Hamburg. Der Popstar sprach bei der Lesung in Harburg auch über seine Zeit in der Hansestadt – und wurde sauer, als er auf einen Flügel sah.
Ganz am Ende, der lautstarke Schlussapplaus in der Friedrich-Ebert-Halle ist gerade verebbt, die Veranstalterin lädt zur Signierstunde, erhebt sich eine Zuschauerin. Sie bittet Herbert Grönemeyer noch ein Lied für „ihren Kerl“ und für sie zu spielen. Ein halbes Jahr habe sie unter Depressionen gelitten, dann versagt ihre Stimme.
Es ist der Moment, als sich alle Augen auf Grönemeyer richten. Minuten zuvor hat er noch wortreich erklärt, warum er „richtig sauer“ war, als er den Flügel auf der Bühne gesehen habe. Sein Gehirn sei einfach nicht dafür trainiert, bei einer Lesung auch noch zu singen: „Ich will ja hier keinen Unsinn erzählen.“ Bei einer ähnlichen Veranstaltung habe er es einmal versucht und dann den Text von „Halt mich“, einem seiner bekanntesten Liebeslieder, nicht mehr zusammenbekommen: „Das war mir so peinlich.“
Grönemeyer bei Elb.Lit: Spontan spielt er bei der Lesung in Harburg die Ballade „Tau“
Und doch steht Grönemeyer nun einfach auf, setzt sich an den Flügel und singt die 2023 veröffentlichte Ballade „Tau“ mit dem Vers: „Manchmal legt der Tau sich auf mich. Und dann werd ich leise traurig.“ Wohl das passendste Lied für diesen Augenblick an diesem späten Mittwochabend. Auf Einladung des Elb.lit-Festivals gastierte der 68-Jährige mit dem Schriftsteller Michael Lentz, Autor der Biografie „Grönemeyer“, in Harburg.
Lentz und Grönemeyer kennen sich seit nunmehr 20 Jahren. Der Sänger lud den Schriftsteller 2004 zu sich nach London ein, da Lentz in seinem Debütroman „Liebeserklärung“ wiederholt Verszeilen aus dem Grönemeyer-Song „Mensch“ nutzte. Die beiden wurden Freunde, so entstand die Idee zu der Biografie, die in Wahrheit eine Werkschau ist. Auf 385 Seiten analysiert Lentz die Lieder des in Bochum aufgewachsenen Künstlers bis ins letzte Detail. Das Buch ist zuweilen selbst für Grönemeyer-Ultras harte Kost, wenn Lentz seitenlang über „diatonische Doppelsubdominanten“ und „performative Harmonisierungen“ doziert.
Herbert Grönemeyer: Am Flügel zeigt er, wie seine Songs entstehen
Andererseits erschließen sich dank Lentz manche Texte des Songpoeten neu. Etwa bei der Verszeile „Dein sicherer Gang, Deine wahren Gedichte“ aus „Der Weg“, Grönemeyers so berührendes Lied über seine erste Frau Anna, die 1998 im Alter von 45 Jahren an Krebs starb. Anna habe stets den Finger auf die Stellen in seinen Texten gelegt, bei denen er sich nach ihrer Meinung verloren habe, anstatt am Thema zu arbeiten – daher also die Formulierung „Deine wahren Gedichte“.
Zum Höhepunkt der Werkschau an diesem Abend in Harburg setzt sich Grönemeyer dann doch an den Flügel, spielt ein paar Harmonien, knödelt dazu Fantasielaute. Genau so, sagt er, entstehen die Lieder. Zuerst sei immer die Musik, den Text schreibe er viel später. Und der dürfe vor allem „die Musik nicht kaputtmachen“.
Grönemeyer: Mit 19 Jahren gastierte er im Hamburger Operettenhaus
Als Profi weiß Grönemeyer natürlich, dass er nicht zwei Stunden mit seinem Biografen über Textgenese sinnieren darf. Also öffnet er das Nähkästchen, berichtet etwa über seine Zeit am Schauspielhaus unter Peter Zadek. Dort habe er bei einem Stück im Wechsel mit bekannten Liedermachern wie Hannes Wader und Konstantin Wecker in den Pausen spielen dürfen. „Als ich angekündigt wurde und der Flügel reingeschoben wurde, verließen bis auf zwei Zuschauerinnen, die nicht so gut gehen konnten, den Saal. Die beiden alten Damen haben dann zu mir gesagt: ‚Spielen Sie ruhig weiter, junger Mann. Wir zahlen hier unten Ihr Essen.‘“
Ein paar Jahre zuvor gastierte Grönemeyer erstmals in Hamburg bei einem Musical im Operettenhaus. „Ich war damals 19, schrieb an dem Tag meine Mathe-Abi-Klausur in Bochum und fuhr dann mit meinem alten VW Käfer 1300 nach Hamburg.“ Sein Hotel lag direkt gegenüber: „Ein Zimmer als ganz schmaler Schlauch. Und an der Sperrholztür hingen drei Kleiderbügel. Irgendwie war das komisch, und dann habe ich mir von meiner ganzen Gage eine Wohnung am Klosterstern gemietet.“
Herbert Grönemeyer: „4630 Bochum“ war der Durchbruch als Popsänger
Grönemeyer, das wird an diesem Abend deutlich, zählt zu denen, die sich den Weg nach oben gegen Widerstände bahnen mussten. Die ersten Platten floppten, für ein Album gab es die „Goldene Zitrone“ für das hässlichste Cover des Jahres. Konzerte wurden abgesagt, da keine Karten verkauft wurden. Grönemeyer blieb sich dennoch treu, auch in der Chefetage der EMI in Köln, als er 1984 mit seinem Produzenten die Platte „4630 Bochum“ vorstellte. Die Bosse sahen das Werk höchst skeptisch, mahnten, der Text in „Flugzeuge im Bauch“ sei doch kaum zu verstehen, und baten, das Lied neu abzumischen. Statt ins Studio setzte sich Grönemeyer vier Stunden in die Kantine. „Wir haben exakt die gleiche Version wieder abgespielt. Und dann sagten die Chefs: ‚Ist doch viel besser so.‘“
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Recht hatten sie. „4630 Bochum“ wurde das erfolgreichste Album des Jahres. Und der Durchbruch für den Volkssänger Herbert Grönemeyer.
Michael Lentz: „Grönemeyer“, Fischer-Verlag, 28 Euro