Für ein Rücken-Tattoo muss man viel Geld bezahlen und viele Schmerzen erleiden. Warum macht man das? Alexander Schuller hat bei Tätowierern und Kunden in Hamburger Studios nachgeforscht.

Die Stunde der Wahrheit schlägt für Uli Müller in der gemischten Sauna der Spreewaldtherme, einem Freizeit- und Wellnessbad mit großer Saunalandschaft, etwa 120 Kilometer südlich von Berlin. Solche „Teammeetings“ veranstaltet sein Arbeitgeber öfter: Das Wirgefühl der Vertriebsmitarbeiter soll gesteigert werden, und das geschieht natürlich nicht nur in den Fortbildungsseminaren, sondern vor allem hinterher – mit organisiertem Freizeitspaß.

Also raus aus den Klamotten und rein in die Sauna, das Handtuch um die Hüften gewickelt. Für den 49-Jährigen gibt es kein Zurück mehr, jetzt werden es alle seine Kollegen sehen: dieses Gewirr von blauschwarzen Linien, das sich über seinen gesamten Rücken verteilt, die „Outlines“, aus denen in etwa einem halben Jahr, nach ungefähr einem Dutzend Sitzungen, ein großflächiges, farbenprächtiges Tattoo entstehen soll – ein Tiger, der aus dem Dickicht eines Dschungels hervorbricht, in dem zahlreiche exotische Pflanzen sowie japanische Kirschblüten üppig wuchern. „Der Tiger ist für mich einerseits ein Symbol der Stärke, andererseits aber auch ein Zeichen für die Vergänglichkeit – es gibt ja leider nicht mehr so viele“, sagt Uli, der sich etwa 20 Jahre Gedanken über das Motiv gemacht haben will, das seinen Körper bis ans Ende seines Lebens schmücken soll.

Was seinem Chef jedoch nicht sonderlich gut gefiel, denn Uli arbeitet schließlich als Repräsentant einer Firma, die hochwertige Wasserarmaturen herstellt, und er ist auf norddeutschen Großbaustellen unterwegs, wo es nicht selten um Aufträge im sechsstelligen Euro-Bereich geht. Wo es also auch auf ein seriöses Auftreten ankommt. „Meinem Chef gefiel nur, dass die Kunden das Tattoo unterm Anzug nicht sehen können“, sagt Uli, „nicht mal ahnen.“ Aber tätowierte Unterarme oder ein tätowierter Hals seien für ihn ja sowieso nicht infrage gekommen.

Blöd, trotz Trennung bleibt der Partner auf der Haut

Zehn bis 25 Prozent aller Menschen in den Industrieländern, besagen Schätzungen, sind tätowiert. Und natürlich sind es längst nicht mehr nur die Seeleute und Ganoven, die sich peikern lassen, um die Zugehörigkeit zu ihrer Kaste zu demonstrieren. Die Lust am unvergänglichen Körperschmuck zieht sich mittlerweile durch alle gesellschaftlichen Schichten, in der kurzen Ära Christian Wulff sogar bis ganz nach oben ins Bundespräsidialamt, denn seine damalige Frau Bettina besaß ein „Tribal“ genanntes indianisches Motiv auf dem Oberarm.

Tätowierungen haben beide Geschlechter gleichermaßen erfasst. Es sei ein Trend, der unvermindert anhalte, heißt es auch beim Bundesamt für Risikobewertung in Berlin, das über die Einhaltung der strengen Tätowiermittel-Verordnung informiert. Denn man weiß, dass es schon heftige allergische Reaktionen auf Tattoo-Farben gegeben hat; man weiß aber auch, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt.

Die Bandbreite der Tattoo-Motive ist unendlich groß und so vielfältig wie die individuellen Gründe der Kunden, sich stechen zu lassen. Die einen mögen es anscheinend wahllos und platzieren je nach Lust und Laune mehrere verschiedene Motive über ihren gesamten Körper (die verstorbene britische Sängerin Amy Winehouse war solch ein prominenter Fall), während andere mit Bedacht vorgehen und beispielsweise auf symmetrischer Harmonie bestehen: auf einem sorgfältig komponierten Gesamtkunstwerk, von dem sie meinen, dass es in Ausdruck, Stil und Farbgestaltung zu ihrem Charakter passt. Manche postulieren mit ihrem Tattoo eine Lebensphilosophie, verkünden Botschaften oder bekennen sich unauslöschlich zu einem geliebten Menschen. Was dann zum Ärgernis wird, wenn diese Beziehung zerbricht.

