Hamburg. Welche Titel aus den vergangenen Jahren reichen in ihrer Wirkkraft über den Tag hinaus? Wir haben 25 Werke ausgewählt.

Mit einem Knall endete im Jahr 2001 das Jahrzehnt des unendlichen Spaßes. Eigentlich waren es vier Knalle: Das Pentagon, die Türme des World Trade Centers und eine verlassene Kohlengrube in Shanksville/Pennsylvania – vier von Osama bin Ladens Terroristen entführte Flugzeuge griffen Amerika und die westliche Welt an. Anderthalb Jahrzehnte später das Massaker in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“: Diesmal ist nicht Amerika, sondern Mitteleuropa das Ziel von religiösen Fanatikern.

Das 21. Jahrhundert, jener unruhige Beginn des dritten Jahrtausends, sieht den „Kampf der Kulturen“, wie er von Samuel Huntington in den 90er-Jahren vorhergesehen wurde. Die Marktwirtschaft hat längst gewonnen, der Sozialismus ist nur mehr eine ferne Erinnerung. Und in Zeiten von Globalisierung gilt das auch für die Grenzen: Es gibt eine neue Völkerwanderung, und die Migranten, die nicht in den Nationen leben, in denen sie geboren wurden, gehören in diese Epoche der Mobilität. Das ist die Lage der Welt.

Großer Wenderoman „Der Turm“

Die Lage des Landes: Die Wiedervereinigung ist historisch geworden. Man feiert ihre Geburtstage rituell. Und erinnert sich der DDR, einer untergegangenen Welt. So wie Uwe Tellkamp in seinem großen Wenderoman „Der Turm“, der 2008 erschien und damit genau in dem Zeitraum, um den es hier geht – literarisch. In den Jahren, in denen die Welt wieder einmal eine andere wurde, wurden Bücher geschrieben, die jener Welt eine Gestalt geben, die sie spiegeln, sie infrage stellen, beschreiben und herausfordern. „Der Literatur-Kanon des 21. Jahrhunderts“ also; die 25 Bücher, die man gelesen haben muss.

Und charakteristisch für diese Liste, die wir anlässlich der bevorstehenden Frankfurter Buchmesse drucken, ist der Blick zurück. Tellkamp und Clemens Meyer („Als wir träumten“) porträtieren die letzten Tage der DDR und die ersten des wiedervereinigten Landes, als im Osten die neue Freiheit auch die Freiheit dafür war, zu versacken.

Zivilisatorische Katastrophen

Die gewaltigen zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Zweite Weltkrieg, die Schoah, die Arbeitslager, werden auch im neuen Jahrhundert noch verhandelt: in Herta Müllers „Atemschaukel“ etwa, in W. G. Sebalds „Austerlitz“ oder in William T. Vollmanns „Europe Central“. Auch der ungarische Autor Péter Nádas („Parallelgeschichten“) und die deutsche Autorin Nino Haratischwili („Das achte Leben“) widmen sich in formal überbordenden Romanen den Geschehnissen, die lange zurückliegen, aber für die Welt, in der wir leben, von zentraler Bedeutung sind.

Und das Heute? Voilà: Die Islam-Debatte bei Michel Houellebecq („Unterwerfung“), 9/11 bei Jonathan Safran Foer („Extrem laut und unglaublich nah“), die volldigitalisierte Lebenswirklichkeit bei Dave Eggers („Der Circle“).

Moderne Klassiker

In den Kanon der Literatur des 21. Jahrhunderts gehören nicht ausschließlich thematisch maßgebliche Titel, jedoch auch keineswegs aus­schließlich ästhetisch hochtourige. Wie bei jedem Kanon kann (und soll) man sich über die Auswahl auch streiten. Wenn ein Kanon die Zusammenstellung von Werken ist, deren Qualität und Bedeutung diese Werke herausheben, dann zielt ein Kanon immer auf die Zeit­losigkeit, die den Augenblick und die ­Saison überdauernde Wirkung eines Buchs.

