Wenn Mütter und Väter auf Lehrer treffen, sind Konflikte programmiert. Alexander Schuller hat selbst viele Stunden mit endlosen Diskussionenim Klassenzimmer verbracht – und weiß, wer die Schuldigen sind.
Sofort nach dem Öffnen der schweren Eingangstür schlägt dir eine wohlbekannte Aromen-Komposition aus müffelnden Turnschuhen, vertrockneten Obstschalen, ranzigem Schnittkäse, Kreidestaub und Bohnerwachs entgegen. Eine biochemische Keule, die sämtliche traumatischen Erinnerungen an deine eigene Schulzeit in dein Gedächtnis projiziert. Na gut, es war nicht alles schlecht, aber eigentlich wolltest du nach deinem Abitur nie wieder eine Schule betreten. Doch jetzt durchlaufen deine Kinder das komplizierte, umstrittene, viel diskutierte deutsche Bildungssystem, das irgendwie immer komplizierter und umstrittener wird, und daher musst du jetzt schleunigst den Klassenraum der 5B finden. Denn du bist zu spät dran, so wie damals, nur ist diesmal der Feierabendverkehr am Zuspätkommen schuld und nicht ein Platten am Bonanza-Rad.
Zurzeit besuchen rund 11,5 Millionen junge Menschen in Deutschland eine Schule, berufsbildende Schulen inbegriffen. Pro Jahr schaffen zwischen acht und zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss nicht. Im internationalen OECD-Leistungsvergleich, auch PISA-Studie genannt, dümpelt Deutschland, eine der mächtigsten, wichtigsten und reichsten Nationen der Welt, in allen Fächerarten nur im Mittelfeld.
Am liebsten würdest du diese abendliche Doppelstunde natürlich schwänzen. Du weißt, du wärst dann nicht allein: Denn wenn irgendwo das Wort „Elternabend“ fällt, ziehen Mütter sofort ein Gesicht, als wenn ihnen mit einer rostigen Kombizange ein vereiterter Schneidezahn ohne Betäubung gezogen würde. Vätern fällt dagegen augenblicklich der Begriff „Weltfrauentag“ ein, weil sich die Termine von Elternabenden immer am Spielplan der Champions League orientieren.
Die Gründe fürs Einmischen
Aber in Wahrheit denken viele moderne Mütter und Väter inzwischen häufig ganz anders. Und sie schwindeln: Denn je höher ihr Bildungsgrad und das monatliche Einkommen, je besser und je städtischer die Gegend, in der sie ihre Kinder aufwachsen lassen, desto mehr engagieren sie sich in der Schule, mischen („bringen“) sich ein, unterrichten sozusagen mit, kontrollieren. Dafür gibt es mehrere Gründe, unter anderem diese hier: Statistisch wachsen die nur noch 1,34 Kinder in Familien, Beziehungen oder bei Alleinerziehenden auf, darüber hinaus werden Eltern immer älter. Da darf dann nichts dem Zufall überlassen werden, vor allem nicht, wenn es um Bildung geht, in unserer sich rasend schnell entwickelnden Welt des technischen Fortschritts und der Globalisierung. Nur den sozial schwächeren und bildungsferne(re)n Schichten ist es nach wie vor größtenteils wumpe, was ihre Kinder in den Schulen lernen, wenn überhaupt.
„Hindernis Herkunft“ lautet der Titel einer Umfrage zum Bildungsalltag in Deutschland von der Vodafone Stiftung aus dem vergangenen Jahr. 76 Prozent der Eltern aus sozial schwachen Schichten zeigen danach wenig Interesse am Schulalltag ihrer Kinder. Unter den Lehrern herrscht Konsens: Schulerfolg hängt maßgeblich von der sozialen Herkunft ab. 70 Prozent der Kinder aus höheren Einkommensschichten gehen aufs Gymnasium (96 Prozent streben das Abitur an), 54 Prozent sind es bei der Mittelschicht (62 Prozent) und nur 30 Prozent (41 Prozent) in den unteren Einkommensschichten.
