Sich durch die Nacht treiben lassen, Kunst genießen, ins Gespräch kommen oder einfach nur Party machen: die vierte St. Pauli-Kreativnacht.
Hamburg. Obwohl Wildfremde ihre adrette Wohnung überfluten, wirkt Frigga Kaliner völlig gelassen. Schon seit der ersten Kreativnacht ist sie mit ihrer "Galerie im Treppenhaus" dabei. Und weder ihrem Parkett noch ihren Möbeln haben die vielen Besucher in den langen Nächten um die Künstler und Kreativen im Viertel etwas wirklich Gravierendes anhaben können. "Ganz im Gegenteil, ich freue mich, wenn viele kommen. Das sind alles Interessierte, die sehr sich sehr angenehm bei einem Glas Wein nicht nur über Kunst unterhalten. Menschen mit Esprit und Spaß an der Kreativität", berichtet sie von ihren Erfahrungen.
Freundlich bietet sie Getränke an, doch die meisten ziehen weiter. Erstmal ein Stock unter Frau Kaliners Wohnung: Da geht es zwar deutlich studentischer und lauter zu. Kleinigkeiten, wie kunstvoll genähte Rollmäppchen aus hippen Stoffen, sind was für den schmaleren Geldbeutel - auch wenn direkt gegenüber feinste Goldschmiedearbeiten aus einer Vitrine leuchten.
Aber es gibt noch so viel mehr im Viertel zu sehen, da streifen die Kreativnacht-Besucher weiter. Die "Hall of Arts", die Auftritte in und um die Cafés und Bars, die Performances und Mitmachaktionen locken. Über 50 "Spielorte", alle mit ungewöhnlichen Aktionen und natürlich vielen Hinguckern an jeder Ecke, wollen begutachtet werden. Dazu haben die kleinen Läden in den Straßenzügen um die Achse Paul-Roosen-Straße und Clemens-Schultz-Strasse eigens länger geöffnet.
So wie "fairretail", die außergewöhnliche und nachhaltig produzierte Baby- und Kinderbekleidung anbieten. Inhaberin Birte Rüsch freut sich über die Besucher: "Viele schauen erst einmal auf das Design und wenn wir dann noch erklären wie die Sachen produziert werden, ist das ein zusätzliches Plus" Der Preis? "Nicht so hoch wie man oft denkt", gibt sie an.
"Etwas zu verkaufen wäre natürlich schön", sagt Erich Kloth, Grafikdesigner und Betreiber von "Lebendraum". Tief im verwinkelten Keller findet man nicht bei ihm nicht etwa eingemachtes Obst und Gemüse, sondern ausgemachte Kunst. In dem Atelier treffen sich Kreative, die in ihrem Alltag in Werbeagenturen und Designschmieden nicht immer ihre persönlichen künstlerischen Träume ausleben können.
Zwar beäugt einer seiner Mitstreiter, Künstler Marcus Korell, den Trubel und den Eventhype in dieser Nacht etwas skeptisch. Zu Fotos vor seiner herrlich ironischen Installation "radioaktiv" oder seinen herausragenden Fotobearbeitungen im Hintergrund lässt er sich dann doch überzeugen.
Digitale Bilderwelten oder Nachbearbeitungen am Computer sind so gar nicht der Geschmack von Ramona Oltmanns. Steigt man zu ihr zur "Underdog Gallery" hinab, - ebenfalls in einen Keller diesmal unter der Apotheke in der Clemens-Schultz-Strasse -, beschreibt sie mit Leidenschaft ihre Arbeiten: Analoge Fotos - noch mit viel Aufwand produziert und in der Dunkelkammer mit viel Liebe zum Detail handentwickelt.
Sie dokumentieren das, was in St.Pauli verloren geht: "Streetart" und gerade nicht so hübsche Ecken bevor sie der Sanierungs- und Säuberungswut anheim fallen. "Belächelt wurde man schon noch vor einigen Jahren, wenn man nicht auf Digitaltechnik umgestiegen ist. Heute besinnt man sich wieder auf die alte Technik und Ästhetik - und konfrontiert sie mit neuen Ideen", beschreibt sie ihren künstlerischen Weg.
Gerade weil sie sich für die Spielarten der Künste interessieren, haben sich Kathrin und Nils Sander von Winterhude auf den Weg nach St.Pauli gemacht. "Wir wollen sehen, was gerade die jungen Künstler machen, die mit ihren neue Ideen die Kunstszene beleben." Kathrin Sander hat Kunst studiert. Da wirft man einen kritischen Blick in das Sammelsurium dieser Nacht, in der auch vieles dabei ist, das sicher nicht für Furore im Kunst- und Designbereich sorgen wird. Ein festes Programm haben die beiden dennoch nicht. "Wir haben aus dem Abendblatt erfahren, dass die Kreativnacht stattfindet. Jetzt lassen wir uns einfach treiben."
Das Paar ist kaum zu verstehen. An der einen Ecke dröhnen die Beats aus den Boxen, als ein DJ im "Auntie Pop Studio" auflegt. An der anderen mischt sich "SCHMiTTEN" dazu. Die Band mit ihrem handgemachten Sound und Texten voller Energie auf "Bordstein-Beat-Tour" hat die Menschen vor dem "Glöe" an der Ecke Detlev-Bremer-Straße in den Bann gezogen. Ein riesiger Kerzenleuchter wird zum Lagerfeuerersatz auf dem Bordstein. Und wer geglaubt hat, nur Pop oder Rock hätten an diesem Abend eine Chance, wird eines besseren belehrt.
Ein ganz anderes musikalisches Genre lockt die Umherstreifenden vor "Feinkost Schnalke": Hier steht Chormusik mit dem Ensemble "Exquisit" auf dem Programm. Als es gegen 21.30 Uhr gerade auch wegen den musikalischen Acts und dem überraschend trockenen Wetter immer mehr Menschen iim Viertel werden, muss der Verkehr auch mal Wartezeiten hinnehmen. Dabei gab eigentlich kaum Werbung für die Inititave der "Stadtteilentwicklungsgesellschaft Hamburg" und doch gibt es in den Cafés kaum mehr freie Plätze
So bleibt man einfach draußen, schnappt sich ein Bier und schnackt über Gott, die Welt und natürlich die Kunst. Man kennt sich ja mit Vornamen - ein Zeichen, dass die Kreativnacht eher unter den Viertelbewohnern und ihren Freunden stattfindet. So wie Claudia Falke, die um die Ecke wohnt und sich zum Beginn ihres Streifzugs mit zwei Freundinnen von der Installation von Axel Sylvester faszinieren lässt: Seifenblasen auf einer Wasserfläche, die, wenn man sie anpustet, zur Steuerung von Licht und Ton sorgen. Was als verrückte Idee und echter Kindermagnet des Abends daherkommt, hat einen ernsteren Hintergrund: "Man kann sich Anwendungen in der Logopädie oder für Schlaganfallpatienten und Blinde vorstellen", erklärt Sylvester. Kreativität bedeutet hier nicht nur Kunst aus dem Selbstzweck heraus, sondern bietet hier auch echte Perspektive.
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