Diese modernen Klassiker sind hier versammelt. Die Bestenschau des nun auch schon 17 Jahre alten Jahrhunderts (Jahrtausends!) versammelt das, was wir in den vergangenen Jahren gelesen haben. Oder in den nächsten Jahren noch lesen sollten. Die Auswahl zeigt die Themen der Gegenwartsliteratur, neben den bereits genannten sind das immer wieder Bi-Kulturalität, Einwanderung und Mischexistenzen – so bei Zadie Smith („Zähne zeigen“), Junot Díaz („Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“) und Gary Shteyngart („Kleiner Versager“).

Haratischwili und Herrndorf

Das imposanteste literarische Werk der Gegenwart ist Karl Ove Knausgårds („Sterben“) autobiografischer Zyklus „Min kamp“. Eine Reihe, die den Norweger weltberühmt gemacht hat; ein Riesentext, der die Jetztzeit und den westlichen Autor, der sich in ihr bewegt, tatsächlich so genau umfasst wie Marcel Proust sein Zeitalter in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Knausgård wird wegen der Einzigartigkeit seines literarischen Programms der einzige der hier aufgeführten Autorinnen und Autoren sein, der mit Sicherheit in 100 Jahren noch genannt wird – sollten solche Aussagen denn überhaupt statthaft sein.

Mit Elena Ferrante („Meine geniale Freundin“) ist neben Knausgård die zweite Urheberin eines mehrbändigen Werks vertreten. Im Zeitalter des seriellen Filmkunstwerks mögen es die Leser auch in der Literatur mehrteilig. Hamburg? Ist zweimal vertreten. Nino Haratischwili, gebürtig aus Tiflis, seit Langem in Hamburg lebend, hat mit „Das achte Leben“ eine Georgien-Saga geschrieben, die unter deutschen Lesern eine Fangemeinde gefunden hat. Sie ist jedoch längst nicht so groß wie die von „Tschick“, diesem literarischen Kleinod, dieser Hymne auf die Freundschaft: Wolfgang Herrndorfs Hit, der den zu früh gestorbenen Autor zumindest in der Literatur unsterblich gemacht hat.

Die Einschläge in diesem bisher so bewegten Jahrhundert mögen brutal gewesen sein, die Literatur ist oft aber auch ganz leicht, sie trägt einen davon wie eine Feder im Wind.

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W. G. Sebald: „Austerlitz“ (2001)

Hätte W. G. Sebald (1944–2001) länger gelebt, er wäre ein natürlicher Kandidat für den Literaturnobelpreis geworden. Im englischsprachigen Ausland gilt er als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Nachkriegsautoren. In seinem schmalen Werk widmete sich der große Stilist, der mit altmodisch langen, schwingenden Sätzen die Schönheit der Sprache zum Klingen bringt, den Themen Entwurzelung und Erinnerung. In „Austerlitz“, einem von Melancholie durchzogenen Roman mit vielen nicht fiktiven Anteilen, berichtet der Erzähler von Schicksal und Identitätssuche des Jacques Austerlitz, der einst mit einem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach Großbritannien kam. Das Buch ist eine Prosa-Collage und, indem es von verdrängten Erinnerungen handelt, selbst eine Erinnerung: an die Zerrissenheit Europas und der Menschen, die dort lebten.

Dave Eggers: „Der Circle“ (2013)

Eine Gesellschaft des totalen Teilens, der absoluten Transparenz: Jeder soll alles von sich preisgeben, jeder hat die Berechtigung zu jeder Information – und alle sind miteinander verbunden im Riesennetzwerk. Das heißt wie dieser funkelnd böse, aber halt nur stellenweise satirische Roman „The Circle“ und machte den eminent produktiven USAmerikaner Dave Eggers im Jahr 2013 berühmt. Als das Werk ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde, kannte es ein Teil der Lesegemeinde längst: Zu offensichtlich war Eggers’ literarisch holzschnittartige (im Grunde ist es schlechte Literatur) Dystopie ein Kommentar, der die Wirklichkeit bis zur berühmten Kenntlichkeit entstellte. Mögen die Zustände in „The Circle“ auch überzeichnet sein, der Roman wirft doch die recht nützliche Frage auf, mit welchem Grad von Freiheit wir demnächst denn leben wollen.