Dafür geben engagierte Eltern inzwischen richtig Gas. Fachleute sprechen schon seit Längerem von „elterlicher Optimierungsmentalität“, die im Extremfall bereits im sechsten Schwangerschaftsmonat einsetzt, wenn das ungeborene Kind zu Mozarts Jupiter-Sinfonie (Sinfonie No. 41 in C-Dur, Köchelverzeichnis 551) aus aufgelegten Kopfhörern in der Fruchtblase umherpaddeln darf: „Fötagogik“ spottet der Philosoph Peter Sloterdijk über die Bemühungen dieser Spezies Eltern, die auch Dreijährige zum spielerischen Chinesischunterricht schickt. Aber bereits die berüchtigten „Helikoptereltern“ lassen viele der insgesamt 800.000 Lehrer in unserem Land beim „E-Wort“ mittlerweile nur noch an eines denken: den Vorhof zur Hölle.
Drei Kategorien von Helikoptereltern
Josef Kraus, 64, Direktor eines Gymnasiums im bayerischen Vilsbiburg und langjähriger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, unterscheidet drei Kategorien von Helikoptereltern: „Die Transporthubschrauber bringen ihre Kinder zur Schule und tragen ihre Ranzen in die Klasse. Die Rettungshubschrauber tragen ihren Kindern vergessene Pausenbrote und Turnbeutel in die Schule hinterher und sind grundsätzlich bereit, Unsummen für Nachhilfeunterricht auszugeben. Und die ‚Black Hawks‘ drohen mit dem Anwalt.“
Wenn du Eltern über Lehrer reden hörst, bekommst du fast immer den Eindruck, es handele sich um eine total zerrüttete Beziehung, die dringend einer Paartherapie bedarf. Aber jetzt hastest du durch eine Pausenhalle links am Musiksaal, dann an der Schulkantine vorbei bis zu einer Glastür, hinter der sich der Aufgang zum „Turm 3“ befinden soll, in dem die vier Klassen der Orientierungsstufe dieser neuen Ganztagsschule untergebracht sind. Deine Schritte hallen auf dem verwaisten Flur, der von summenden Neonröhren in kaltes Licht getaucht wird. An den endlosen Reihen der Kleiderhaken baumeln vergessene Anoraks, Schals und Mützen. In einigen Klassenräumen brennt Licht, von irgendwoher dringt ein Klarinettensolo an dein Ohr, eine Tür klappt, der Pausengong geht unvermittelt los, du beschleunigst deinen Schritt, denn es ist jetzt Punkt acht, und wo, verdammt, ist jetzt diese Glastür, der Turm 3? Wo ist der Klassenraum der 5B? Schon damals, vor 45 Jahren, haben sich deine Eingeweide zusammengekrampft, wenn du vor der zerschrammten Tür zum Klassenraum gestanden hattest und die hysterische Stimme deiner Englischlehrerin zum unangekündigten Vokabeltest aufrief. Heute ziert ein optimistisch grinsender Marienkäfer die Klassentür. Du holst tief Luft, drückst vorsichtig die Klinke hinunter, öffnest die Tür erst einen kleinen Spalt und lugst herein. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Du stößt die Tür weit auf, betrittst den Klassenraum und vergisst nicht, ein zerknirschtes Gesicht zu machen, während du, gleichzeitig Souveränität heuchelnd, die Klassenlehrerin mit einem verlegenen Kopfnicken begrüßt.
Durchschnittlich 81 Prozent der Eltern aus den höheren Einkommensschichten gehen regelmäßig zu Elternabenden oder Sprechstunden, aber nur 69 Prozent derjenigen aus schwächeren sozialen Schichten nutzen diese Möglichkeiten für Schulinformationen aus erster Hand. Ein ähnliches prozentuales Verhältnis besteht beim elterlichen Interesse für Unterrichtsthemen. Etwa die Hälfte der Eltern aus höheren Einkommensschichten kontrollieren die Hausaufgaben ihrer Kinder, fordern sie zum Lernen auf und helfen bei der Vorbereitung von Arbeiten und Tests sowie Referaten aktiv mit.
Vorne sitzen wie immer die Streber
21 Augenpaare sind auf dich gerichtet. Du bist einer von lediglich drei weiteren anwesenden Vätern. Vorne in der ersten Reihe sitzen – wie damals – die Streber, die du an den penibel aufgereihten Stiften und Schnellheftern auf den Tischen erkennst. Ein Ehepaar hat sogar einen Laptop mitgebracht. In der zweiten Reihe sitzen diejenigen, denen man maximal eine mittelprächtige Begeisterung über diese Veranstaltung attestieren kann. Und in den letzten beiden Reihen haben diejenigen Platz genommen, die einen Elternabend grundsätzlich als unangenehme Belästigung empfinden.