Alte Haut sieht auch ohne Tattoo scheiße aus

Nun könnte man über dieses Thema stundenlang psychologisieren, philosophieren, diskutieren, streiten. Während ein Uli Müller ohne mit der Wimper zu zucken ziemlich viel Geld für sein Rücken-Tattoo ausgibt, weil er seinen Tiger als „freaky“ und seine Freundin Anita das Raubtier als „sexy“ empfindet, halten es andere schlicht für bescheuert, sich freiwillig einem Martyrium zu unterziehen, um sich dann spätestens im Rentenalter „bestimmt darüber zu ärgern“, wenn die Haut schlaff und faltig wird und die Tattoo-Farben verblassen. Uli aber schüttelt den Kopf, lächelt souverän und sagt: „Alte Haut sieht doch auch ohne Tattoo einfach scheiße aus.“ Aber er gibt unumwunden zu, dass er während der Sitzungen häufiger gedacht habe, „das halte ich gleich nicht mehr aus. Vor allem wenn Rudo die dünne Haut über den Wirbeln bearbeitet hat, hat es weh getan.“

Rudo Cerny, ein gebürtiger Slowake aus Bratislava, ist derjenige, der Ulis Rücken in ein lebendes Kunstwerk verwandelt hat. Er war viele Jahre lang 1. Kontrabassist im Orchester der Staatsoper Hildesheim, der dann aber vor etwa 15 Jahren seiner eigentlichen „Passion“, wie er sagt, nicht mehr widerstehen konnte und zum professionellen Tätowierer wurde. „Tätowieren ist für mich nicht nur ein Handwerk, sondern es ist meine Leidenschaft“, sagt er, und das sieht man auch. Er stellt seine eigenen Tätowierungen auf der beidseitig rasierten Kopfhaut zur Schau, der dichte Haarschopf dazwischen ist blond-schwarz gefärbt und streng nach hinten gegelt.

Kunden entscheiden sich nicht gleich für ein großes Motiv

Er kann sich noch gut daran erinnern, wie der zukünftige Tiger-Mann eines Tages sein SkinWorXX-Studio an der Lübecker Straße in Hohenfelde betrat – „nach einer langen Suche nach dem richtigen Tätowierer“, sagt Uli – und sie dann in mehreren Vorgesprächen über seine Wünsche und Vorstellungen geredet haben. Es waren mehrere Entwürfe nötig, bis Uli sich endgültig Rudos ruhiger Hand anvertraute. „Darüber hinaus kommt es auch nicht sehr häufig vor, dass Kunden sich gleich für ein so großes Motiv entscheiden“, sagt Rudo, „die meisten fangen ja etwas kleiner an...“

In jedem Fall wird der (seriöse) Tätowierer erst einmal zum Hautschmuckberater und nicht selten auch zum Psychologen, bevor die Nadel summt. „Es gibt Wünsche, die ich prinzipiell nicht erfülle. Nicht, weil ich es nicht kann, sondern weil ich möchte, dass meine Kunden ihren Schritt nicht schon nach kurzer Zeit wieder bereuen“, sagt Rudo.

Dabei gehe es vor allem um sichtbare Tätowierungen auf den Handrücken, den Fingern sowie am Hals und im Gesicht. „Junge Leute können doch häufig gar nicht wissen, ob sie vielleicht in ein paar Jahren in einem Beruf arbeiten wollen, in dem Tätowierungen nach wie vor unerwünscht sind – in einer Bank zum Beispiel.“ Auch im öffentlichen Dienst sowie bei der Bundeswehr sind sichtbare (Unterarm-)Tattoos nicht erlaubt. Rudo könne jedoch mittlerweile ziemlich sicher sagen, welche Kunden sich „wirklich intensiv mit ihrem Tattoo-Wunsch auseinandergesetzt haben, und wer bloß vielleicht einen Popstar oder einen Fußballer, sein persönliches Idol, nachahmen möchte.“

Eine 63-Jährige bekommt das dritte Tattoo

Sein künstlerischer Schwerpunkt sind „Freehand“, auch „Custom Works“ genannte Tätowierungen, die individuell an die jeweiligen Körperstellen angepasst werden. Bevor er die Nadel ansetzt, müssen sich seine Kunden deshalb „zwingend Gedanken über das Motiv machen, dass sie dann ein Leben lang tragen“. Vorher fange er nicht an.