Haruki Murakami: „1Q84“ (2009)

Gab es in der Literatur der vergangenen knapp zwei Jahrzehnte eine fesselndere Liebesgeschichte als die zwischen Aomame und Tengo, der Killerin und dem Schriftsteller in Haruki Murakamis in Deutschland in zwei Bänden erschienenem Roman „1Q84“? In einem eigenwillig an Orwell angelehnten Plot wird hier im typisch suggestiven Murakami-Stil von der Literatur selbst, von der Liebe und vom Glauben erzählt und wer im Kampf der Mächte die Oberhand behält. Aomame soll einen Sektenführer umbringen, Tengo das Buch von dessen Tochter literarisch aufpimpen, und über allen Vorgängen liegt die dunkle Aura der Bedrohung. „1Q84“ ist der Höhepunkt von Murakamis Schaffen: ein hypnotisch-surreales Erzählwerk, das verstörend ist in seiner Wirkung und rätselhaft in seiner Bedeutung. Literatur ist der Raum, in dem nichts eindeutig sein muss, aber alles möglich.

Zadie Smith: „Zähne zeigen“ (2000)

Wie steht es um das Vereinigte Königreich? „Rule Britannia!“ galt zumindest um die Jahrtausendwende in der Literatur, als die damals erst 25-jährige Zadie Smith ihr Debüt „White Teeth“ vorlegte. Ein 600 Seiten starker Roman wie ein langer, nie enden wollender Witz: Selten wurde der Multikulturalismus im reichen Teil der Welt so unterhaltsam zu großer Literatur veredelt. Wer, fragt eine der Figuren hier, „kann den Westen wieder aus sich rausholen, wenn er erst mal in einem drin ist?“. Hautfarbe, Religion, Englishness und (männliche) Identität – das sind die Themen in dem rasanten, vor spritzigen Dialogen berstenden Buch. Im Zentrum stehen die unwahrscheinlichen Buddies Archie Jones und Samad Iqbal, die im Zweiten Weltkrieg ihre lebenslange Freundschaft besiegeln – zwei kuriose Archetypen, deren Leben in viel größere Zusammenhänge gehören.

Herta Müller: „Atemschaukel“ (2009)

Das an Schrecken nicht arme 20. Jahrhundert ist Gegenstand der Literatur auch des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Erfahrungskontinuum, das über Generation weitergegeben wird. In „ Atemschaukel“ beschreibt die 1953 im Banat geborene Rumäniendeutsche Herta Müller die Deportation der Siebenbürger Sachsen durch die Rote Armee nach 1945. Stalin ließ auch seine menschliche Kriegsbeute in den Arbeitslagern schuften. Die Geschichte des 17-jährigen Leopold Auberg ist die von Oskar Pastior (1927–2006), dem rumäniendeutschen Lyriker, der Müller bei den Vorarbeiten zu „Atemschaukel“ half. Der Roman ist ein sorgsam durchgearbeiteter Bericht aus dem Arbeitslager mit seinen lebensgefährlichen Bedingungen. Im Jahr seines Erscheinens erhielt Müller den Literaturnobelpreis. Er zeichnete eine Schriftstellerin aus, die Wörter

Junot Díaz: „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ (2007)

Nur ein Held dieses Wunderwerks des immer hochgestimmten und dramatisch- fatalistischen Erzählens – man nennt dieses Erzählen auch den „magischen Realismus“ – ist der im Titel bereits genannte Oscar Wao. Es geht in dem bislang einzigen Roman des Amerikaners Junot Díaz auch um die Familie dieser hinreißenden Loser-Gestalt, jene Familie, die aus der Dominikanischen Republik stammt und nun in New Jersey lebt. Der Roman ist ein glänzendes Stück Immigrantenliteratur, das aus der Erzählgegenwart ausführliche Ausflüge in die blutgetränkte Vergangenheit des Karibikstaats unternimmt. In den Trujillo- Jahren wurde die Familie von Oscars Großvater durch die Gewaltherrschaft des Diktators beinah ausgelöscht. Nur seine Mutter Beli Cabral überlebte. In einem Generationen umspannenden und von spanischen Vokabeln durchsetzten Werk vermisst Díaz die Distanz zwischen freier Welt und Diktatur – und erzählt außerdem die tragikomische Geschichte eines ewigen Verlierers.