Du bist mitten in die Begrüßungsansprache der Klassenlehrerin Frau W. hineingeplatzt. Frau W. ist „der Liebe wegen“ von der sächsischen Elbe aus Dresden ans Hamburger Ufer des Flusses gewechselt. Du hörst ihren innerdeutschen Migrationshintergrund rasch heraus und erinnerst dich plötzlich dunkel an die jüngste PISA-Studie, in der das Land Sachsen neben Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg (eigentlich wie immer) von allen 16 Bundesländern mit am besten abgeschnitten hat (was man von Hamburg leider überhaupt nicht behaupten kann). „Schön, dass Sie es noch geschafft haben“, sagt Frau W. freundlich. Sie ist recht attraktiv, so um die 30, mit halblangen, glatten blonden Haaren, einer weißen Leinenbluse mit halblangen Ärmeln, einem halblangen, roten Folklorerock und halbhohen Pumps. Um ihren Hals baumelt ein blaubraun gebrannter Emaillefisch an einem Lederband, das Zeichen des Fischers Petrus, das du bereits von einigen Heckklappen parkender SUVs auf dem Schulparkplatz kennst. Frau W. unterrichtet ja auch Deutsch, Sachkunde und Ethik. Früher hieß das Religion. Sie wird eskortiert von Herrn B., dem Mathematiklehrer, sowie von der Schulpsychologin Frau G., für die dieser Elternabend bereits der dritte in dieser Woche ist.
Die 5b ist nun mal extrem unruhig
„Wir haben gedacht, es sei praktisch, wenn die Kinder ihren Eltern Platzkarten basteln!“ Mit diesen Worten weist dir Frau W. deinen Platz in der vorletzten Reihe zu, wo du auf dem Tisch vor einem freien Stuhl jetzt dein gefaltetes Namensschild entdeckst, verziert mit einem selbst gemalten Marienkäfer, der allerdings nur entfernt an einen Marienkäfer erinnert. Aber was soll’s, wie der Vater wird der Sohn wohl auch kein Dürer werden. „Also“, fährt Frau W. heiter fort, „ich fange dann noch mal an“, und damit beginnt ihr Kurzvortrag über die vielen kleinen und großen Veränderungen, die das schier unendliche Gebastel am föderativen deutschen Schulsystem mit sich bringt. Sie kommt rasch zum Punkt: Hamburg wolle ja jetzt mit Macht aufholen im bundesdeutschen Vergleich. Der reiche Stadtstaat möchte so schnell wie möglich auf Augenhöhe mit den PISA-Vorzeige-Bundesländern kommen, denn Bildung sei bekanntlich die Zukunft, mahnt Frau W.; aber, sagt sie und legt dann eine längere rhetorische Pause ein, wie solle das denn im Großen funktionieren, wenn es nicht mal im Kleinen funktionierte?! Weil nämlich diese Klasse 5B nun mal leider extrem unruhig sei… Frau W. hält erwartungsvoll inne, die Eltern schweigen betreten, der erfahrene Mathematiklehrer Herr B., der schätzungsweise in zehn Jahren pensioniert werden könnte, presst die Lippen aufeinander, die Schulpsychologin baut prophylaktisch Körperspannung auf, und du fühlst in diesem Moment diese entsetzliche Unsicherheit in dir aufsteigen: Ob auch dein Sohn unter diesen Generalverdacht fallen könnte? Ob er gar als Rädelsführer einer marodierenden Rotte entfesselter Orientierungsstufenschüler fungiert…? Du wendest deinen Blick von den Tuschbildern ab, die ringsum an den Wänden hängen, taxierst verstohlen die anderen Eltern, die auf den für Zehnjährige konzipierten Holzstühlchen genauso unbequem kauern wie du und jetzt anscheinend allesamt dasselbe denken: „Nein, mein Kind ist sicherlich/bestimmt/ganz sicher nicht gemeint.“
In diesem Moment machen sich die Strebereltern in der ersten Reihe erste Notizen. Auch der Bildschirm des Laptops flammt auf. Mindestens ein Dutzend Straßenschuhe scharren nervös auf dem Boden. Und dann beginnt auch schon das Inquisitionsgericht. Der Ton wird rauer, die Stimmung kippt.
64 Prozent der Lehrer sind der Ansicht, dass Eltern inzwischen versuchen, mehr Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung, die Notengebung sowie die schulischen Rahmenbedingungen zu nehmen. Doch nur rund drei Prozent der Lehrer empfinden das erhöhte elterliche Engagement als positiv. Fast die Hälfte aller Lehrer gibt dagegen an, damit Schwierigkeiten zu haben.
