Hamburg. Die Schriftstellerin erzählt in ihrem Roman „Such A Fun Age“ nah an der Realität – mit den Zügen einer Satire.

Kennen Sie den Mode-Begriff „woke“? Bestimmt. Gemeint ist: besonders sensibel zu sein für soziale oder geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten oder für Formen des Rassismus. Man ist ja schon länger allgemein auf mitmenschliche Wachsamkeit und ihre Bezeichnungen getrimmt. Kritiker der allgegenwärtigen Identitätspolitik sagen übrigens gerne: zu sehr.

Da haben sie nicht immer unrecht, weshalb man das Wort oder die Zuschreibung „woke“ ja auch gerne selbstironisch im Munde führen kann. Über den gesellschaftsspaltenden Aspekt nicht von zu wenig, sondern von zu viel Ungerechtigkeitsempfinden ist zuletzt viel gesprochen worden. Jetzt gibt es den Roman zur Debatte. Er stammt von der afroamerikanischen Autorin Kiley Reid und trägt auch im Deutschen den vielsagenden Titel „Such a Fun Age“.

Rassismus, der sich im alltäglichen Leben abspielt

Er handelt vom brennendsten (und wahrscheinlich am meisten gerechtfertigten) Thema der mit dem Schutz von Minderheiten Befassten. Das ist der Rassismus, der sich im alltäglichen Leben abspielt. In Amerika, wo dieser für den Booker Prize nominierte Bestseller angesiedelt ist, sind es unter der Großgruppe der People of Colour besonders Schwarze Menschen (das groß geschriebene „Schwarz“ statt „schwarz“ ist die Selbstbezeichnung), die benachteiligt werden.

Wenn Weiße sich nun bemühen, dies gerade nicht zu tun, sind sie „woke“. Oder einfach besonders bemüht wie die Romanheldin Alix Chamberlain, eine Influencerin und Karriereberaterin, die weitläufig an die Präsidentschaftskampagne Hillary Clintons – der Roman spielt also kurz vor der Trump-Zeit – angedockt ist und in den sozialen Medien hartnäckig den Eindruck zu erwecken sucht, sie lebe in New York City.

Absurd anmutender Zweikampf um ihr Seelenheil

Das tut sie nicht mehr; sie lebt mit ihrem Mann, einem TV-Ansager, in Philadelphia. Aber, hey, der Schein ist alles. Im guten und im schlechten. Was nicht gut aussieht, sind Vorurteile. Und da platzt bei Chamberlains an einem Tag die Bombe. Erst äußert sich Alix’ Ehemann live im Fernsehen unglücklich, also vermeintlich rassistisch, dann wird die Babysitterin der Familie als indirekte Folge des Missgeschicks im Einkaufszentrum von einem Sicherheitsmann gestellt.

„Bei allem Respekt, sie sehen nicht aus wie eine Babysitterin“, sagt der weiße Aufseher zur farbigen Emira Tucker, die 25 ist, College-Absolventin und verpeilt, was ihre Zukunft angeht. Emira ist arm, hat schon bald keine Krankenversicherung mehr – und befindet sich nach dem Zwischenfall in der Mall des Grauens im Mittelpunkt eines absurd anmutenden Zweikampfs um ihr Seelenheil.

Der Roman erzählt von Rasse und Klasse

Beziehungsweise gibt sie die Projektionsfläche für zwei Antipoden ab, die ihr eigenes Seelenheil suchen. Das ist der Stoff, aus dem dieser Roman ist: Narzissmus, Moral, der Traum von einer besseren Gesellschaft, Ressentiments.

Emira Tucker sieht an dem späten Abend, auf dem sie zuerst auf einer Party war, also nicht eben züchtig angezogen ist, und dann mit Briar, Alix’ kleiner Tochter, in der Öffentlichkeit unterwegs ist, tatsächlich nicht unbedingt wie eine Babysitterin aus. Wäre sie weiß, hätte sie aber
niemand zur Rede gestellt. Zeuge des Vorgangs, der in der Gegenwart absolut Shitstorm-fähig ist, wird ein weißer Mann namens Kelley
Copeland, der den Zusammenstoß filmt.

Das Buch ist gewitzt und zugleich ernsthaft

Emira, Alix und Kelley geben in der Folge dieses rasant und mit Vorliebe für die szenische Darstellung geschriebenen Romans ein fatales Trio ab. Sie sind Platzhalter für die mentalitätsmäßig und auch politisch unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen in Amerika. Das weiße Bemühen, mit Minderheiten alles richtig zu machen, erscheint natürlich manisch; da kann man nur ein wenig verwirrt, teilnahmslos und genervt im Mittelpunkt des Geschehens stehen wie Emira.

Außergewöhnlich ist dabei, dass es der 1984 geborenen Autorin Kiley Reid dabei gelingt, noch nicht einmal Emira durchweg sympathisch aussehen zu lassen (meistens ist sie es aber doch) – und dennoch fesselnd zu erzählen. Von Rasse und Klasse, Privilegien und Deklassierungen, von emotionalen Verrenkungen, ambitionierten Wahlverwandtschaften und der bizarren Übertreibung, die dem schlechten Gewissen innewohnt.

 Intelligent aufgebauter Roman

Alix verliebt sich geradezu in ihre im Übrigen lediglich acht Jahre jüngere Emira; zumindest nehmen ihr Interesse, sie will ja vor allem auch etwas wiedergutmachen nach dem rassistischen Erlebnis, und die Anteilnahme an Emiras grundsätzlichem Wohlergehen mit einem Mal einen absurden Raum in ihrem Alltag ein. Kelley wiederum hat immer schon ein Faible für die afroamerikanische Kultur, einen Fetisch, wie Alix ihm vorwirft.

Kiley Reid: „Such A Fun Age“, aus dem Amerikanischen übersetzt von Corinna Vierkant, Ullstein, 352 Seiten, 22 Euro
Kiley Reid: „Such A Fun Age“, aus dem Amerikanischen übersetzt von Corinna Vierkant, Ullstein, 352 Seiten, 22 Euro © ullstein | ullstein

Plot-Twist des intelligent aufgebauten Romans ist ein gemeinsames Thanksgiving-Essen, bei dem sich Alix und Kelley nach 20 Jahren wiedersehen. In der Highschool waren sie ein Paar. Er brach ihr Herz, sie vergaß dies nie. Und was war Alix, deren stinkreiche Eltern eine farbige Haushälterin beschäftigten, in Kelleys Augen? Eine unbewusst rassistische Ausbeuterin.

Es wird mit harten Bandagen gekämpft, und vieles wirkt dabei überhaupt nicht wie eine Übersteigerung der tatsächlichen Zustände. Dennoch trägt der Roman deutlich die Züge einer Satire. Er ist gewitzt und doch ernsthaft, smart in seinem Blick auf das Amerika von heute – und dabei vor allem auch wahnsinnig unterhaltsam.