Karl Ove Knausgård: „Sterben“ (2009, Band eins des autobiografischen Projekts)

Wenn man es denn machen möchte, das Gedankenspiel, ob man auf 24 Titel dieser Liste verzichten würde für den einen, dann wäre der eine: Karl Ove Knausgårds „Sterben“. Und wenn der Zeitgeist verlangt, dass man sich auszieht, dass man sich nackt zeigt vor der Welt, dann hat Knausgård die Offenherzigkeit der sozialen Netzwerke in die Literatur transportiert. Sein Leiden am autoritären Vater, sein Ringen um die Existenz des Künstlers, sein Alltag als Familienvater: Mit Blick auf jede Nuance des männlichen Mittelklasselebens im 20. und 21. Jahrhundert ist die „Min kamp“ -Reihe („Mein Kampf“) ein singuläres Zeugnis der Literatur-Gegenwart. Kindheit, Jugend, Erwachsensein. Knausgård erzählt in einem gewaltigen Erzählstrom all das nach, was ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. Mit der totalen Selbstentblößung über sechs Bände hinweg schrieb sich Knausgård in die Weltliteratur. Alles war genau so und doch ganz anders, denn das absolute Gedächtnis hat niemand.

Clemens Meyer: „Als wir träumten“ (2006)

Doch, es gibt die spezifisch ostdeutschen Verbindungsstücke, die Clemens Meyer in seinem Debütroman „Als wir träumten“ zusammenfügt. Die Melancholie, die über dem Leipziger Arbeiterstadtteil Reudnitz der Nachwendezeit liegt, reicht tiefer hinab als nur bis auf den Grund des letzten Bierglases in der Kaschemme um die Ecke. Wer Anhänger von Chemie Leipzig ist, der hat dank gelenkter Fußball-Meisterschaften noch mal eine ganz andere Vorstellung von Vergeblichkeit als der gemeine Fan. „Als wir träumten“ zeigt anhand einer Freundesclique, Asphaltcowboys allesamt, die Verlorenheit einer Unterschichtenjugend, die den großen Bruch von 89/90 mitgemacht hat, daraus aber kein Kapital schlägt. Punks, Nazis, Schlägereien, Autoknackereien, Techno; und am Ende bleiben sie, wenn sie überleben, alle irgendwo hängen. Bei den Drogen, im Knast. Ein sächsisches Trauerspiel, wild und ungezügelt.

Alan Hollinghurst: „Die Schönheitslinie“ (2004)

Ein Thema, das immer ergiebig ist für die Literatur: Doppelmoral. Ein Tory- Abgeordneter, der seine eigene silberne Hochzeit mit Stargast Margaret Thatcher feiert, aber seine Sekretärin vögelt – das ist der Normalzustand in Alan Hollinghursts großem Großbritannien- Panorama „Die Schönheitslinie“. Hollinghurst beschreibt beides: die kalte neoliberale Thatcher-Gesellschaft und die schwülstig-lebenshungrige Welt der Schwulen. Held dieses in blendender Prosa geschriebenen Romans ist Nick Guest, ein homosexueller Twentysomething mit Hedonismus-Auftrag. Letzteres gilt für alle Figuren in diesem Buch, das, wie jeder gute Gesellschaftsroman, soziologische Studie und Unterhaltungsstück in einem ist. Die ewige 80er-Jahre-Party unter den Vorzeichen der Aids-Angst – „Die Schönheitslinie“ ist die Reise in ein Zeitalter, in dem die Heimlichkeit des Begehrens noch auf der Tagesordnung stand.

William T. Vollmann: „Europe Central“ (2005)

Dem Zweiten Weltkrieg ist, wenn überhaupt, lediglich mit einem Roman in Übergröße beizukommen. William T. Vollmanns „Europe Central“ misst mehr als 1000 Seiten und ist ein hochartifizielles literarisches Kunstwerk, das durch den Morast eines Jahrhunderts watet. Die Handlung gipfelt in Stalingrad, aber sie schlägt auch auf vielen anderen Schauplätzen über dem Leser zusammen: In dem üppigen Figurenensemble Vollmanns finden sich reale Personen wie Käthe Kollwitz und Dmitri Schostakowitsch und Soldaten wie General Wlassow und Friedrich Paulus. Indem er ihre Lebensgeschichten beleuchtet und der Gestaltkraft der Literatur überantwortet, erzählt der amerikanische Autor einmal mehr vom deutschen Verhängnis und dem sowjetischen und wie beide miteinander verwoben waren. Ein Roman wie ein Bergmassiv, das man erklimmen muss, um sodann klare Sicht zu haben.

