Vor 150 Jahren wurde der Neubau der vom Großen Brand zerstörten Nikolaikirche eingeweiht. Matthias Gretzschel erinnert daran, wie das Volk ihn sah: düster, katholisch, gar nicht hanseatisch.

Fluchtartig hatte die Gemeinde den Mittagsgottesdienst verlassen müssen, denn die Flammen griffen längst auf das Kirchengebäude über. Gegen drei Uhr am Nachmittag ergriff das Feuer auch den Turm, ohnmächtig mussten die Feuerwehrleute zusehen, wie schließlich das ganze Bauwerk lichterloh brannte. Längst hatte man aufgehört, Gegenstände aus dem Gotteshaus zu tragen. Das Gestühl, die Orgel, Altar, Kanzel und kostbare Gemälde waren nicht mehr zu retten. Etwa um 16 Uhr stürzte der Turm brennend in sich zusammen, die mehr als 600 Jahre alte Nikolaikirche ging an diesem 5. Mai 1842 verloren.

Das alles ist nicht vergessen, viele Menschen, die 21 Jahre später zum Hopfenmarkt aufbrechen, um bei der Einweihung des neue Bauwerks dabei zu sein, haben den Untergang der mittelalterlichen Kirche im Großen Brand noch in lebhafter Erinnerung. Trotzdem blickt man am 24. September 1863 nach vorn, betritt den riesigen Kirchenraum, hört die Festpredigt und die Reden der Honoratioren und beginnt zu verstehen, dass mit dem Neubau der Hauptkirche St. Nikolai für Hamburg eine neue Zeit begonnen hat. Nein, fertig ist das Bauwerk nicht, noch fehlt der Turm. Aber es ist üblich, Kirchen nicht erst zu weihen, wenn alles fertig ist, sondern wenn sich die Räume nutzen lassen. Das war auch beim Michel so, in dem man schon jahrelang Gottesdienste gefeiert hatte, bevor der markante Turm schließlich in den Hamburger Himmel ragte.

Ein bisschen fremd, das stellt mancher der Besucher des Weihegottesdienstes in St. Nikolai an diesem Herbsttag vor 150 Jahren stirnrunzelnd fest, ist es schon, dieses gewaltige Bauwerk, das ein Engländer für Hamburg entworfen hat. Mittelalterlich sieht es aus, aber gar nicht hamburgisch. Kein roter Backstein, sondern Sandstein, Marmor und gelbe Ziegel prägen die Fassade, die reich mit Skulpturen und gotisierenden Schmuckelementen versehen sind. Ziemlich katholisch wirkt das Innere des gewaltigen Raums, dessen Mittelschiff 86 Meter misst. Der Hochaltar besteht aus Carraramarmor, durch die farbigen Fenster im Chor und in den Seitenschiffen der Basilika dringt gedämpftes Licht, das eine sakrale Stimmung verbreitet, die die Vertreter der konservativen kirchlichen Strömung dieser Zeit besonders schätzen. Kein Vergleich zum festlichen, hellen und lichtdurchfluteten Michel. Die neue Zeit träumt sich ins Mittelalter zurück, jetzt ist die Neogotik angesagt. Der Neubau der Hamburger Nikolaikirche und die Vollendung des Kölner Doms setzten dafür in Deutschland die Maßstäbe, nach denen man sich noch Jahrzehnte lang richten wird.

Dabei hätte St. Nikolai eigentlich ganz anders aussehen sollen. Bei einem Architektenwettbewerb hatte sich der in Hamburg geborene Gottfried Semper durchgesetzt. Für den Entwurf eines Kuppelbaus im Rundbogenstil, der eigentlich viel besser in die wiederaufgebaute Umgebung gepasst hätte, gewann er den ersten Preis. Bei der Auftragsvergabe überging man Semper jedoch, den Zuschlag bekam der Drittplatzierte, der Londoner Architekt George Gilbert Scott. Mit seiner neogotischen Kirche veränderte er das Hamburger Stadtbild ganz erheblich. Gewaltig erhob sich das Kirchenschiff über die umliegenden Häuser, und beim Anblick des Turms, der in den kommenden Jahren immer weiter in den Himmel wuchs, fühlte man sich an die großen Kathedralen in Frankreich erinnert. Als er 1874 endlich seine endgültige Höhe von 147,5 Metern erreichte, machte er Nikolai zum höchsten Bauwerk der Welt. Allerdings nur für zwei Jahre, denn 1876 vollendete man den Turm der Kathedrale im französischen Rouen, der etwa vier Meter höher war. Und die Doppeltürme des 1880 fertiggestellten Kölner Doms brachten es dann sogar auf 157 Meter. Aber auch wenn der Rekord nicht lange hielt, spielte Hamburg mit seiner neogotischen Nikolaikirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts architektonisch europaweit in der ersten Liga mit.

Nicht im Traum hätten sich die Besucher des Weihegottesdienstes im September 1863 vorstellen können, dass das so mächtig aufragende Gotteshaus irgendwann ebenso in Flammen stehen würde wie sein mittelalterlicher Vorgänger. Im „Feuersturm“, den die alliierte Bomberflotte Ende Juli 1943 in Hamburg entzündeten, ging die riesige neogotische Kirche, deren Schiff schon im Mai 1941 Treffer abbekommen hatte, endgültig unter. Für die „Operation Gomorrha“, so hatten die Engländer die Serie ihrer Bombenangriffe genannt, hatte der Turm von St. Nikolai besondere Bedeutung: Ausgerechnet dieses von einem Engländer errichtete Bauwerk diente den britischen Geschwadern nun als Ziel und Orientierungspunkt.

Gewiss hätte man die gewaltige Kirche nach 1945 wiederaufbauen können, ähnlich wie die anderen Hauptkirchen. Doch Kirche und Stadt entschieden sich anders, verlegten den modernen Neubau von St. Nikolai aus der künftig weit stärker von Geschäfts- und Bürobauten beherrschten Innenstadt an den Klosterstern. Die Ruine blieb erst einmal stehen. Die Neogotik, die man bei der Kirchweihe vor 150 Jahren noch so geschätzt hatte, galt in der Nachkriegszeit nichts mehr. Ein großer Teil der Ruine wurde 1951 gesprengt, nur wenige Mauern blieben stehen und wurden gesichert. Zuvor hatten sich Stadt und Kirche darauf geeinigt, Turm und Chor zu erhalten. Erst 1987 kam es auf Initiative des Bauunternehmers Ivar Buterfas zur Gründung des Förderkreises „Rettet die Nikolaikirche“, der sich um die Gestaltung der Ruine zum Mahnmal bemühte und den Turm für Besucher zugänglich machte. Am 1. September dieses Jahres wurde die bisher eher bescheidene Dokumentations- und Gedenkstätte im Kellergewölbe der Kirche als Museum neu eröffnet.