Auffällig sei, dass sich in den vergangenen Jahren immer mehr reifere Erwachsene ab 50 Jahren aufwärts für den unvergänglichen Körperschmuck entschieden. Und auffällig sei auch, „dass die zumeist sehr genaue Vorstellungen davon haben, was ich ihnen tätowieren soll und warum“, sagt Rudo. Besonders deutlich werde das, wenn sich diese Altersgruppe ein Tattoo oder ein Piercing im Intimbereich wünscht. „Reifere Frauen besitzen ein besser entwickeltes Selbstverständnis“, hat er festgestellt, „sie haben kein Problem damit, sich zu entblößen, während sich jüngere Frauen zumeist erst einmal zieren.“ Obwohl seine Frau Annea immer anwesend sei.

Christine Fink (Name geändert) hat sich nicht geziert. Drei Tattoos trägt die 63-Jährige bereits. Zwei davon – ein trauriges, junges Mädchengesicht auf dem Oberarm sowie ein Einhorn knapp oberhalb ihrer linken Brust – sind sichtbar, „doch das Dritte geht niemanden etwas an: außer mich selbst und denjenigen, der vielleicht bei mir übernachtet“, sagt die examinierte Krankenschwester, die seit vielen Jahren für eine private Pflegeambulanz arbeitet. Christine möchte sich auch nicht fotografieren lassen. „Denn die Tätowierungen und das, was sie mir bedeuten, sind meine Privatsache.“

Sie lebt allein, im Stadtteil Horn. Wer sie sieht, dürfte wohl kaum auf den Gedanken kommen, dass es sich bei ihr bereits um eine Rentnerin handeln könnte. „Alter ist doch nur eine Zahl“, zitiert sie diesen inflationär gebrauchten Spruch, den man halt so sagt, wenn jemand im Bekannten- und Freundeskreis mal wieder nullt. „Wir sind eine Gruppe von mehreren Freundinnen, die ganz häufig was gemeinsam unternimmt – wir sind ungefähr alle gleich alt“, sagt Christine, während sie sich eine Zigarette dreht, „und meine Freundinnen haben inzwischen alle ein Tattoo. Kein Witz, jetzt!“ Sie selbst habe vor vier Jahren ihr erstes Motiv stechen lassen, das traurige Mädchengesicht. „Ich habe noch niemandem verraten, wer die junge Frau ist“, sagt sie, „aber gehen Sie davon aus, dass es sich um eine besonders wertvolle Person handelt.“ Rebellisch klingt das nicht gerade, eher sentimental.

Etwa jeder Fünfte will seine Tattoo wieder loswerden

Unbestritten ist, dass Tattoos nach wie vor soziale Signale aussenden, die nicht unbedingt zum Vorteil gereichen. Nach einer Emnid-Studie aus dem Sommer 2012 „steigt die Tätowierungsquote mit sinkendem Einkommen“. Eine französische Studie aus dem demselben Jahr kommt sogar zu dem Ergebnis, dass mit der Anzahl der Tätowierungen auch die Wahrscheinlichkeit „riskanter Verhaltensweisen wie ungeschützter Sex, vermehrter Alkoholkonsum sowie kriminelles oder gewaltbereites Verhalten zunimmt“.

Durchschnittlich jeder Fünfte will seine Tätowierung irgendwann wieder loswerden. Dafür stehen drei Methoden zur Verfügung: abschleifen, rausschneiden oder weglasern. Letzteres gilt als die erfolgreichste Methode, ist aber schmerzhaft, langwierig und teuer. Im Zentrum für Lasermedizin am Bochumer Ruhr-Universitätsklinikum kostet die Entfernung eines mittelgroßen Tattoos zwischen 1000 und 1500 Euro. Jetzt steht den Ärzten dort ein neues „Picosekunden-Laser“ zur Verfügung. Der Unterschied zum herkömmlichen Laser: Die Tattoo-Farben werden nicht mehr mit einem Laser in Komplementärfarbe bestrahlt (was leicht zu Verbrennungen und Narbenbildung führen kann), sondern von hochenergetischen Laserimpulsen zertrümmert, die von den Fresszellen des Körpers praktisch rückstandsfrei abgebaut werden können.