Péter Nádas: „Parallel-Geschichten“ (2005)

Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“ ist das Geduldsspiel unter den Büchern auf dieser Liste. Und der Champion, was die Länge angeht: 1728 Seiten! Zwar sind die geografischen und zeitlichen Sprünge in diesem von Ungarn nach Deutschland reichenden und zwischen der Vorkriegszeit und dem Fall der Mauer spielenden Roman gewaltig, aber Szenen gibt es eigentlich gar nicht viele. Anhand der deutschen Familie Döhring und der ungarischen Lehrs erzählt Nádas, wie ein mörderisches Jahrhundert Menschen und Familien im Innersten deformierte – manchmal rühren die Traumata der Menschen in diesem Roman aber auch nicht vom Politischen her. Dem ungarischen Schriftsteller wurde Pornografie vorgeworfen, dabei will er in sprachlich weit ausschweifenden Szenen, die wie in Zeitlupe daherkommen, lediglich zeigen, wie Sexualität in totalitären Systemen einen persönlichen Freiraum schaffen konnte.

Nino Haratischwili: „Das achte Leben“ (2014)

Einfach noch mal so hemmungslos erzählen, als sei man nicht im 21. Jahrhundert, sondern im Zeitalter Dostojewskis und Tolstois: Nino Haratischwili, der aus Georgien stammenden Hamburgerin, gelang mit ihrer Familiensaga „Das achte Leben (Für Brilka)“ die Wiederbelebung des klassischen Pageturner- Realismus. Ihr Osteuropa-Epos umfasst die Brüche, Umwälzungen, Kriege und Revolutionen eines Jahrhunderts. „Das achte Leben“ erzählt von Aufstieg und Fall des Kommunismus, vom Entstehen der Sowjetunion und ihrem Ende, von schwachen Männern und starken Frauen, angefangen bei Stasia, der Tochter des Schokoladenfabrikanten. Das Romangeschehen mündet im Deutschland der Gegenwart, und Haratischwili, die Einwanderin, ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Erzählerinnen der Gegenwart. Sie ist die Repräsentantin der vielen aus Osteuropa stammenden Sprachmigranten.

Jonathan Franzen: „Die Korrekturen“ (2001)

Es war die Opulenz der Charakterzeichnung, die Feinmechanik der Psychologie, die uns bei der Lektüre von Jonathan Franzens „Die Korrekturen“ enthusiasmierte. Es soll Menschen gegeben haben, die durch diesen so monströs souveränen Gesellschaftsroman erst wieder für die Literatur gewonnen werden konnten. Der immer noch beste amerikanische Erzähler der Jetztzeit perfektionierte mit diesem, seinem dritten Werk die Methode, von der Gegenwart Amerikas und des Westens – Top- Themen hier: Demenz, Pillen, Depression, Kapitalismus – ganz nah an den Figuren zu erzählen. „Die Korrekturen“ ist die akkurat getunte Great American Novel, ein Buch über die Lage des Landes. Sie mag heute eine andere sein, aber das macht „Die Korrekturen“, jenes vor allem auch unterhaltsame Buch, keineswegs zum Relikt des Gestern. Erzählkunst kennt kein Alter.

Chimamanda N. Adichie: „Blauer Hibiskus“ (2003)

Ein Afrika-Roman, geschrieben von der 2003 mitten in ihren 20ern befindlichen Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie. Geschildert wird nicht die Armut einer unterprivilegierten Familie, sondern der archaische Terror des Patriarchats in einer wohlhabenden Familie. Vom Klischee-Afrika, das aus Elend und Tristesse besteht, bekommt man schon etwas serviert, auch die Frömmigkeit und die Naturreligion spielen eine Rolle und die instabilen politischen Verhältnisse. Aber vor allem geht es hier, im Falle eines despotischen Vaters, um afrikanische Selbstverleugnung und, im Falle seiner Tochter, um den Abschied von der Kindheit; Kambili erlebt, unter spezifisch afrikanischen Vorzeichen, die erste Liebe und eine Familientragödie. In Kambili, der zunächst Unterdrückten, ist der spätere Feminismus der Autorin Adichie schon angelegt, den Beyoncé später in einem Song zitierte.