Die Eltern reden sich und ihren Sprössling um Kopf und Kragen
Frau W. hat keinen einzigen Vorwurf in Richtung der Eltern geschleudert. Sie hat auch keinen einzigen Namen genannt oder jemanden besonders intensiv angeschaut. Sondern sie hat ruhig und sachlich über ihre „subjektive Wahrnehmung des Klassenverbandes“ gesprochen, die sie allerdings mit allen Fachlehrern teile. Vor allem mit Herrn B., der das Fach Mathematik unterrichtet. Der greift nun ein und erklärt, vielleicht etwas umständlich, das modifizierte Orientierungsstufenprinzip, das deshalb strenger geworden sei, weil man ja jetzt in der Mittelstufe nicht mehr sitzen bleiben könne. Dahinter, so Herr B., stecke die an und für sich gute Absicht, einigen Schülern und ihren Eltern Leid und Stress zu ersparen.
„Ich glaube aber eher, Sie haben die Klasse mit ihrem antiquierten Frontalunterricht einfach nicht im Griff, Herr B.“, unterbricht eine Mutter seinen Redefluss, „das muss ich hier dann leider mal ganz direkt sagen“, und sie schiebt, mit einem vielsagenden Blick in die Runde, den verhängnisvollen Nebensatz hinterher, dass sie schließlich „Kollegin sei“ (wenn auch „nur“ in den Fächern Sport und Biologie und auch „nur“ auf einer klassischen Haupt- und Realschule), bevor sie dann dezidiert die „hammerharte Notenvergabe“ des Mathematiklehrers kritisiert, worauf hin ungefähr zwei Drittel der Eltern nicken. Der Vater der klassenbesten Schülerin meldet sich: „Es kann doch nicht sein, dass wir in Mathe jetzt wieder eine ,Zwei minus‘ kassiert haben, wir haben doch so viel geübt.“ Und eine Mutter fasst sich schließlich ein Herz und gesteht, jedoch mit unverhohlener Angriffslust, dass sie sich der Meinung ihrer Vorredner anschließe. Aber, fügt sie hinzu, sie verstehe auch diese drei schriftlichen Ermahnungen von Frau W. nicht: Ihr Sohn sei doch alles andere als verhaltensauffällig! Sie redet sich und ihren Sprössling um Kopf und Kragen, aber dann ruft sie: „Die Schule ist doch nicht dazu da, um Duckmäuser heranzuzüchten, sondern kreative, kritische Menschen!“ Die Notendiskussion ist plötzlich abgehakt. Nur mühsam unterdrückt die Mehrheit der Eltern das Bedürfnis, Beifall zu klatschen, obwohl jetzt alle wissen, welches Kind seinen Ranzen dauernd quer durch die Klasse wirft und die Mädchen bespuckt. Aber man munkelt, dass diese Mutter alleinerziehend sei, drei Kinder von zwei Vätern, Aufstockerin, alles kein Zuckerschlecken, bestimmt überfordert, die arme Frau.
Der kleinere Rest der Anwesenden schweigt peinlich berührt oder tauscht vielsagende Blicke aus. Manche verdrehen die Augen. Du denkst in diesem Moment krampfhaft an den FC Bayern, der gegen Manchester City spielt. Die zweite Halbzeit läuft bereits. Und dir fällt ein, dass du deinem Sohn nicht glauben wolltest, als der dir neulich erzählte, ein Junge in seiner Klasse werfe seinen Ranzen dauernd durch die Klasse, kriege Kreischanfälle und rotze Mädchen an.
Auch langjährige Erfahrung kann die Gemüter nicht abkühlen
Frau W. setzt sich aufs Lehrerpult. Es wirkt wie das angstvolle Zurückweichen vor einer Flammenwand. Das habe sie nicht gewollt, im Gegenteil, sie gibt offen zu, dass ihr die Brisanz dieses Themas durchaus bewusst sei, aber deshalb habe sie ja auch die Schulpsychologin Frau G. dazugebeten, die schließlich eine Menge Erfahrung mitbringe.
