Hamburg. 1965 wurde der HVV als erster Verkehrsverbund der Welt gegründet, um die immer zahlreicheren Autofahrer wieder in Bus und Bahn locken.

Bis zu sieben Fahrkarten brauchte man, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem Ende Hamburgs an das andere zu gelangen. Heutige ÖPNV-Nutzer können sich das wohl kaum vorstellen. Dann aber kam man auf die Idee, dass es auch einfacher gehen könnte – und gründete den Hamburgischen Verkehrsverbund (HVV), den ersten seiner Art weltweit.

Es war 10.30 Uhr, am 29. November 1965, als im Hamburger Rathaus die Stunde null des HVV schlug. Zur Unterzeichnung der vier Verträge war der Präsident der Deutschen Bundesbahn, Heinz Maria Oeftering, nach Hamburg gekommen. Für die Hansestadt unterschrieben Erster Bürgermeister Herbert Weichmann und sein Vize Edgar Engelhard. Allerdings sollte es noch eine Weile dauern, bis ein einheitlicher Tarif und ein einheitlicher Fahrplan wirklich Realität wurden.

Die Unterzeichnung der HVV-Verträge im Rathaus mit Bürgermeister Herbert Weichmann (3. v.l.)
Die Unterzeichnung der HVV-Verträge im Rathaus mit Bürgermeister Herbert Weichmann (3. v.l.) © DB Museum Nürnberg | DB Museum Nürnberg

Die Geburt des HVV hatte sich mehr als 15 Jahre hingezogen. Selbst zuletzt schienen die Verhandlungen zwischen Hochbahn, Bundesbahn und der Stadt kein Ende zu nehmen. „Seit mehr als einem Jahr stehen an der Domstraße Büroräume leer, die für den angestrebten Verkehrsverbund bestimmt sind“, berichtete das Abendblatt wenige Tage vor Vertragsunterzeichnung. „Pünktlich wird die Miete bezahlt – nur der Verbund läßt auf sich warten!“

Die Idee der autogerechten Stadt ging zulasten öffentlicher Verkehrsmittel

Dabei war unter den Hamburgern der Wunsch nach einem Einheitsfahrschein groß. „Jeder kann sich seinen Fahrweg künftig danach auswählen, wie er am schnellsten ans Ziel kommt. Außerdem kann er freizügig auf alle Verkehrsmittel, die dem HVV angeschlossen sind, umsteigen“, beschrieb das Abendblatt die Vorzüge. Fahrpläne der einzelnen Verkehrsbetriebe wurden aufeinander abgestimmt und die Umsteigezeiten deutlich reduziert.

Ein Streitpunkt war das „Verkehrsgebiet“ des Gemeinschaftstarifs gewesen. „Die Bundesbahn beharrt auf ihrem heutigen S-Bahn-Bereich“, berichtete das Abendblatt. Das bedeutete, dass Winsen, Buxtehude, Schwarzenbek oder Büchen nicht einbezogen werden sollten. Die Hochbahn hingegen wünschte sich „einen sehr viel weiteren Radius“.

Die Gründung des HVV fiel in eine Zeit des Autobooms. Immer mehr Menschen konnten sich einen eigenen Pkw leisten, in der Stadtplanung wurde die Idee der autogerechten Stadt geboren. Der öffentliche Personennahverkehr hingegen kämpfte mit einem Rückgang der Fahrgäste. So beförderte die Hochbahn 1964 rund zwölf Millionen Fahrgäste, 3,1 Prozent weniger als 1963. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Zahl der Omnibuslinien 1964 von 52 auf 55 erhöht wurde. Auch die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von Straßenbahnen und Bussen lag erstmals seit Jahren höher.