Christian Kracht: „1979“ (2001)

Die diffuse, vom Islam ausgehende Bedrohung, der Zusammenstoß von Abendland und Orient, der Clash der Kulturen: All das spürte der Westen wie einen plötzlichen Krampfanfall, als am 11. September 2001 in New York zwei Hochhaustürme in sich zusammenfielen. Nur kurze Zeit später erschien Christian Krachts schmaler Roman „1979“, in dem ein Dandy zunächst Khomeinis Islamischer Revolution beiwohnt und dann buddhistische Erlösung in Tibet sucht. Er lässt zunächst nur Schönheit gelten und Style, empfindet dabei jedoch einen sublimen Selbstekel. Seine innere Ruhe findet der dekadente Abgesandte des Westens erst in einem chinesischen Arbeitslager – dort kann er „endlich seriously abnehmen“. Die sogenannte Popliteratur, der Kracht („Faserland“) einst zugeordnet wurde: Hier vergeht sie im Feuer der Selbstverbrennung. Byebye, Oberfläche.

Wolfgang Herrndorf: „Tschick“ (2010)

Bildungsroman, Coming-of-Age, Jugendbuch? Ganz gleich, unter welcher Rubrik man Wolfgang Herrndorfs Wahnsinnserfolg „Tschick“ laufen lassen will, er ist, zumindest in diesem Jahrtausend, die Essenz des literarischen Bubenbuchs. Die Abenteuer von Maik und Tschick, die einen Lada klauen, um die sagenumwobene Walachei zu finden, besiegeln das Wunderbarste, das es vielleicht gibt: eine Jugendfreundschaft. Als Salinger-Nachfolger hat Herrndorf (1965–2 013) mit „Tschick“ nicht nur einen Lektüre-Nachschub für den Deutschunterricht hingezaubert, sondern auch ein zeitloses Stück, ja, wir sagen es jetzt einfach mal: Wellness-Literatur für die Seele geschaffen. Und zwar für alle, Männer, Frauen, Alte, Junge. Wer zwischen den dickleibigen Panoramen, epischen Weltentwürfen und ästhetischen Hochtourern einfach nur schön lesen will, der liest „ Tschick“.

Michel Houellebecq: „Unterwerfung“ (2015)

Am 7. Januar 2015 erschien Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ . Es war der Tag, an dem islamistische Attentäter unter anderem die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ überfielen, deren aktuelles Titelbild Houellebecq zierte. Einer der raren Momente, in denen sich die Literatur im Auge des Sturms befand, in denen ihr tagesaktuelle Deutungshoheit zukam. „Unterwerfung“ ist der meistdiskutierte Roman der jüngeren Literaturgeschichte, weil man in ihn die ganze hochexplosiv aufgeladene Identitätskrise des Abendlands hineinprojizieren kann. Ein Frankreich, das von einem Muslim regiert wird und in dem Konservative und Linke einer islamischen Gesellschaftsordnung zustimmen, um nicht Rechten und Identitären das Feld zu überlassen? Das Schreckbild für Islam- Paranoiker wird in diesem Buch, das auch Geschlechterfragen stellt, ins Satirebecken getaucht. Die feindliche Übernahme des dekadenten Westens brächte immerhin eines: die Vielweiberei.

Roberto Bolaño: „2666“ (2004)

Ein früherer Roman des heldenhaften und bewunderten chilenischen Autors Roberto Bolaño (1953–2003) heißt „Die wilden Detektive“, aber sein Hauptwerk ist „2666“, ein nach seinem zu frühen Tod im Jahr 2004 erschienener Über- Text. Zusammengefügt aus einem üppiges Konvolut, das der manische Bolaño eigentlich in fünf Büchern veröffentlichen wollte. Dann wurde es ein einziges, ein süchtig machendes – alle Handlungsstränge in „2666“, jenem Roman, der eine wilde und schockbereite Leserschaft voraussetzt, sind nur lose verknüpft. Es geht um alles. Das Tier im Menschen: In einem 350 Seiten umfassenden Teil wird das nackte Grauen referiert, das die mexikanische Stadt Ciudad Juárez seit den 90er-Jahren heimsuchte; in Form Hunderter ermordeter Frauen. Bei Bolaño heißt die Stadt Santa Teresa, und hier gibt es auch: einen wahnsinnigen Professor, eine Germanisten- Clique und den rätselhaften Schriftsteller Archimboldi. Eine finstere Welt, in der nur eines befreit: die Literatur.

