen Gleichgesinnte in fantasievollen Kostümen dazu. Wohin man blickt: Perücken in allen Regenbogenfarben, riesige Sonnenbrillen, Glitzerhemden, schrille Minikleider und Plateaustiefel, Blumenketten um den Hals und Stirnbänder im Haar. Der Clou: Luftgitarren und blinkende Plastikmikros, aus denen Seifenblasen strömen.
Auf den Trucks heizen Discjockeys den Mitfahrern und der jubelnden Menge ein
Die Bahn ist voll, immer wieder bleibt sie im Tunnel stehen, weil die Abfertigung an der Station St. Pauli so lange dauert. Es wird warm im Waggon. „Ich hätte mich doch für mein anderes Outfit entscheiden sollen“, sagt Imke Schwarz und fächelt sich Luft zu. „Es hat Spaghettiträger und gehörte meiner Mutter.“ Ein bisschen ist ihre Liebe zu den alten Schlagern auch ein Tribut an ihre Mutter, die bereits gestorben ist.
Dann endlich sind sie da. Mit der bunten Menge strömen die Freunde die Treppe hoch ans Tageslicht. Begrüßt werden sie von einer ohrenbetäubenden Kakophonie durcheinanderdröhnender Schlager und wummernder Bässe. Langsam ziehen die Wagen auf ihrem Weg vom Heiligengeistfeld zu den Landungsbrücken an der wogenden Menge vorbei. Udo Jürgens, Juliane Werding, Reinhard Mey und Marianne Rosenberg singen gegeneinander an. Auf jedem der 45 Trucks heizen Discjockeys den verkleideten, tanzenden Mitfahrern und der jubelnden Menge auf der Straße ein. Imke und ihre Clique stürzen sich ins Getümmel, die ersten Bierdosen werden aufgerissen. „Alkohol in Maßen gehört dazu“, sagt Imke Schwarz. „Manche aber kommen nur, um sich zu betrinken.“ Tatsächlich liegen überall leere Schnapsfläschchen und Bierdosen auf dem Boden.
Doch der Blick der Menge ist auf die Wagen gerichtet. Imke, Björn, Frank und die anderen schwofen, klatschen und singen zu „Fiesta Mexicana“, „Heidi“, „Hello, again“ und „Blauer Enzian“. Dass Heino heute auch live mit dabei ist – vorne, auf dem ersten Wagen – sehen die Freunde skeptisch. „Der Schlagermove ist ein Festival der Liebe“, sagt Frank. „Heinos Lieder finde ich dafür zu konservativ.“
Aber sehen wollen sie den Kultsänger natürlich trotzdem. Als der letzte Wagen vorbeigefahren ist, machen sie sich auf den Weg zum Hans-Albers-Platz. Dort wollen sie die Trucks empfangen, die auf ihrem Rückweg zum Heiligengeistfeld die Reeperbahn passieren. Als der Wagen mit Heino vorbeikommt, finden sie: „Es ist witzig, dass er dabei ist, aber ein Highlight ist er nicht.“
Während die meisten Schlagerfans den Tag auf der Aftermoveparty auf dem Heiligengeistfeld ausklingen lassen, will die Clique im Albers-Eck feiern. Doch vorher geht sie in aller Ruhe eine Pizza essen. Es ist also schon spät, als sie ins Albers-Eck kommen. Die Bar ist voll und stickig. Macht nichts. Imke und Björn Schwarz wollten dieses Mal ohnehin vor Mitternacht Schluss machen. „Wir sind morgen bei einer Taufe eingeladen“, sagen sie. „Einen Kater können wir uns nicht erlauben.“