Zum Glück darf, kann und muss letztlich hierzulande jeder selbst darüber entscheiden, ob und wie er seinen Körper gestaltet. „Tätowierungen sind inzwischen eine anerkannte Kunstform und schon lange raus aus der Schmuddelecke“, sagt Liz Vegas, die trotz ihrer 27 Jahre bereits zu den renommiertesten Tätowiererinnen der Hansestadt zählt, „die Medien haben da viel Aufklärungsarbeit geleistet. Das Ganze spielt sich inzwischen auf einem ganz anderen Niveau ab.“ Ihren Szenename trägt sie, seit sie in einer Tattoo-Show des TV-Senders Pro7, die in der amerikanischen Spielerstadt Las Vegas produziert wurde, in der Jury saß.

Liz hat schon als Kind mit der Körperbemalung angefangen

Wer sich von Liz tätowieren lassen will, begibt sich nach Altona, wo in einem Hinterhof in der Stresemannstraße mit Lines & Dots eines der Tattoo- und Piercingstudios eröffnet hat, die mit den verranzten Peikerstuben im Rotlichtmilieu nicht mal mehr in einem Atemzug genannt werden dürfen. In vier beinahe klinisch-sterilen Räumen vibrieren die Nadeln, in zwei weiteren Behandlungszimmern wird gepierct, und vorn am Tresen, wo es Süßigkeiten und einen ordentlichen Espresso gibt, ist auch der Durchgang zur hauseigenen Latexboutique.

Liz hat schon als Kind mit der Körperbemalung angefangen. In Hamm in Westfalen war das, noch mit Buntstiften. Ihre Eltern waren entsetzt. Doch als Liz älter wurde, und ihre Eltern merkten, dass es sich um eine echte Leidenschaft handelte und um einen ernsthaften Berufswunsch, förderten sie ihre Tochter, indem sie darauf achteten, dass Liz wenigstens in einem „ordentlichen“ Dortmunder Tattoo-Studio unterkam. Nach der Schule begann Liz ihre Ausbildung, übte erst einmal Zeichnen, fertigte einfache Schablonen, bevor sie dann „auf ihrem Ausbilder“ das erste Tattoo stach. „Andere üben erst mal auf Orangen oder auf Schweinehaut. Aber da bin ich kein Fan von.“ Und für komplexere Motive, sagt sie, müsse man sich sowieso mehrere Jahre Zeit geben.

Bei dünner Haut wie am Knöchel, tut es besonders weh

Jetzt lässt Liz am rechten Knöchel von Susanne Bentrup gerade einen vierfarbigen Kranich aufsteigen. Die 54-jährige Heilpädagogin aus Unna in Westfalen, die einen Hamburg-Ausflug mit ihrer besten Freundin dazu nutzt, sich verschönern zu lassen, knetet einen stoppeligen Gummiball, um sich von den Schmerzen abzulenken. Ab und zu stöhnt sie dennoch auf. „Ein Tattoo ist ein einmaliges Schmuckstück, das ich nicht verlieren kann“, sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen. Der Kranich als Symbol des Glücks und der Langlebigkeit soll sie an die Geburt ihres Enkelkindes am 5.März erinnern.

Es ist ihr zweites Tattoo, auf ihrem Nacken prangt seit rund zwei Jahren eine französische Lilie. „Ich mag ja Exoten, weil ich selbst nicht exotisch bin. Und ich bin auch geprägt von meinem ältesten Sohn. Der ist Systemelektroniker, ist tätowiert, trägt lange Dreadlocks und mehrere Piercings. Mir war sein Aussehen vollkommen egal, Hauptsache, die menschlichen Sachen stimmen.“ Ihren Lebensgefährten hat sie am Morgen darüber informiert, dass sie mit einem tätowierten Knöchel aus Hamburg die Heimreise antreten werde. „Was soll er dagegen haben?“, fragt Susanne lachend, „so lange es nicht zur Sucht wird, kann ich doch machen, was ich will.“

Da hält Liz Vegas inne: „Tätowieren ist keine Sucht. Ich kriege doch keine Entzugserscheinungen, wenn da eine Hautpartie nicht tätowiert ist“, sagt sie, „nein, die meisten Menschen sehen dabei den Schmuckaspekt. Ich tätowiere zum Beispiel häufig Blumen, die hat man dann immer dabei.“ Sie deutet auf ihr eigenes – reich tätowiertes – Dekolleté. „Neulich in der Sauna hat mir der Bademeister zugezwinkert: ‚Aber Sie wissen schon, junge Dame, dass es hier textilfrei ist?‘“