Jonathan Safran Foer: „Extrem laut und unglaublich nah“ (2005)

Jonathan Safran Foer galt früh als Wunderkind der Literatur. Der Holocaust- Familien-Roman „Alles ist erleuchtet“ war 2003 ein Smash-Hit. Zwei Jahre später erschien „Extrem laut und unglaublich nah“ und variierte das Thema: Der neunjährige Held Oskar hat einen Großvater, der die Familie verließ – ein Traumatisierter, der im Bombenhagel auf Dresden seine Verlobte verlor. Aber der Weltkrieg ist diesmal nur die Grundierung. In der Erzählgegenwart ploppt die zweite Vater-Sohn-Tragödie auf. Oskars Vater Thomas Schell, der seinen Vater nie kennenlernte, stirbt am 11. September 2001 in den einstürzenden Türmen. Oskars Spurensuche in New York ist bewegend. Weil dieser 9/11-Roman, der dem zentralen Ereignis gewidmet ist, das das neue Jahrtausend definierte wie sonst nichts, den Beweis antritt, dass es so etwas wie Gefühlsüberladenheit eben manchmal doch nicht gibt. Foers Poetik ist eine Poetik des Sentiments und der Anrührung, seine Literatur bittersüß.

Cormac McCarthy: „Die Straße“ (2006)

Ein Vater und sein Sohn, die Welt liegt in Schutt und Asche. Sie sind unterwegs zur Küste und hoffen dort auf Besserung. Auf ihrem Weg begegnen ihnen Zustände, aus denen alles, was die Zivilisation ausmachte, verschwunden ist. Der Vater versucht, seinem Sohn moralische Prinzipien zu vermitteln: Sie sind „die Guten“, die, die „das Feuer bewahren“. Die anderen morden – und sind Kannibalen. Cormac McCarthy, dem amerikanischen Literaturgiganten, glückte mit diesem post-apokalyptischen Thriller sein wichtigstes Werk auf faszinierende Weise. Sein Erzählminimalismus ist beispielgebend und die biblische Schwere der Prosa auf dunkle Weise betörend. Die immerwährende Furcht des Menschen vor seiner Selbstauslöschung, gegossen in ein Kunstwerk, das unter den Klassikern der Gegenwartsliteratur zu den allerzeitlosesten gehört. Sein Schlussakkord ist in Dur. Noch ist nicht alles verloren.

Orhan Pamuk: „Schnee“ (2002)

Wer die Türkei, ein bisschen zumindest, verstehen will, der lese dieses Buch. Es ist das grundsätzlichste und kompletteste des türkischen Nationaldichters Orhan Pamuk, der in „Schnee“, das 2002 im Original erschien, alle Kräfte bündelt und aufeinander loslässt, die auch heute noch die Gesellschaft des zwischen Ost und West oszillierenden Landes bestimmen. Der zuletzt in Frankfurt lebende Schriftsteller Ka (man denke an Kafka) kehrt in seine Heimat zurück, trifft am Vorabend eines Militärputsches in dem randständig gelegenen Provinzkaff Kars ein und dort auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines Landes. Eine Liebesgeschichte überblendet das eminent politische Geschehen mitunter, ist aber nur ein Bestandteil des handlungsprallen Romans, in dem Pamuk es schafft, ein Land und dessen Leute behutsam zu beschreiben. Im Falle der Türkei heißt das: ein zerrissenes Land zu porträtieren.

