Aus dem Flora-Gebäude sollte ein Musical-Tempel werden. Doch der Widerstand war größer als die Millionen-Pläne eines Unternehmers.
Ja, Ingo von Münch war "happy und high". Was Hamburgs Kultursenator an diesem 14. Januar 1988, fast auf den Tag genau vor 25 Jahren, dermaßen überschwänglich jubeln ließ, war die offizielle Ankündigung eines gewaltigen städtebaulichen Vorhabens: Vorhang auf - das alte Flora-Theater am Schulterblatt wird zur großartigen Musical-Bühne!
Für 30 Millionen Mark wollte der schwäbische Unternehmer Friedrich Kurz den historischen Varieté-Tempel umbauen. Einst hatten in dem Concerthaus Flora Zarah Leander, Hans Albers und Johannes Heesters die Besucher unterhalten. Nun sollte das verwinkelte Gebäude, das seit 1964 als Kaufhaus für "1000 Töpfe" sowie Lampen und Kameras, Tapeten und Teppiche diente, zur glanzvollen Spielstätte für das "Phantom der Oper" werden. Ab Mai 1989 sollte jeder der 2000 Besucher von jedem Platz aus mit gleicher optimaler Sicht die Auftritte des entstellten Maskenmannes aus dem Pariser Untergrund genießen. Das war der Plan.
"Fritz the cat" nannten sie in Hamburg den umtriebigen Musical-Produzenten. Der 38-jährige Kaufmann, der in London Theaterwissenschaft und in New York Betriebswirtschaft studiert hatte, hatte zwei Jahre zuvor die singenden Katzen des amerikanischen Komponisten Andrew Lloyd Webber an die Elbe geholt. Und sie auf der Bühne des maroden Operettenhauses auf der Reeperbahn zum Leben erweckt. "Cats" war der erste Streich von Friedrich Kurz, nun sollte das "Phantom" folgen - und Hamburg endgültig zur Musical-Hochburg in Deutschland machen.
"Es wird wohl Ärger geben, aber wir wollen da rein", hatte Kurz ein paar Monate zuvor orakelt, als er sich die gelbe Immobilie im Schanzenviertel erstmals angesehen hatte. Er meinte die mögliche Auseinandersetzung mit dem Kaufhaus-Betreiber. "Wir bleiben hier", hatte 1000-Töpfe-Filialleiter Heinrich Busen gesagt. Mit dem Ärger sollte Kurz recht behalten. Aber der Widerstand bestand sehr schnell aus mehreren Tausend Köpfen. Und reinkommen sollte er nicht. Statt Tanz gab es erst einmal Militanz.
Die Bühne für diese ungeplanten Aufführungen verlagerte sich in den kommenden Monaten auf die Straßen des Viertels. Vom "Chancenviertel" hatte von Münch angesichts der 180 in Aussicht gestellten neuen Arbeitsplätze sowie täglicher Touristenströme gesprochen. Die Aussichten, die die Bewohner auf Flugblätter und per Farbe an die Wände malten, handelten dagegen von einer "Giganto-Kommerzkultur". Man wollte keine allabendlichen parkplatzsuchenden Bus- und Autokorsos in den schmalen Gassen, keine Schickimickisierung, keine teure Abendgarderobe, keine exklusive Gastronomie, keine steigenden Mieten, keine Verdrängung. "Bei Eintrittspreisen zwischen 85 und 160 Mark haben wir von dem Musik-Tempel außer Lärm doch selbst nichts zu erwarten", hieß es im Viertel. Und so wurde die Flora zum symbolträchtigsten Gebäude der Stadt für den Kampf gegen Umwandlung ohne Einbeziehung der Betroffenen.
Die Politik zog alle Register. Sie zeigte ihre Zähne. "Das Musical-Haus wird zur Not vom ersten Spatenstich bis zur Premiere abgeriegelt", tönte SPD-Innensenator Werner Hackmann. Sie redete mit Engelszungen. "Es geht nicht um den Bau eines Atomkraftwerks, das Gebäude wird nur seiner ursprünglichen Bestimmung wieder zugeführt", sagte Ingo von Münch. Eine Metropole wie Hamburg brauche "möglichst viel Kultur".
Möglichst viel Geld wäre die ehrlichere Ansage gewesen. Denn längst war klar, dass man mit Katzen viele Mäuse fängt. ",Cats' hat ganz wesentlich zur Verbesserung der Standort- und Wirtschaftsqualität Hamburgs beigetragen", freute sich Finanzsenator Hans-Jürgen Krupp (SPD) über den neu entdeckten Wirtschaftsfaktor. Und so unterzeichneten im April Kurz und die Finanzbehörde den Flora-Vertrag. Einen Tag später erschienen auf der abgeriegelten Baustelle Arbeiter einer Altonaer Abbruchfirma. Bereitschaftspolizisten sicherten das Abladen der Absperrgitter.
Als im Juli auf dem Kiez der einmillionste "Cats"-Besucher erwartet wurde, versperrten 200 zum Teil vermummte Demonstranten den Eingang. Es flogen Stinkbomben und Farbbeutel ins Foyer, die Polizei setzte Schlagstöcke ein. "Flora für uns, sonst gibt's Stunk", stand auf einem Transparent.
Im Abendblatt schrieb Udo Lindenberg vier Tage später an Kurz: "Ahoi, Fritz!" Der wortgewaltige Rocksänger plädierte für eine Doppel-Lösung gegen die "Überdosis Lloyd Webber": Musik-Theater plus zweite Bühne für "so richtig breites Volkstheater mit viel Rock 'n' Roll und wenig Protokoll", um "aus der Stätte der 1000 Töpfe eine Stätte für 1000 Fantasien zu machen".
Als die Krawalle immer heftiger wurden, setzte im SPD-Senat schließlich ein Umdenken ein. "Kultur mit dem Kopf durch die Wand geht nicht", sagte die Landesvorsitzende Traute Müller. Kurz bekam eine Million Mark Entschädigung für die Abrisskosten, ein neues städtisches Grundstück am S-Bahnhof Holstenstraße, Verkehrswert: zehn Millionen Mark. In Rekordzeit wurde dort für 80 Millionen Mark die Neue Flora hochgezogen, bei der "Phantom"-Premiere im Juni 1990 mit 2000 Gästen flogen erneut Steine.
Zwei Jahrzehnte später gehört die Rote Flora dem Kaufmann Klausmartin Kretschmer, der das Gebäude der Stadt 2001 für 370.000 Mark abgekauft hat. Der neue Bebauungsplan, der die Fläche in den jetzigen Grenzen als Stadtteilzentrum ausweist, wird in einem Jahr in die Feststellung gehen. Eine Veränderungssperre verhindert zudem bis dahin jede andere Nutzung.
So schnell wird kein Phantom mehr am Schulterblatt sein Unwesen treiben.