Salzburg. Die Salzburger Festspiele zeigen eine „Neueinstudierung“ der Mozart-Oper. Das Publikum feiert den Dirigenten. Die Regie erntet saftige Buhs.
Kein einziges störendes Buh im Großen Festspielhaus, kein Zweifeln, keine eingetrübte Freude im Publikum über das Wiedersehen und -hören, nirgends. In anderen Regionen der Klassik-Welt wird der Dirigent Teodor Currentzis wegen des anhaltenden Schweigens zu Putin, dessen Regime und seinem Überfall der Ukraine scharf unter die Lupe genommen oder, in letzter Konsequenz: ausgeladen. Bei den Salzburger Festspielen ist und bleibt er auch 2024 strahlender Applausmagnet. Hier ist er der Star im Sortiment, hier darf er’s sein, ohne Aber oder Abstriche.
Nachdem Currentzis das „Ouverture spirituelle“-Vorspiel mit einer offenbar beeindruckend ernst durchdachten Matthäuspassion eröffnet hatte, bekam er nun, als erste szenische Aufführung nach Strauss‘ konzertantem „Capriccio“ mit Christian Thielemann, eine zweite Gelegenheit, sich bei Mozarts „Don Giovanni“ erneut als Opern-Magier mit einem Faible für Extremes und Scharfkantiges zu präsentieren.
„Don Giovanni“: Teodor Currentzis lässt in Salzburg die Puppen tanzen
„Neueinstudierung“ nannten die Festspiele dieses Update nach drei Jahren, der als Bilderbademeister bekannte Regisseur Romeo Castellucci hat dafür ein weiteres Mal in seine prall gefüllte Bühnentrick-Schublade gegriffen, nur eben in andere Ecken. Das Breitwand-Konzept an sich, mit der leer geräumten barocken Kirche, Giovanni (Davide Luciano) und sein Handlanger Leporello (Kyle Ketelsen) optisch wie stimmlich zum Verwechseln ähnlich, vielen sanft vernebelnden Schleiern und tollem Licht, noblem Perlweiß und dem großen weiblichen Bewegungs-Ballett als stumm anklagender Kommentar zu Giovannis sexistischem Frauenverschleiß, das ist noch der aparte Kern.
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Dessen Verpackung hat Castellucci nicht von Grund auf neu erfunden, warum auch – aber wirkungsgeschärft, reduziert und in den besonders sensationistischen Momenten entspektakelt. Also: Die Luxuslimousine, die im Premieren-Sommer als teuerste Requisite dieser Inszenierung vom Bühnenhimmel in die Szene krachte und damit dekorativ geschrottet wurde, schwebt jetzt nur noch behutsam an Seilen hinab und hinauf.
Man weiß nicht, was vieles bedeuten soll
Ein Flügel allerdings wird nach wie vor ungebremst zu Klavier-Kleinholz gemacht; vor allem wohl, weil das hier nun mal ein echter Castellucci ist und er es kann, ohne dass jemand panisch dazwischenruft, was das alles wieder kostet. Die Stroboskop-Lichter vor einer Feier-Szene – gestrichen, ebenso das eine oder andere hübsch sinnfreie, enorm ästhetisch angereichte Requisiten-Rätsel, das jetzt durch das eine oder andere Schauwert-Rätsel ersetzt wurde. Nach der Meta-Ebene ist hier immer schon wieder unmittelbar vor der nächsten Meta-Ebene.
Ottavio schlitzt also nach wie vor einige der Basketbälle auf, die von oben gekommen waren, ein Dürer-Hase kommt ins Bild und verschwindet wieder; an Giovannis Bein ist einmal ein Skelett gekettet, als Indiz seiner Ermordung des Komturs, super Idee, wirklich.
Aber sind die beiden kleinen Racker, die in einer Szene unterhaltsandrohend zu Don Giovanni rennen, schon neu oder nur bereits vergessen gewesen? Der teuflische schwarze Schatten, mit dem Giovanni einmal ringt, den gab es 2021 doch noch nicht, oder? Und, Madonna, was ist mit den drei Heizkörpern neben dem armen Ottavio, der erneut von einem abstrus überdrehten Kostüm ins nächste gesteckt wird, und dem Schädel, der als Vanitas-Symbol auf einer der Heizungen platziert wird? Wenn alles, ob entziffert oder nicht, womöglich enorm viel bedeuten kann, bedeutet vielleicht alles am Ende so richtig nichts mehr.
Currentzis’ Mozart-Maxime: Dezenz wäre Schwächeln
Anstelle seiner „MusicAeterna“-Ensembles, die in St. Petersburg beheimatet sind, hat Currentzis jetzt seine jüngeren „Utopia“-Neugründungen vor sich. Wie groß das personelle Ausmaß dieser Umetikettierung tatsächlich ist, bleibt auch hier unklar. Klar ist dagegen Currentzis‘ Maxime für den Umgang mit Mozart: Dezenz wäre Schwächeln. Immer wieder passierte es deswegen, dass die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne von den schnittigen Tempi aus dem Graben gehetzt wirkten.
Doch die Knackigkeit, mit der Currentzis schon die Ouvertüre zum Kurz-Thriller machte, die macht ihm so schnell oder besser: so konsequent dramatisch aufgeladen keiner nach. Der virtuose Einfallsreichtum, mit der die Hammerklavier-Begleitung der Rezitative ausgeführt und verfeinert wurde – auch das war vom Besten.
Andererseits aber gönnte er in den innigen Momenten, in denen Mozart seinem Personal tief in ihre Herzen und Seelen sah, der Musik so ziemlich alle Zeit der Welt, um zu verführen, zu entlarven und zu erklären, was gerade wirklich wichtig ist. Mit Rücknahmen ins Pianissimo und raffinierten Ausschmückungen der Melodielinien zwang dieser Trick zum ganz genauen Hinhören und Mitfühlen.
Die Erstbesetzung dieser Produktion war an wichtigen Positionen gleich geblieben: Natasha Pavlova, die im Januar als Zerbinetta in Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“ an die Hamburger Staatsoper zurückkehren wird, war wieder eine hinreißende Donna Anna; Julian Prégardien – Currentzis‘ Evangelist in der Matthäuspassion – rang als neuer Ottavio hin und wieder mit den Mühen der Details, Anna El-Khashem machte aus „neue“ Zerlina ein nicht ganz kleines Ereignis. Davide Luciano, wieder mit vollem Körpereinsatz in der Titelpartie unterwegs, lustmolchte sich ein weiteres Mal solide und ohne stimmliches Durchhängen auf sein Ableben hin. Zuerst sang der Komtur aus dem Jenseits heraus aus Giovanni heraus, bevor er, in weißer Farbe auf dem Boden wälzend, mit dem Weiß des Bühnenbilds verschmolz.
Einige saftige Buhs für die Regie, enormer Beifall für alle und alles andere. Diese Salzburger Rechnung ist also aufgegangen.