Uwe Tellkamp: „Der Turm“ (2008)

Das schönste Buch, das nach 1989/90 über die DDR geschrieben wurde, ein Thomas-Mann-Gedächtnis-Realismus und der Wenderoman aus dem Herzen des sozialistischen Bürgertums: Uwe Tellkamps „Der Turm“. Wer will, kann in dem riesigen Figurenensemble reale Entsprechungen finden, der hochartifizielle Breitwand-Schinken ist auch ein Schlüsselroman. Vor allem aber ist er das zarte und doch deftige, das allumfassende Epochenbild der späten Jahre einer Diktatur. Die Hoffmanns und ihre akademische Peergroup aus Dresden- Weißer Hirsch sind das Prisma, durch das sich hier der Sozialismus bricht. Seine Anziehungskräfte lassen in den 80er- Jahren nach. Den Ort, an dem ein Teil des Landes gedanklich und mental früher seine Heimat hatte, hat niemand so meisterhaft und auch ironisch dargelegt wie Tellkamp. Er setzt in „Der Turm“ den DDR-Bildungsbürgern ein Denkmal – im Elfenbeinturm.

Gary Shteyngart: „Kleiner Versager“ (2014)

Das autobiografische Buch des in Leningrad geborenen Amerikaners Gary Shteyngart, der aus seinem ost-westlichen Quantensprung eine verdammt komische Schau auf die eigene, im Übrigen jüdische Sippe macht. Letzteres könnte entscheidend sein für die humoristische Qualität dieses Bericht eines Immigranten, der – Geburtsname: Igor, nicht Gary – einerseits um Assimilation, andererseits um die Achtung der Eltern ringt. Jene bleiben ihren russischen Wurzeln stets verhaftet, was sie aus Sicht des Sohnes automatisch zu skurrilen Figuren macht. „Kleiner Versager“ erzählt eine allgemeingültige Geschichte des kulturellen und sprachlichen Übergangs mit spezieller Prägung – und von der Schriftstellerwerdung des Gary Shteyngart, der zu den besten Autoren seiner Generation gehört und das glänzende amerikanische Äquivalent zu den vielen ins Deutsche eingewanderten Osteuropäern ist.

Elena Ferrante: „Meine geniale Freundin“ (2011)

Die beste Literatur-Legende der jüngeren Vergangenheit ist die Elena-Ferrante- Story. Weltweit wird ihre neapolitanische Saga um die beiden grundverschiedenen Freundinnen Elena und Lina seit einigen Jahren von Millionen von Lesern und Leserinnen verschlungen. Im ersten von vier Bänden, „Meine geniale Freundin“, eröffnet sich eine mögliche Erklärung für den sagenhaften Erfolg. Neben dem klassischen Motiv der Freundschaft, die in Stahlbäder getaucht wird, ist es das archaische und natürlich von einem Paten regierte Armenviertel mit seinen einfachen Regeln und vielfachen Dramen, das für den Leser auf naturgegebene Weise Stoff für Literatur ist. Publicity für die Literatur ist freilich nicht der Stoff an sich, sondern das Geheimnis um seine Urheberin. Elena Ferrante ist ein Pseudonym, mutmaßlich der Übersetzerin Anita Raja, das 2016 mit großem Trara aufgedeckt wurde – und gegen den Willen der Autorin.

Ian McEwan: „Abbitte“ (2001)

Ian McEwans psychologisch brillant ausgearbeiteter Roman über die Nicht- Zurücknehmbarkeit von verhängnisvollen Vorgängen. „Abbitte“ ist wunderbare englische Erzählkunst, die en passant vom Zweiten Weltkrieg erzählt, vor allem aber von der Überspanntheit der Jugend und ihrer Fantasie, die nicht unschuldig ist. Die 13-jährige Briony, die auf dem Landgut ihrer Upperclass-Eltern Zeugin eines unfreiwilligen Geschlechtsakts wird, beschuldigt den Sohn der Hauswirtin der Tat. Die Beschreibung der Hitze und Gedrängtheit an einem Sommertag nimmt den größten Teil dieser Parabel ein, die zugleich eine Meditation über die Voraussetzungen von Schriftstellerei ist. Der dramatischer Stoff wurde im Kino adaptiert, seine Wirkkraft entfaltet er am besten zwischen den Buchdeckeln. Die können die Welt in sich bergen, eine Welt, die auf den Kopf gestellt werden kann durch einen Irrtum, unwiderruflich.