Doch auch langjährige Erfahrung kann die erhitzten Gemüter nicht abkühlen. Frau G. spricht zunächst von den „fünf fatalen S“: der Selbstentfaltung, Selbstevaluation, Selbstregulierung, Selbstverwirklichung, Selbstzentrierung. Weniger angesagt seien dagegen die „fünf guten S“, nämlich Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin, Selbstironie, Selbstkritik und Selbstlosigkeit. Und dass aus dieser „Überdosis Selbst“ häufig Selbstbesessenheit, Selbstbetrug, Selbstgerechtigkeit, Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung entstehen können. Sie zitiert aus einer Veröffentlichung des Deutschen Lehrerverbandes. Es klingt alles ein bisschen akademisch. „Im Klartext“, sagt Frau G., „sollen unsere Kinder alles dürfen, aber sie müssen nichts sollen.“ Dann betritt sie noch dünneres Eis, denn sie fügt hinzu, dass Kinder zumeist nicht von „unmenschlichem Leistungsdruck“ überfordert seien, sondern vielmehr von den riesigen Freiräumen, die ihnen gewährt würden. Wozu unter anderem die durchschnittlich vier Stunden lange Verweildauer vor Computerbildschirmen oder Fernsehern beitrüge, täglich wohlgemerkt, was erwiesenermaßen zu einer gewissen Trägheit des Geistes führe. Jetzt brechen alle Dämme. Frau G. kommt auf diesem (sicherlich historischen) Elternabend der 5B nicht mehr dazu, zu erzählen, was Deutschlands oberster Lehrer Josef Schwarz jüngst veröffentlich hat:
„Dabei wäre es oft so unendlich wichtig, dass sich Eltern zurücknehmen, anstatt sich in einer das Kind fesselnden Distanzlosigkeit in eine totale Symbiose zu begeben. Dass viele Eltern ihre Kinder heute (…) immer weniger intuitiv erziehen (…) Dass diese Psychodynamik nicht selten mit verklärten Visionen der Eltern von einem perfekten, tollen Kind einhergeht, woraus für Kinder eine fatale Gemengelage aus maximaler Verwöhnung und gigantischem Erfolgsdruck entsteht…
Eltern muten den Kindern zu wenig zu
Im Klassenraum fallen nun harsche Begriffe wie „Mobbing“, „Systemfehler“, „miserable Bildungspolitik“, „unfähige Lehrerschaft“, „Misserfolge“, „Nachkorrektur“, „juristische Schritte“ – und mindestens zweimal fordert der Elternsprecher lautstark, dass sich die deutschen Schulen endlich mal an Finnland orientieren sollten, diesem allseits hoch gelobten europäischen Bildungsschlaraffenland. Dass über 20 Prozent der jugendlichen Finnen keinen Ausbildungsplatz bekommen und ebenso viele bereits als Vollalkoholiker gelten, verschweigt er; vermutlich wissen das auch nur die Finnen selbst.
Viele Eltern – und auch Lehrer – machen es den Schülern zu einfach, warnt Josef Schwarz. Sie muten den Kindern zu wenig zu, und sie trauen ihnen auch zu wenig zu. So aber verkümmere die Resilienz, also die Fähigkeit, sich nach Frustrationen und Niederlagen zu fangen oder gar gestärkt daraus hervorzugehen. Kindern werde so eine wichtige Mitgift fürs Leben vorenthalten. Die Schulen, fordert Schwarz, müssen den Mut haben, Schülereltern solch unbequeme Wahrheiten zu sagen.
Die Klassenleitung der 5B hatte diesen Mut, aber er wird ihr nicht gedankt. Plötzlich hebt eine Mutter, die bisher lediglich durch ihre Teilnahmslosigkeit aufgefallen ist, die Hand. Frau W., den Tränen nahe, erteilt ihr das Wort. „Ich wollte eigentlich nur fragen“, sagt die Mutter, „ob Sie für die Schulkantine jetzt auch die Einführung eines Veggie-Days beabsichtigen?“
So geht dieser Elternabend erst nach einer weiteren Dreiviertelstunde spät zu Ende. Während sich eine Gruppe Mütter um die Klassenlehrerin schart, um rasch ein paar wichtige Fragen zu klären („Wie ist das eigentlich mit den künstlichen Farbstoffen im Kantinenessen?“) sowie pädagogische Anregungen zu geben („Haben Sie mal über bilingualen Unterricht nachgedacht?“), beschließen draußen auf dem Flur ein paar Eltern spontan, noch einen Absacker in einer Kneipe um die Ecke zu nehmen. Doch du winkst dankend ab, denn du möchtest nicht an der Gründung eines Vereins teilnehmen.