Mit dem Bus zur U-Bahn, wie hier am Wandsbek Markt, und ohne Zeitverlust weiter: Das sollte von 1965 an die Regel werden
Mit dem Bus zur U-Bahn, wie hier am Wandsbek Markt, und ohne Zeitverlust weiter: Das sollte von 1965 an die Regel werden © VHH / Karl-Heinz Wangel Sammlung Hamburger Omnibus Verein - HOV | VHH / Karl-Heinz Wangel Sammlung Hamburger Omnibus Verein - HOV

Die Gründung eines Verkehrsverbunds schien ein geeigneter Weg, diese Entwicklung zu stoppen. „Ein Tarif, eine Fahrkarte, ein Fahrplan“ war das Leitmotiv. Um mehr Fahrgäste zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen, verteilte die Hochbahn in der Stadt 50.000 Exemplare einer Broschüre. Sie wollte mit einem anschaulichen Vergleich in erster Linie Auto­fahrer ansprechen. „Links quälen sich mühsam 69 Privatwagen durch das Spalier der Häuserfassaden. In der Mitte marschieren die 69 Fahrer gut ausgerichtet, aber nicht im Gleichschritt, zu Fuß. Und ganz rechts ist zu sehen, wie wenig Raum der Bus einnimmt, in dem alle 69 einen gepolsterten Platz finden würden – wenn sie nur wollten!“, hieß es im Abendblatt.

Letztlich dauerte es bis zum 1. Januar 1967, dass der erste Gemeinschaftsfahrplan umgesetzt wurde. „Fast 50 Schnellbahn-, Bus- und Straßenbahnlinien fahren jetzt anders als bisher oder wurden neu eingerichtet“, berichtete das Abendblatt. Die Folgen der Umstellung waren schon in den ersten Stunden spürbar. „So wird die S-Bahn mehr benutzt als bisher, weil das Umsteigen aus Hochbahnbussen mit einer einzigen Fahrkarte möglich ist“, hieß es. Quasi über Nacht seien die S-Bahnhöfe Poppenbüttel, Othmarschen, Elbgaustraße und Bergedorf „stark belastete Umsteigepunkte“ geworden.

Sechs Wochen später zog auch der HVV eine erste positive Bilanz. Seit der Einführung des Gemeinschaftsfahrplans habe die Zahl der täglichen Fahrgäste stark zugenommen, hieß es. Auch die Art und Weise der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel änderte sich. Viele Fahrgäste „wechseln bei der täglichen Fahrt von und zur Arbeit die Verkehrsmittel häufiger als früher“, berichtete das Abendblatt. „Umsteigen ist große Mode geworden. Sogar Entfernungen von wenigen hundert Metern fährt man mit Bahnen oder Bussen, wenn es nicht mehr kostet.“

Mit der HVV-Gründung kam der Anfang vom Ende der Straßenbahn

Die Straßenbahn galt als Stiefkind des neuen Einheitstarifs. Ihr Ende wurde damals eingeläutet
Die Straßenbahn galt als Stiefkind des neuen Einheitstarifs. Ihr Ende wurde damals eingeläutet © Popperfoto/Getty Images | Getty Images

Das Interesse für die Schnellbahnen ging sogar so weit, dass die Fahrgäste von Bussen und Straßenbahnen auf die Bahn umstiegen. Ein Beispiel dafür war Lurup. Die Straßenbahn­linie 1 büßte Tausende von Stammkunden ein. Diese nahmen fortan den Bus 182 zur Elbgaustraße und von dort die S- Bahn. Das ging schneller und vor allem pünktlicher.

Ganz nebenbei leitete der HVV das Ende der „guten alten Straßenbahn“ ein. Diese sei zum Stiefkind des Einheitstarifs geworden, schrieb das Abendblatt. „Offenbar gilt sie, meint man im Verbund, bei vielen Hamburgern als veraltet. Tatsächlich sind die letzten neuen Wagen schon vor mehr als zehn Jahren angeschafft worden. Neue U-Bahnwagen und Busse treffen dagegen in jeder Woche ein.“

Für die meisten Kunden von Bussen und Bahnen bedeutete die Einführung des Gemeinschaftstarifs eine deutliche Erhöhung der Fahrpreise. Allerdings endete damit das traditionelle Verfahren, in den Hochbahnfahrzeugen Kinder an die Messlatte zu stellen. Bis dahin musste für jedes Kind bezahlt werden, das größer als einen Meter war. Mit der neuen Regelung durften Kinder bis zum dritten Lebensjahr kostenlos mitfahren.